VINTAGE – NICHT NUR DIE
OPTIK ZÄHLT
25. März 2021
GRAFIK: HANNA OSEN
25. März 2021
Der fotografische Abzug hat Kratzer, Flecken, Risse? Sind diese deutlichen Gebrauchsspuren schon ein Hinweis, dass es sich um einen Vintage-Print handelt? Oder ist es der makellose, aber historische, analoge Print, der mit dem Begriff »Vintage« geadelt wird? Eine Spurensuche nach dem Ursprung und der Definition dieses Begriffs, der sich vor allem im Handel mit Fotografien durchgesetzt hat, ist ebenso spannend wie vielschichtig.
Die Bezeichnung »Vintage« (Weinlese) wurde zunächst von Winzer*innen verwendet, um Jahrgang oder Güte eines Weines zu beurteilen. Längst hat er sich aber inflationär auch in anderen Bereichen etabliert und steht hier für alles vermeintlich Alte, aber Trendige: so gibt es beispielsweise Vintage-Mode, Vintage-Automobile, Vintage-Design oder Vintage-Möbel. In der Fotografie wird der Begriff zwar meist seriöser eingesetzt, doch auch hier gibt es Missverständnisse mit dieser durchaus schillernden Bezeichnung.
Ein Vintage-Print kann prinzipiell alle Genres und Gebrauchsformen umfassen. Ob abgegriffener Pressebildabzug, aufwendig ausgearbeitete Porträtstudie, Landschaftsaufnahme, Industriebild, Modebild oder künstlerisch-experimentelle Kamerastudie: Entscheidend für die Kategorisierung eines Vintage-Prints ist nur der Zeitpunkt des Abzugs. Dieser Ausgangspunkt sorgt nicht allein für die auratische Aufwertung oder gar Fetischisierung, sondern auch für die Differenzierung und Klassifizierung späterer Abzüge vom gleichen Negativ.
Der Vintage-Begriff wurde erst gebräuchlich, als sich in Nordamerika
und Europa ein Kunstmarkt für die Fotografie ausprägte. Erst die
Etablierung der Fotografie als Kunstwert hat das Augenmerk auf eine
Unterscheidung und damit auf die Taxierung verschiedener Abzüge gelenkt. Die vermeintlich unendliche Reproduzierbarkeit einer Fotografie war für
den Kunstmarkt eher unerwünscht, denn nur rare Ware treibt den Preis
nach oben.
Bei Fotograf*innen, die sich auf die Gesetzmäßigkeiten des
Handels einließen, setzte sich das Prinzip der Auflage durch. Doch auch
ältere Fotografien sollten unter den Mechanismen des Kunstmarktes besser
klassifizierbar werden. Hier sollte die bewusste Verwendung von Vintage
helfen. Beispielsweise definierte 1979 der Sammler-Ratgeber The
Photograph Collector’s Guide von Lee D. Witkin und Barbara London: »Der
Begriff Vintage Print, bezieht sich auf einen Abzug, der vor
einer Anzahl von Jahren, ungefähr zur gleichen Zeit wie das Negativ
gemacht wurde; der Begriff modern print bezieht sich auf einen Abzug, der vor kurzem, also viel später als das Negativ gemacht wurde.«
In Europa und insbesondere in Deutschland dauerte die Etablierung
eines Kunstmarktes für die Fotografie dann noch einmal ein paar
Jahrzehnte länger. Eine der damals maßgeblichen deutschsprachigen
Einführungen orientierte sich an der amerikanischen Vintage-Definition: »Als Vintage
wird der Abzug bezeichnet, der kurz nach seiner Belichtung des Negativs
vom Fotografen selbst, seinem Assistenten oder einem von ihm
beauftragten Labor nach seinen Vorstellungen ‚geprintet‘ (und danach vom
Fotografen signiert und datiert, also autorisiert) wurde. Nach
allgemeiner Übereinkunft darf der zeitliche Abstand zum Aufnahmedatum
nicht mehr als fünf Jahre betragen.« Ganz schematisch ergänzte der Autor
Michael Koetzle in dieser Publikation die Definitionen von Prints in
Fünfjahresschritten: so wird als Period Print
ein Abzug definiert, »der zwischen fünf und zehn Jahre nach der Aufnahme
wiederum vom Fotografen oder seinem Assistenten gefertigt« wurde. Beim Lifetime
oder Modern Print »sind zehn Jahre und mehr vergangen, bis der
Fotograf noch einmal zu dem betreffenden Negativ zurückkehrt.« Und
schließlich folgt der Posthumous oder Estate Print von
Erben oder Nachlassverwalter*innen, »die nach dem Tode eines Fotografen
von den Original-Negativen neue Abzüge in zum Teil limitierten Auflagen
fertigen.«
Doch so präzise und übersichtlich sich diese Abfolge auch
lesen mag, so wenig haben sich weder die meisten Fotograf*innen noch
deren Nachlassverwalter*innen an diesen Normenkanon gehalten. Dieses
Dilemma bestimmt den Fotografie-Markt bis heute. Deutlich wird, dass Vintage
oft eine sehr individuell gesetzte Definition ist. Kein Wunder, denn mit
einer großzügigen Ermessensgrundlage lässt sich auch der Preis auf dem
Markt erhöhen. Viele Abzüge waren früher für angewandt arbeitende
Fotograf*innen nur ein Zwischenschritt.
Am Ende stand die
Veröffentlichung in Magazin, Zeitung, Buch oder Werbeanzeige.
Festzuhalten gilt, dass Vintage
erst einmal nichts über Format, Erhaltungszustand, Provenienz oder die künstlerische Qualität aussagt.
Heute gilt, dass monetäre Bewertung und auratische Aufladung nicht voneinander zu trennen sind. Die Einführung des Begriffs Vintage,
vielfach als Marketing-Coup geschäftstüchtiger Händler geschmäht, wird
ebenso oft als notwendig gerühmt, um den unwiederbringlichen Moment
hervorzuheben, in dem Aufnahme und Abzug eine später nie
wiederherzustellende Symbiose eingegangen sind. Ganz sicher lebt der
Vintage-Print eben genau nur von dieser speziellen Spannung. Gerade in
Zeiten der digitalen Bilderflut hat der analoge Abzug wieder an
Bedeutung gewonnen. Man schätzt insbesondere sein Material und seine
gewünschte Seltenheit macht ihn besonders wertvoll. Heute erscheint es
kaum mehr vorstellbar, dass die Fotografie lange Zeit für den Kunstmarkt
ignoriert wurde. Noch in den Fünfzigerjahren galten Fotografie-Abzüge
als unverkäuflich. Die Möglichkeit der massenhaften Reproduzierbarkeit
war und ist bis heute gleichermaßen Segen und Fluch der Fotografie.
Die Gesetze des Kunstmarktes haben ihre ganz eigene Dynamik. Drei
Kategorien sollten den Umgang mit Fotografien auf dem Kunstmarkt
bestimmen: Originalität, Seltenheit und Exklusivität. Daher konnten auch
historische Fotografien, die vor der Etablierung des fotografischen
Kunstmarktes entstanden, erst durch die Einführung des Vintage-Begriffs
den Marktmechanismen unterworfen werden. Doch für den Wert einer
Fotografie sollte nicht nur die vermeintliche Seltenheit, die durch den
Begriff Vintage-Print suggeriert wird, wichtig sein, sondern vor allem
die Qualität. Und so kann sich dann auch manchmal ein ziemlich
ramponierter Abzug plötzlich als Glücksfund seiner*s Besitzers*in
erweisen. Denn wie immer im Leben gilt auch hier: nicht nur die Optik
zählt.
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Ulrich Rüter ist Fotografie- und Kunsthistoriker. Als freier
Autor, Redakteur, Dozent und Kurator arbeitet er für zahlreiche Magazine
(u.a. für Leica Fotografie International) und unterschiedliche
Institutionen, so u.a. auch für die Deichtorhallen Hamburg.
Die hier gezeigten Bildbeispiele stammen aus dem Lebenswerk des vor kurzem mit 95. Jahren verstorbenen F.C. Gundlach. Sie veranschaulichen den Wandel eines fotografischen Abzugs vom Gebrauchsmaterial zum Sammlerstück. Ursprünglich als Illustration neuer Modekollektionen im Magazin »Film und Frau« gedruckt, hat der Hamburger Modefotograf, Sammler und Gründungsdirektor des Hauses der Photographie in den Deichtorhallen ab den 1980er-Jahren einige seiner frühen Mode-Motive als Modern Prints neu aufgelegt.
Galerie 1: F.C. Gundlach, Grit Hübscher mit Pudel, Modell HeinzOestergaard, Berlin 1955; Vintage-Print (Vorder- und Rückseite) sowieeine Variante aus der Serie als Modern Print, 1980er Jahre; CourtesyStiftung F.C. Gundlach Galerie 2: F.C. Gundlach, Der Hut, Renate von Arnim, Hut vonMecklenburg, Hamburg 1956; Vintage-Print (Vorder- und Rückseite) sowieModern Print 1980er Jahre; Courtesy Stiftung F.C. Gundlach