BRICOLAGE – BASTELN WIE MACGYVER
25. März 2021
GRAFIK: HANNA OSEN
25. März 2021
Das Wort »Bricolage« kommt aus dem Französischen und kann mit »das Basteln«, »das Heimwerken« aber auch mit »die Pfuscharbeit« übersetzt werden. Gemeint ist das eher laienhafte – aber nicht zwingend weniger gelungene –, erkennbar manuelle Zusammenfügen von Materialien oder Gegenständen, die gerade zur Hand sind. Aus gefundenen oder zufällig vorhandenen Dingen entsteht etwas Neues. Dieses Neue muss laut dem Dogma der Bricolage einen fest definierten Zweck erfüllen: Es muss ein Problem lösen. Ob dieses Problem akut oder zukünftig auftritt bzw. auftreten wird ist dabei nicht relevant. Wer sich dem Problem stellt, wird Bricoleur genannt. Diese Menschen konstruieren unter anderem in schwierigen Situationen Hilfestellungen, die ihnen einen Ausweg ermöglichen. Den wohl bekanntesten Bricoleur kennen wir alle aus dem amerikanischen Fernsehen: Angus MacGyver.
Der Begriff Bricolage wurde das erste Mal 1962 vom französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss in seinem Traktat La pensée sauvage (dt. Das Wilde Denken) in diesem Sinne definiert und verwendet. Im Kern geht es ihm um die Unterscheidung zwischen dem »zivilisierten« Ingenieur, der für seine Arbeiten oft speziell für die Problemlösung von Maschinen hergestellte Materialien und Werkzeuge benutzt, und dem eher »primitiven«, bastelnden und handwerkelnden Bricoleur. Doch im Wesen sind sich diese beiden Professionen äußerst ähnlich: Beide sind Spezialisten darin, Lösungen zu finden, Strukturen und Sinnzusammenhänge zu erkennen und die Welt damit ein Stückchen gangbarer zu gestalten. So viel zur Definition und Herkunft des Begriffs.
Was bedeutet »Bricolage« aber im Kontext von Kunst? Im Gegensatz zur weitaus bekannteren Kunstgattung der Collage, handelt es sich bei der Bricolage immer um ein dreidimensionales Enderzeugnis. Also ist eine Bricolage ein Objekt? Das stimmt. Aber ein Objekt ist nicht zwingend auch eine Bricolage. Der Unterschied zum Objekt oder zur Assemblage ist die Ebene der Problemlösung – während jene rein plastische Kunstarbeiten darstellen können, dient eine Bricolage nicht zuletzt einem ganz konkreten Zweck. Ästhetische Ansprüche oder kunsttheoretische Ansätze spielen vordergründig keine Rolle.
Aber widerspricht das ganz gezielte Ansinnen, Kunst zu erschaffen – und das in einem Atelier, ausgestattet mit allen notwendigen Materialien und Werkzeugen – nicht eigentlich der oben genannten, grundlegenden Definition von Bricolage? Die Antwort lautet nein. Im Kontext der Kunst müssen wir einen Schritt zurücktreten von den rein profanen Problemen des Alltags und die herangezogenen Begriffe wieder etwas weiter fassen. Die zu lösenden Probleme müssen nämlich nicht rein materieller Art sein, sondern können auch sozialpolitischer, künstlerischer oder generell theoretischer Natur sein. Hier wird der Zweck der Bastelei also grundlegender und tiefgreifender.
Eine Bricolage herzustellen erfordert nicht nur Kreativität, sondern ein weitreichendes Expert*innenwissen. Die genauen Charakteristika der zu verwendenden Materialien müssen in kürzester Zeit erkannt und voll erfasst werden – das gilt aber auch für die Eigenschaften von Denkweisen und Handlungs- bzw. Konsummustern von Individuen und sozialen Systemen. Denn nur das Erfassen des Grundproblems, der möglichen Ansatzpunkte und Symbiosen verschiedener Gegenstände, Eigenschaften und Sitten, eröffnet auch konkrete Lösungswege. In der Kunst muss diese Lösung allerdings nicht nur für die erschaffende Person, den Bricoleur, funktionieren, sondern auch von verschiedenen Betrachtenden verstanden und antizipiert werden.
In der Kunst muss eine Bricolage demnach immer mehr als nur ein einziges Problem lösen – ein Bricoleur muss in mehreren Diskursen geschult sein, Verbindungen herstellen und eben diese auch vermitteln können. Dabei müssen verschiedene Perspektiven bedacht und einkalkuliert werden.
Der MacGyver der Kunstwelt ist Tom Sachs – und das nicht nur, weil er auf YouTube einen in ein Loch gefallenen Gegenstand mit einer Schnur und einem Klebeband birgt und damit vorführt, was unter einer Bricolage zu verstehen ist. Seine Arbeiten, auch die Einzeleinheiten seiner Environments, sind immer von Hand zusammengefügt, weisen Nähte und Lötspuren auf. Es sind »Bastelarbeiten« echten Handwerks, keine glatten Erzeugnisse ohne Ecken und Kanten, wie sie etwa Jeff Koons kreiert. Zudem verbergen sich hinter seinen Objekten und Aktionen immer auch Kommentare zu Problemen und möglichen Lösungen unseres Jahrhunderts, unserer Gesellschaft und unserer Politik – manchmal ernst gemeint, oft ironisch aufgeladen.
In seinem Gesamtkunstwerk SPACE PROGRAM: RARE EARTHS (SELTENE ERDEN) kombiniert Sachs zum Beispiel skurrile Interpretationen von Raumfahrtkapseln, zusammengehalten durch Schweißnähte und einfachen Klebebandstreifen mit Aktionen, die Rituale sowohl aufgreifen und interpretieren als auch infrage stellen. Schon allein sein »Indoktrinationsprozess« genanntes Initiationsritual, bei dem die Besuchenden Schrauben sortieren müssen, löst das Problem des oft einsamen und passiven Kunstkonsums. Die Ausstellungsbesucher*innen werden Teil der Gruppe und sogar Teil der Kunst selbst.
Sachs besitzt die Gabe, die Betrachtenden seiner Kunst zum Nachdenken anzuregen und bestenfalls in positivem Sinne zu handeln. Versteht man dies nun als Lösung eines höchst verbreiteten sozialen Problems – dasjenige des Nicht-Denkens und Nicht-Handelns –, so kann Sachs ohne Übertreibung auf den verschiedensten Ebenen als Meister der künstlerisch eingesetzten Bricolage bezeichnet werden.
__________
Iris Haist ist promovierte Kunsthistorikerin mit den Schwerpunkten Comics sowie Zeichenkunst und Skulptur der Moderne und der Gegenwart. Sie arbeitet als leitende wissenschaftliche Fachkraft bei der Erich Ohser - e.o.plauen Stiftung in Plauen.
Die Ausstellung TOM SACHS – SPACE PROGRAM: RARE EARTHS (SELTENE ERDEN) ist ab dem 19. September 2021 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.