FOTO: © RAGNAR AXELSSON

Auf dünnem Eis

Der isländische Fotograf Ragnar Axelsson zeigt, wie Mensch und Tier mit den Folgen des Klimawandels leben. Aber auch andere Fotografen haben das Thema für sich entdeckt. Was verbindet sie? VON DAMIAN ZIMMERMANN

23. März 2023

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Kaum ein anderer zeitgenössischer Fotograf hat unser Bild von den nördlichen Polarregionen so sehr geprägt wie Ragnar Axelsson. Der 1958 geborene Isländer reist seit mehr als 40 Jahren durch seine Heimat, besucht aber auch andere entlegene Gebiete Grönlands, Nordskandinaviens und Sibiriens, um Landschaften, Tiere und nicht zuletzt den Alltag der Menschen mit seinen atemberaubenden Schwarzweiß-Bildern zu dokumentieren.

Wir sehen Schlittenhunde und Pferde, die sich gegen die extremen Naturgewalten behaupten, und Menschen, die sich liebevoll um diese Tiere kümmern oder mit ihnen gemeinsam den Schneestürmen trotzen. Zu den Markenzeichen von Axelssons Fotografien gehören extreme Anschnitte und Bildkompositionen, in denen am Rand häufig ein Tier oder Mensch ins Foto ragt – so auch bei seinem Porträt des weißhaarigen und vollbärtigen Guðjón Þorsteinsson auf einem nebeligen, dunklen Strand Islands, das längst zur Ikone der nordischen Fotografie geworden ist.

Ragnar Axelsson, der meist nur Rax genannt wird, schafft es dabei, den Betrachter emotional zu packen ohne dabei dem Kitsch zu verfallen. Damit bewegt er sich metaphorisch wie wortwörtlich auf dünnem Eis: Ursprünglich wollte Axelsson die einmaligen Landschaften seiner Heimat und der Region festhalten – doch nach mehr als vier Jahrzehnten beobachtet er zunehmend auch die Veränderungen des Klimawandels auf die Lebensräume von Tieren und Menschen wie den Inuit-Jägern in Nordkanada und Grönland, den Bauern und Fischern auf Island und den Färöer-Inseln und der indigenen Bevölkerung in Nordskandinavien und Sibirien.

Ragnar Axelsson, Hunter Ole Neylsen, Ingelfielfjord, Greenland, 1987. © Ragnar Axelsson

Zu den dramatischsten wie symbolträchtigsten Meilensteinen dieser dramatischen Veränderungen zählt der 700 Jahre alte Okjökull, dessen Status als Gletscher 2014 aufgrund des immer weiter schmelzenden Eises aberkannt wurde. Heute erinnert eine Gedenktafel an seine Existenz und ist zugleich ein Mahnmal, denn alle anderen isländischen Gletscher drohen ebenfalls innerhalb der folgenden 200 Jahre zu verschwinden.

Die Ausstellung WHERE THE WORLD IS MELTING ist zwar in erster Linien eine Retrospektive des fotografischen Werkes Ragnar Axelsson. Sie ist aber viel mehr als das: Die Schau ist eine Besinnung auf das, was der Erde durch den Klimawandel bereits verloren gegangen ist und in naher Zukunft weiter verloren zu gehen droht.

Gleichzeitig ist Axelssons Lebenswerk das beste Beispiel dafür, wie schwer sich das Medium Fotografie mit der Visualisierung von komplexen Themen und Veränderungen tut: Die Fotografie kann nur einen Moment, einen einzigen Augenblick festhalten. Ein komplexes und oft als abstrakt empfundenes Thema wie der Klimawandel ist deshalb an sich nicht abbildbar, denn um eine Veränderung zu zeigen, benötigt es mindestens zwei Aufnahmen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgenommen wurden.

Wenn aber diese Veränderungen tatsächlich festgehalten wurden, kann die Fotografie ihr ganzes Potential ausspielen und sichtbar machen, was eigentlich schon nicht mehr sichtbar ist, weil es bereits der Vergangenheit angehört. Durch seine Hartnäckigkeit, Ausdauer und jahrzehntelange Beschäftigung mit seiner Heimat hat Ragnar Axelsson es geschafft, diese Veränderungen en passant festzuhalten und durch zahlreiche Begegnungen und Gespräche mit Menschen vor Ort selbst zu erfahren.

Doch es gibt auch Fotografen, die andere Ansätze verfolgen, um den Klimawandel zu zeigen. Der Italiener Fabiano Ventura beispielsweise sucht für seine Arbeit On the Trail of the Glaciers ganz gezielt historische Fotografien von Gletschern in den Alpen, im Kaukasus, im Himalaya, in Alaska und den Anden und fotografiert dieselbe Landschaft von derselben Stelle noch einmal. Gerade in der direkten Gegenüberstellung werden die massiven Unterschiede sichtbar. Wo früher massive Gletscher und schneebedeckte Bergspitzen zu sehen waren, schauen wir heute auf den nackten Felsen, Geröll und hin und wieder auf einen kleinen übriggebliebenen Bergsee. Das ist beeindruckend und verstörend zugleich.

Beides gilt auch für das dreiteilige Projekt Drowning World von Gideon Mendel. In seinen Submerged Portraits hat der Südafrikaner Menschen vor oder in ihren überfluteten Häusern fotografiert und das Wasser steht ihnen dabei teilweise buchstäblich bis zum Hals. In Floodlines zeigt er uns sehr grafische Architektur- und Detailaufnahmen, die sich bei näherer Betrachtung als Häuser herausstellen, an denen die Spuren der Überflutung noch deutlich zu sehen sind oder die aktuell sogar noch unter Wasser stehen. Für die Reihe Watermarks hat Mendel mehr als 1000 Familienfotos gesammelt, die von den Überflutungen zerstört und an anderen Orten angeschwemmt wurden: Metaphorisch stehen die verloren gegangenen und stark in Mitleidenschaft gezogenen Erinnerungen für den Verlust von Menschenleben und Familiengeschichten, Heimat und Identität.

Mit einem ganz anderen Aspekt des Klimawandels hat sich der Österreicher Gregor Sailer in The Polar Silk Road beschäftigt. Im streng dokumentarischen Stil und einem entsprechend distanzierten Blick zeigt er in seinen analogen Großformat-Fotografien die Gebäude und Architekturen in den Sperrgebieten in der Nordpol-Region. Damit weist er auf den absurden Umstand hin, dass sich die Anrainerstaaten aktuell einen Wettlauf um die wichtigsten Gebiete in dieser sensiblen Region liefern und dort infrastrukturell und militärisch massiv aufrüsten. Denn wenn der Klimawandel nicht aufgehalten wird, wird der Nordpol in den nächsten Jahrzehnten frei vom Eis sein mit der Folge, dass die darunter liegenden Bodenschätze leichter ausgebeutet werden können und dass eine neue, ganzjährig befahrbare Schifffahrtsstraße durch das Polarmeer entsteht.

Gregor Sailer, aus der Serie The Polar Silk Road. EISCAT, Ramfjordmoen, Norway, 2020 © Gregor Sailer

Ebenfalls mit dem nüchternen Blick eines Dokumentarfotografen ist Claudius Schulze für sein Projekt State of Nature unterwegs gewesen. Darin zeigte er mehr oder weniger harmonische bis romantische Landschaftsfotografien aus allen Teilen Europas, die sich bei genauerer Betrachtung als Orte der Angst und Prophylaxe entpuppen. Wir sehen Dämme und Stauseen, Wellenbrecher und Sturmflutsperrwerke, Molen und Lawinenverbauungen. Selbst eine idyllische Auenlandschaft mit Kühen entpuppte sich als potenzielles Überschwemmungsgebiet für ein Elbhochwasser. Die Idylle in seinen Bildern wird allein durch die Möglichkeit einer bevorstehenden Katastrophe verdrängt und zeigt zugleich, dass diese in Architekturen umgesetzte Befürchtungen längst auch Teil unseres europäischen Landschaftsverständnisses geworden ist.

Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt Igor Elukov mit seinen fast traumwandlerischen Fotografien in The Book of Miracles. Der Titel bezieht sich auf das Augsburger Wunderzeichenbuch aus der Mitte des 16. Jahrhunderts und es beschreibt übernatürliche bis furchterregende Phänomene seit der Sintflut, die das Eingreifen Gottes in die menschliche Welt offenbaren sollen. Für seine geradezu fantastischen Fotografien, die mit Elementen der Religion und Mythologie arbeiten, nutzt er Modelle, Requisiten und konstruiert ganze Sets. Der Klimawandel wird nicht vordergründig behandelt, schwingt aber in fast jedem der wundersam-apokalyptischen Ästhetiken unheilvoll mit.

Igor Elukov, aus der Serie Book of Miracles © Igor Elukov

So unterschiedlich die Ansätze auch sein mögen: Fast alle vereint, dass sich die Trennlinie zwischen den Rollen als beobachtender Fotograf und Aktivist zunehmend verschiebt oder gänzlich aufgelöst hat.

Für alle der genannten Künstler und Fotografen ist die Klimakrise nicht einfach nur ein Thema, das sie einmalig behandeln und von dem sie dann zum nächsten Projekt wechseln. Sie sehen es schlichtweg als Lebensaufgabe und Berufung: Gideon Mendel stellt seine Fotografien der Gruppierung Extinction Rebellion für Demonstrationen zur Verfügung, Claudius Schulze engagiert sich auch in anderen Projekten mit Klimakrise, Artensterben und Bionik. Sie zeigen, dass sich fotografische Strategien beim Thema Klimawandel längst nicht mehr nur auf das Dokumentarische beschränken und sich vielleicht sogar unbedingt davon lösen müssen, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.

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Damian Zimmermann (* 1976) lebt und arbeitet als Journalist, Kunstkritiker, Fotograf, Kurator und Festivalmacher in Köln.

RAGNAR AXELSSON – WHERE THE WORLD IS MELTING ist bis zum 18. Juni 2023 im PHOXXI zu sehen.


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