Das ganze Leben
29. Juni 2022
FOTO: CHARLOTTE MARCH, FISCHMARKT, 1955 © CHARLOTTE MARCH, SAMMLUNG FALCKENBERG / DEICHTORHALLEN HAMBURG
29. Juni 2022
Die 2005 verstorbene Fotografin Charlotte March wurde bisher vor allem für ihre Mode- und Werbefotografie beachtet und geschätzt, die für renommierte Magazine wie Brigitte, Stern, Elle, Vogue Italia, Vanity Fair, Harper’s Bazaar und twen entstanden. Die Ausstellung CHARLOTTE MARCH – FOTOGRAFIN / PHOTOGRAPHER in der Sammlung Falckenberg ermöglicht nun eine Neuentdeckung der Fotografin: Es ist die einer Künstlerin mit emanzipatorischer Haltung, die für den gesellschaftlichen Aufbruch in den 1960er-Jahren steht.
Weit weniger bekannt sind die dokumentarischen Bilder Marchs, die unter anderem im Hamburg der 1950er-Jahren entstanden sind.
Dieses frühe Werk Marchs wird häufig mit der »humanistischen Fotografie« in Zusammenhang gebracht, mit Künstlern wie Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Willy Ronis oder Marc Riboud. Letzterer warnte: »Der moderne Fotograf muss aufpassen, dass er sich nicht vom Leben trennen lässt.« Die genannten Fotografen strebten eine Poetisierung des Alltäglichen an. Im Kleinen vom Großen erzählen – das war ihre künstlerische Strategie.
Willy Ronis etwa fand seine Sujets auf der
Straße, in Pariser Hinterhöfen, in den nordöstlichen Arbeiterquartiers
Belleville und Ménilmontant, bei dem großen Automobilarbeiter-Streik von
1936, in Cafés oder in einem Dorf in der Provence, wo er lange lebte.
Er zeigte die Gemüseverkäufer bei Les Halles, Kinder auf der Straße,
Verliebte auf der Bastille.
Die Beziehung der Menschen in ihrem Lebensumfeld ist auch das Thema
von Charlotte Marchs frühen Bildern. Zwar fotografiert sie in Hamburg
keine Boule-Spieler oder Liebespaare, doch wie Ronis vor allem jene, die
man einmal »die kleinen Leute« nannte. Charlotte Marchs Interesse an
der Welt der Arbeiter ist groß. Aus ihren Hamburg-Fotografien spricht
nicht nur das Interesse am wohlkomponierten Bild, sondern ganz besonders
die Nähe zu den Menschen selbst. Ihre Bilder zeigen Angestellte,
Handwerker, Hafenarbeiter, Menschen vom Zirkus, die Arbeiter in der
Bonbonkocherei. March findet ihre Motive auf dem Fischmarkt, der
Reeperbahn oder dem Dom, dem traditionsreichen Volksfest auf dem Heiligengeistfeld in St. Pauli.
In Marchs frühen Hamburger Fotografien erkennen wir die Idee der
französischen humanistischen Fotografie wieder, dass die Bildkunst
empathisch, mitfühlend auf die Leiden und Nöte der Menschen zu reagieren
habe. Diese Haltung ist zwar schon in der Vorkriegszeit angelegt, etwa
bei André Kertész, Brassaï oder Henri Cartier-Bresson, doch tritt sie
markanter nach dem Zweiten Weltkrieg in Erscheinung. Als Reaktion auf
die Brutalität des Krieges und den Holocaust gewinnt die Idee eines
universalen Humanismus an neuer Attraktivität. In den Mittelpunkt rücken
der Mensch und die alltäglichen Dinge, die er tut.
Zum prägenden Ereignis wird die von Edward Steichen initiierte
Ausstellung The Family of Man im New Yorker Museum of Modern Art im
Jahr 1955. Die Idee der Ausstellung war es, eine Sammlung von
Fotografien zusammenzustellen, die als eine Botschaft des Friedens
verstanden werden konnte. Steichen verstand Fotografie als eine
Universalsprache, ein Mittel zur Völkerverständigung und Humanität. Das
ist der zeitliche Kontext, vor dem die Bilder von Charlotte March auch
zu lesen sind.
March führt uns in ihren Bildern mitten hinein in das Hamburger Leben
der Nachkriegszeit. Sie zeigt das ganze Leben – auch die Einsamkeit und
die Armut in der Großstadt. Eine alte Frau passiert gebückt »Reny’s
Bar«. Ein Mädchen, in der Bewegung fotografiert, blickt zu ihrer
Großmutter, die weiter entfernt steht. Angesiedelt ist die Szene in
einem der labyrinthischen Gängeviertel, die es bis in die 1960er-Jahre
noch in größeren baulichen Zusammenhängen gab als heute. Hier werden die Enge und die Armut der Slums der Vorkriegszeit noch spürbar.
Wir sehen zwei Schüler vor dem »Paradies schöner Frauen«, Männer vor
der Kriegs-Brache des im Bau befindlichen Springer-Hochhauses in der
Neustadt, das seit 1950 entstand und 1956 eingeweiht wurde. Von dem
Glamour der späteren Bilder Marchs, der Mode- und Werbefotografien, gar
von einem neuen Frauenbild, ist hier noch nichts zu spüren. Es sind
Zeugnisse einer vom Krieg schwer getroffenen Stadt und ihrer Menschen.
March, die sich nach dem Besuch der Kunstschule Alsterdamm und ersten
Tätigkeiten als Modezeichnerin und Grafikerin entschied, sich ganz der
Fotografie zu widmen, sucht in ihren frühen Hamburger Bildern die Nähe
zu den gezeigten Personen. Aber wir sehen auch Fotografien, die das genaue
Gegenteil offenbaren. Kehraus zeigt einen Arbeiter von hinten auf dem
Heiligengeistfeld beim Abbau des »Circus Williams«. Andere Porträts, etwa
jene vom Hamburger Fischmarkt, die den damals bekannten Fischverkäufer
Karl Wilhelm Schreiber alias »Aale-Aale« in den Fokus rücken, aber auch
Verkäufer von Schweinen und Ziegen zeigen, stehen nicht nur in der
Tradition der humanistischen Fotografie. Ihre fotografischen Vorbilder
reichen weiter zurück.
Beim Betrachten lässt sich etwa an die sozialkritischen Fotografien von
Heinrich Zille denken, der sein »Milieu« um 1900 fotografiert hat. Und
wir sind erstaunt: Der Alltag der Berliner Hinterhöfe um 1900, der
Alltag der Marktfrauen, der Rummel am Lietzensee, das alles unterschied
sich nicht so sehr vom Hamburger Leben um 1950. Zille ist mit seiner
frühen Straßenfotografie ein Vorläufer dieses sozialen Blicks, den March
in ihren Hamburger Bildern ein letztes Mal in ihrem Arbeitsleben
kultiviert: der Blick auf ein mühevolles Leben der armen Leute.
In gewisser Weise führt March auch das Werk eines anderen Hamburger
Fotografen weiter. Der 1899 geborene Fide Struck zeigte das Hamburg der
1920er- und 1930er-Jahre. Struck war ein empathischer Schilderer
norddeutscher Arbeits- und Lebenskultur, dessen Werk während der NS-Zeit
nicht wachsen konnte. Im Gegenteil: Nach 1933 arbeitete Struck für eine
Baufirma, für die er gelegentlich Bauschäden fotografisch
dokumentierte. Das Altonaer Museum für Kunst und Kulturgeschichte hat
Strucks Werk in einer Ausstellung im Jahr 2020 wiederentdeckt.
Im Laufe der 1960er-Jahre schwindet das alte Hamburg und mit ihm auch
die Art von Menschen, die March uns zeigt. Wie etwa jene beiden Pfeifenraucher vor
der Baustelle des Springer-Hochhauses. Es sind diese Gesichter und
Szenen aus einer alten, beinahe vergessenen Welt, vor deren Hintergrund
sich Hamburg als Medienstadt bereits neu zu erfinden beginnt.
In den
Hamburg-Bildern von Charlotte March sehen wir, dass in der noch nicht
bis in den letzten Winkel beschleunigten Großstadt überraschende Bilder
vom Leben auf die Fotografin warteten. Sie sind somit auch Ausdrucks
des Staunens der Fotografin. Das Staunen über Augenblicke, die Vielfalt
von Welt und Welten in der Stadt.
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Marc Peschke, 1970
geboren, Kunsthistoriker, Autor und Künstler, lebt in Wertheim am Main
und Hamburg. Seit 2008 zahlreiche eigene Ausstellungen im In- und
Ausland.
Die Ausstellung CHARLOTTE MARCH – FOTOGRAFIN/PHOTOGRAPHER ist bis zum 4. September 2022 in der Sammlung Falckenberg der Deichtorhallen Hamburg zu sehen.
Hören Sie in unserem Podcast DAS IST KUNST wie Charlotte March die Modefotografie revolutionierte.