FOTO: PHILIPP MEUSER

»Die endgültige Entscheidung trifft der Algorithmus«

VON JANA KÜHLE

19. December 2022

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Styx ist in der griechischen Mythologie eine Flussgöttin und zugleich ein Grenzfluss zwischen Erde und Jenseits, sie ist die Tochter der Dunkelheit und die Mutter der Stärke. Wie bist du auf diesen Mythos gekommen?

Meine Projekte nehmen immer auch Bezug auf eine Geschichte, dabei arbeite ich besonders gern mit Mythen und verwebe sie mit autobiographischen Gesichtspunkten ­– also von mir gelebte, aber zugleich universelle Erfahrungen wie Verliebtsein oder auch Trauer. Auch das Thema der Metamorphose zieht sich wie ein roter Faden durch mein Werk. Zum einen interessiert mich dabei die Metamorphose der Mythen selbst, sprich wie sich die Geschichten im Laufe der Zeit verändern, und zum anderen beschäftige ich mich mit der Metamorphose innerhalb von Mythen, wenn sich zum Beispiel eine Gottheit in einen Menschen verwandelt. Dann gibt es noch einen dritten Aspekt: In der bildenden Kunst gibt es ja die Metamorphose von Körpern in Medien oder Materialien.

Hast du ein Beispiel?

Wenn sich Fotografien zum Beispiel in eine Skulptur-Installation verwandeln oder auch in der Bildhauerei, wenn ich Materialien verwende, die ihren Zustand während meiner Arbeit verwandeln. Wachs beispielsweise ist zunächst flüssig und geht dann während des Schaffensprozesses in den festen Aggregatzustand über.

Um noch einmal auf den Ursprungsmythos deiner aktuellen Arbeit zurückzukommen: Warum hast du dich gerade für die Styx entschieden?

Letztlich habe ich den Mythos der Styx gewählt, weil das Projekt während der Pandemie entstand. Wir wurden jeden Tag mit zahlreichen Geschichten über den Tod konfrontiert – die Styx symbolisiert ja die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Es gefällt mir außerdem, dass in dem Mythos nur das Leben nach dem Tod thematisiert wird und nicht etwa der Himmel- oder-Hölle-Dualismus. Alles begann mit der Idee, die Fotografien mit dem Verfahren der Blaudrucke entwickeln zu lassen, der sogenannten Cyanotypie. Die Bilder entstehen ja gänzlich ohne Kamera und werden nur durch Sonne und Wasser entwickelt. Das Wasser ist ein ganz wesentlicher Teil des Styx-Mythos‘. Am Ende war irgendwie alles mit diesem Element verknüpft. Die Ausstellung sollte zunächst auch in Australien zu sehen sein, da lag also sehr viel Wasser zwischen mir und dem Ausstellungsort, um nicht zu sagen ein ganzer Ozean. Wegen Covid-19 konnte ich nicht hinreisen. Ich beschäftigte mich also mehr und mehr mit der Idee des Transits und der Transparenz, also des Durchgehens sowie des Durchsehens.

Ein Herzstück deiner Ausstellung ist eine Installation, durch die die Besucherinnen und Besucher tatsächlich hindurchsehen, aber auch hindurchgehen können.

Ja, es handelt sich um ein Labyrinth, das kreisförmig und begehbar ist. Das Material besteht aus Cyanotypien von Röntgenbildern – da haben wir also die Themen des Durchsehens (Röntgenbilder, die durch Strahlen entstehen, die den Körper durchdringen) und des Durchgehens. Es geht mir zwar zum einen auch um die physische Erfahrung beim Durchschreiten meines Werks, aber das Durchgehen hat ja eine doppelsinnige Bedeutung, denn auch durch Erfahrungen muss man hindurchgehen – durch Erfahrungen wie die Pandemie oder auch durch Gefühle. Und dann gibt es noch, wieder bezugnehmend auf den Mythos, das metaphorische Überqueren des Wassers.

Schon der begleitende Text zur Ausstellung klingt so mystisch wie faszinierend. Es ist von einer Göttin die Rede, die in der Dunkelheit des Raumes erscheint, von Betrachtungen über Tod, Licht und Leben. Kannst du ein wenig Licht in die Dunkelheit bringen und versuchen zu erklären, was die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung neben der Labyrinth-Installation erwartet?

Es gibt eine Video-Performance mit meiner Kollegin, der Künstlerin und Autorin Nina Boukhrief, bei der fast nichts passiert. Sie ist mit nichts bekleidet außer mit Kupferflügeln, und sie verkörpert die Göttin Styx.

Gegenüber der Vogue hast du bereits erwähnt, dass du am liebsten mit Menschen zusammenarbeitest, die dir nah sind.

Das hat mit Vertrauen zu tun und darum, dass die Menschen, die ich fotografiere, oft auch das Thema meiner Arbeit sind. Meine erste Installation handelte von meinem Partner, in meinem Werk „Maman“ beschäftige ich mich mit meiner Mutter. Es geht immer auch um Intimität zwischen Menschen und natürlich habe ich mich auch mit den vergangenen und heutigen Machtdynamiken zwischen Model und Fotograf auseinandergesetzt. Ein vertrauensvolles Verhältnis ist mir bei meiner stark autobiographisch geprägten Arbeit sehr wichtig.

Auch der Körper scheint ein wesentlicher Bestandteil deiner Kunst zu sein.

Der Körper steht sogar im Mittelpunkt meiner Arbeit. Im Grunde gibt es vier Ebenen: Es gibt zum einen das Bild, das ich fotografiere; dann geht es darum, dem Foto einen Körper zu geben; und schließlich gibt es noch zwei andere Körper, die für mich wichtig sind: mein eigener Körper, das heißt meine teils sehr intensive körperliche Erfahrung beim Schaffensprozess, und um den Körper der Betrachterin oder des Betrachters sowie ihre Reaktionen auf das Kunstwerk.

Du experimentierst gern mit den erweiterten Möglichkeiten der Fotografie. Was fasziniert dich an Themen wie Dreidimensionalität und Stofflichkeit?

Ich habe zunächst Bildhauerei und dann Fotografie studiert und konnte mich nicht wirklich entscheiden. Ein Motivator für meine Arbeit war meine Frustration darüber, dass Fotografie flach und zweidimensional ist. Ich wollte sie in ein physischeres Material überführen. Hinzu kommt, dass ich mit vielen Filmen aufgewachsen bin, daraus entstand später meine Faszination für Filmsets und Installationen. Ich interessiere mich seit jeher sehr für Materialien und ihre Wirkung. Daher rührt wohl auch meine Neigung zum Experimentellen.

Apropos Materialien: Was genau hat es mit den Rohren auf sich, die die Flügel der von deiner Kollegin verkörperten Göttin darstellen?

Es sind Kupferrohre, ganz einfach aus zwei Gründen: Ich wollte, dass die Flügel aus Metall sind und kriegerisch aussehen. Außerdem ist Kupfer mit der Farbe Blau verbunden, was wiederum zum Motiv des Wassers und der Farbe der Cyanotypien passt. Die alten Ägypter haben uns ja die Farbe Blau beschert und sie unter anderem aus Kupfer gewonnen. Das Einfärben mit Ägyptischem Blau sollte auf der Reise ins Jenseits vor dem Auge des Bösen schützen.

Dein Werk wird zusammen mit dem US-amerikanischen Fotografen Paul Mpagi Sepuya gezeigt. Was verbindet eure Arbeit miteinander?

Wir sind einander bisher noch nicht begegnet, bei uns beiden steht aber der Körper im Mittelpunkt unserer Arbeit. Ich schätze sein Werk sehr und bin schon gespannt darauf, es in der Ausstellung zu sehen.

Arbeitest du schon an einer neuen Serie oder an einem neuen Thema?

Ich habe bereits mit der Recherche für eine Arbeit begonnen und lasse mich dabei von der US-amerikanischen Tänzerin und Choreographin Isadora Duncan inspirieren. Sie war Feministin und Wegbereiterin des modernen Ausdruckstanzes und orientierte sich dabei am Schönheitsideal der Antike als Antipode zum klassischen Ballett. Auch hier arbeite ich wieder mit dem Medium der Fotografie und mit besonderen Materialien, diesmal zum ersten Mal nach zehn Jahren wieder mit Keramik. Und wieder werde ich auch in der neuen Arbeit Geschichten neu erzählen und dabei Stereotypen infrage stellen.


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