"Das Licht ist Gibsons Komplize"
15. Mai 2023
FOTO: © RALPH GIBSON
15. Mai 2023
Herr Harder, das Werk von Ralph Gibson war bisher in Deutschland – im Vergleich zu seiner Heimat, den USA – nicht so präsent, wie man es sich vielleicht denken könnte. Woran liegt das?
Die meisten Fotograf*innen werden dort besonders rezipiert, wo sie leben. Ralph Gibson hätte schon früher in Europa eine größere Aufmerksamkeit verdient, denn er verbrachte viel Zeit in Frankreich, nachdem er 1975 erstmals zum Fotofestival Rencontres d‘Arles eingeladen wurde. Sein Werk ist fantastisch und eigenständig. Es ist großartig, dass es nun in einer Retrospektive wie SECRET OF LIGHT in Hamburg und München zu sehen ist. Seine letzte größere institutionelle Ausstellung in Deutschland war meines Erachtens bei uns in der Helmut Newton Stiftung – vor 16 Jahren. Inzwischen gibt es eine große Neugier auf Gibsons Fotografie in Deutschland.
Gibson wendete sich früh von der dokumentarischen Fotografie ab. Seine Vorbilder stammen aus der Zeit der Foto-Avantgarde mit ihren surrealistischen Tendenzen. Welche direkten Hinweise auf andere Künstler*innen und Zitate können Sie da erkennen?
Es existieren in der Tat einige Vorbilder aus dem Surrealismus, etwa Man Rays Rückenakt Violin d’Ingres oder dessen Akt-Torso-Porträt von Lee Miller, die in Gibsons Bildwelt einen Widerhall finden. Ansonsten entdecken wir einige formalistische Anleihen an Fotografien von László Moholy-Nagy, Alexander Rodchenko, Max Burchartz oder Aaron Siskind. Gibson zog seine Inspiration auch aus der Kunstgeschichte und dem Medium Film. Überhaupt könnten manche seiner Fotografien auch Filmstills sein. Alles wird von ihm ins Zeitgenössische übersetzt und bleibt zugleich zeitlos.
Das Thema des Surrealen, des Geheimnisvollen, legt der Titel
der Ausstellung schon nah: SECRET OF LIGHT. Wie kann man das Geheimnis
des Lichts in Gibsons Werk in Worte fassen?
Es herrscht ein unnachahmlicher, abstrahierender Hell-Dunkel-Kontrast in
seinen Bildern, der sie wie enigmatische Tagtraumschnipsel erscheinen
lässt. Alles ist gleichwohl der Realität abgeschaut und durch einen
ausschnitthaften Kamerablick entsprechend transformiert. Gibson spielt
mit dem Licht ebenso wie mit den Protagonist*innen oder den Gegenständen
seiner Inszenierungen. Häufig sind es radikale Details einer
beobachteten Alltagssituation mit minimalistischer Erzählung, die bei
ihm spontan und intuitiv zum Bild werden. Auch Schattenwürfe
strukturieren gelegentlich seine Bildkompositionen. Licht wird zu seinem
immateriellen Komplizen. Und wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten.
Diese Plattitüde verrät zugleich etwas über das Geheimnis seiner
mitunter geometrisch konstruierten Fotografie.
Gibson war als Schüler Statist in Filmen von Nicholas Ray und
Alfred Hitchcock, für den sein Vater in Hollywood sogar als
Regieassistent gearbeitet hat. Haben diese Erfahrungen Auswirkungen auf
sein Werk gehabt?
Ich bin mir sicher, dass es eine
unmittelbare Beeinflussung durch Hollywoods Filmindustrie gab,
insbesondere was die kinematografische Beleuchtung betrifft. Seitdem
Gibson erstmals als Elfjähriger in Jacques Tourneurs Film The Flame and the Arrow
als Statist mitwirkte, hat er etwas von dieser Illusionsmaschine für
sein Werk übernommen. Aber ich sehe und spüre nicht nur die "Suspense“,
die Spannung, von Hitchcock in Gibsons späteren Fotografien, sondern
auch das Licht und die Stimmung der französischen Nouvelle Vague der
1960er-Jahre.
Besonders die Serie Quadrants von 1975 verblüfft mit ihren Bildausschnitten und Close-Ups.
Die Bilddetails der Quadrants-Serie sind wirklich
atemberaubend. Er geht mit seiner Leica ganz nah an den Bildgegenstand
heran. Ihn interessieren hier in erster Linie Muster, Strukturen,
Oberflächen, weniger der Bildraum oder die menschliche Individualität.
Gibson belichtet manche Motive so extrem über, dass das Dekolleté einer
Frau auch schon mal zu einer hellen Fläche ohne jede Binnenzeichnung
wird oder – quasi im umgekehrten Fall – ein Herrenjackett zu einer
großen mattschwarzen Fläche. Das wirkt in seinen perfekt ausbelichteten
Silberprints besonders intensiv, aber auch in den Reproduktionen im
begleitenden Katalog.
Sie sprachen gerade über das Bild des Dekolletés. Kommen wir
auf den weiblichen Körper bei Gibson zu sprechen. Was ist das für ein
Blick? Was sucht er?
Ich denke, er sucht im Körperlichen das Sinnliche. Oder etwas pathetisch
ausgedrückt: die ultimative Schönheit. Es sind begehrliche Blicke, eine
Aneinanderreihung vermeintlich intimer Momente, nicht nur, wenn seine
eigene Frau für ihn posiert hat. Der Dualismus von Voyeurismus und
Exhibitionismus wird von Gibson häufig zugunsten einer abstrakten, puren
Form aufgelöst. Die meisten Frauen sind auf seinen Aktfotografien
allein, mit sich allein. Und so macht uns Gibson – wie die meisten
anderen Aktfotograf*innen – über die Bildbetrachtung zu Voyeur*innen. Aber das
ist in der Kunstgeschichte bei Velasquez und Goya, bei Picasso und
Matisse kaum anders – und der Akt als bedeutendes Genre in der Kunst
steht heute glücklicherweise nicht mehr unter einem so hohen
Legitimationsdruck wie in früheren Jahrzehnten.
Gibsons Buch Nude gilt als Klassiker. Auch hier sind
es die Anschnitte und Ausschnitte, die seinen Blick auf den nackten
Körper bestimmen. "Ich möchte, dass meine Bilder nicht ereignisreich
sind, sondern alles offenlassen“, hat der Fotograf einmal gesagt.
Nudes
ist mal Beobachtung, mal Pose. Alles entspricht einem zarten Umkreisen
und vorsichtigen Untersuchen des weiblichen Körpers mit seiner
Kleinbildkamera. Die Intimität – oder nur die Illusion einer Intimität –
entsteht bei Gibson durch die Motivik einer geradezu taktilen
Körperlichkeit. Jede Visualisierung ist, wie wir wissen, ein bloßes
Angebot, denn erst durch die Rezeption entsteht die Wirkung eines Bildes
und vollendet sich, angereichert und überlagert mit unseren eigenen
Assoziationen und Imaginationen. Und die Offenheit, von der Gibson hier
spricht und die er sich wünscht, steckt tatsächlich in den
unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten seiner Fotografien.
Gibson hat 1966 einige Monate für Magnum Photos in New York
gearbeitet, doch er hat schnell gemerkt, dass das nicht sein Ding ist.
Er wollte kein Bildjournalist sein und entwickelte dann eine ganz
autonome und wiedererkennbare Bildsprache.
Gibson hat seinen Stil bereits als junger Mann, Anfang der
1970er-Jahre gefunden, spätestens als er seine Fotografien in
Künstlerbüchern publizierte, beginnend mit The Somnambulist. Er
ging zu einem sehr frühen Zeitpunkt das Risiko ein, ohne jeden Auftrag
nur für sich und den Kunstmarkt zu arbeiten, als dieser eigentlich noch
gar nicht existierte. Sein Freund Helmut Newton, eine Generation älter,
war das absolute Gegenteil, er bezeichnete sich selbst als "gun for
hire", arbeitete ausschließlich im Auftrag und publizierte seine
Fotografien im Magazin-Editorial oder in Anzeigenkampagnen. Erst spät
stellte er seine Mode- und Aktaufnahmen aus und brachte sie als
Editionen auf den Kunstmarkt. Die beiden diskutierten seit den
1970er-Jahren immer wieder über den "richtigen“ Weg für einen
Fotografen.
Sie haben beide Fotografen in der Ausstellung "Wanted: Helmut
Newton, Larry Clark & Ralph Gibson" im Jahr 2007 in der Newton
Foundation gezeigt. Wie erinnern Sie die Zusammenarbeit?
Sehr positiv. Ich erinnere mich aber auch daran, dass ich – als
Bewunderer seines Frühwerkes – eher die Schwarz-Weiß-Klassiker
ausstellen wollte und er seine aktuelleren Farbaufnahmen. Am Ende
einigten wir uns auf einen Mix.
Gibson war auch Fotobuchverleger. Larry Clarks Tulsa
erschien 1971 in dem von Gibson gegründeten Fotobuchverlag Lustrum
Press, wo auch einige seiner eigenen Bücher entstanden sind. Hat er auch
Bücher von Newton verlegt? Die beiden verband eine Freundschaft.
Es gab keinen eigenen Newton-Bildband im Lustrum-Verlag, allerdings
tauchten Newtons Fotografien in Gruppenkatalogen bei Lustrum auf, etwa
1979 in SX-70 Art und 1984 in Nine by Nine. Die beiden
verband tatsächlich eine enge Freundschaft. Das bezeugen die vielen
privaten Fotos, auch gemeinsam mit ihren Frauen, oder die einander
gewidmeten Prints. Eines dieser großartigen Freundschaftsbilder wird
immer im Sommer auch in der Alice Springs-Retrospektive zu sehen sein.
Wir haben zahlreiche Gibson-Abzüge mit witzigen, mitunter etwas
anzüglichen Widmungen in unserem Stiftungsarchiv und einige davon waren
2019 bei uns in "June’s Room" ausgestellt. Kurz davor hatten wir die
Private Collection of Helmut and June aus der gemeinsamen Wohnung in
Monaco nach Berlin geholt. Helmut und June haben "Ralphie", wie sie ihn
nannten, mehrfach porträtiert. Er schaute meist mit offenem Blick zurück
in die Kamera.
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Matthias Harder, 1965 in Kiel geboren, studierte
Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Philosophie in Kiel und
Berlin. Er ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie
sowie Vorstandsmitglied des European Month of Photography. Seit 2004
arbeitet er als leitender Kurator in der Helmut Newton Stiftung in
Berlin. Im Katalog zur Ausstellung RALPH GIBSON – SECRET OF LIGHT schreibt er über Gibsons Aktfotografie.
Marc Peschke, 1970
geboren, Kunsthistoriker, Autor und Künstler, lebt in Wertheim am Main
und Hamburg. Seit 2008 zahlreiche eigene Ausstellungen im In- und
Ausland.
Die Ausstellung RALPH GIBSON – SECRET OF LIGHT ist noch bis zum 20. August 2023 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.