Der Aufzeichner
VON IRIS HAIST
30. November 2021
FOTO: © HERMAN BAILY / COURTESY TOMI UNGERER ESTATE
30. November 2021
Ein Samstagabend im Mai 2005. Tomi Ungerer ist als Ehrengast im vogtländischen Plauen eingeladen, wo er den e.o.plauen-Preis für sein Lebenswerk verliehen bekommt. Er ist für diesen Anlass auffällig leger gekleidet und trägt im dezent beleuchteten Innenraum eine dunkle Sonnenbrille. Was dann folgt, ist wohl typisch für den Zeichner und Illustrator mit dem beißenden, selten politisch korrekten Witz: Ungerer droht die Teilnahme an der Preisverleihung und dem damit einhergehenden Künstlergespräch zu verweigern, sofern er auf der Bühne auf sein Glas Rotwein und seine Zigaretten verzichten müsse.
Man lässt ihn schließlich gewähren und Ungerer spendet sein Preisgeld für die Einrichtung eines Nachwuchspreises für unter 25-jährige Künstler*innen. An diesem Abend bringt Ungerer einen ganzen Saal dazu, mit ihm lauthals Die Gedanken sind frei zu singen – sein Lieblingslied, dessen Text gleichzeitig sein Lebensmotto enthält: Ich denke, was ich will / und was mich beglücket.
Im Laufe seines Lebens betont Tomi Ungerer immer wieder die hohe Bedeutung des Liedtextes – doch die Freiheit der Gedanken reicht ihm Zeit seines Lebens nie aus. Ungerer fordert stets, sich ebenso frei ausdrücken zu dürfen – in Worten und Gesten, noch öfter in seinen Zeichnungen und in seiner Kunst. Selten geschieht das leise, zurückhaltend oder schamhaft, eben nicht »alles in der Still, und wie es sich schicket«, wie es in der zweiten Strophe des Volkslieds heißt. Der Reiz der freien Gedanken ist in seiner Jugend zu suchen.
1931 in Straßburg geboren, verlebt Jean-Thomas Ungerer seine Kindheit
im zwischen Frankreich und Deutschland zerrissenen Elsass. Die
Uneindeutigkeit einer nationalen Zugehörigkeit traumatisiert den
Künstler einerseits, hilft ihm aber andererseits dabei, seine Identität
nicht von Ländergrenzen abhängig zu machen und auch in diesem Punkt
quasi frei zu sein – oder eher mit der Zeit frei zu werden. »Ich muss
ein Wanderer sein«, notiert er mit zwölf Jahren in sein Schulheft.
Als Kind muss er miterleben, wie die Deutschen 1940 in seine
Heimatregion einmarschieren und diese besetzen, sich die Schulsprache
ändert und seine jüdischen Mitschüler*innen ausgewiesen werden.
Plötzlich ist die unbeschwerte Kindheit vorbei. Ungerer muss erfahren,
dass das freie Äußern von Gedanken gefährlich sein kann.
Der
ausgeprägten Sammelleidenschaft Ungerers haben wir es zu verdanken, dass aus
dieser Zeit Schülerzeichnungen, Schulhefte, Erinnerungsschnipsel,
Zeitungsartikel und Fotografien aus seinem Besitz erhalten sind.
Besonders aus den 1940er-Jahren kennen wir deshalb Zeichnungen zwischen
Realismus und Karikatur, die eben diese damalige Realität des jungen
Künstlers abbilden. Vorbilder für Stil und Inhalt kommen dabei aus der
sorgfältig behüteten Bibliothek seines schon 1934 verstorbenen Vaters.
Die wohl bekanntesten Künstler aus Ungerers Kindheit, und damit in
gewisser Hinsicht auch seine ersten Vorbilder, sind in diesem Kontext Wilhelm
Busch, Samivel, Gustave Doré und der elsässische Zeichner Hansi.
Nach der Befreiung durch die Alliierten verbieten die Franzosen aus Abscheu vor den Deutschen auch den elsässischen Dialekt. Mit der Sehnsucht nach einer ungekannten Weite und inneren Freiheit, geht Ungerer auf Entdeckungsreise durch Europa, mit der Fremdenlegion nach Algerien und als Matrose auf den Atlantik. Immer mit dabei sind Papier, Reisetagebuch und Bleistift, mit denen Ungerer die auf ihn einprasselnden Eindrücke und Ideen festhält. Das Reisen und das Staunen über die Welt und die Menschen sind Ungerers wichtigste Schule, ein Studium an der École Municipale des Arts Décoratifs in Straßburg dauert nur wenige Monate.
Zugleich arbeitet er als Werbezeichner, da der Erfolg jedoch ausbleibt, entschließt er sich 1956 dazu, nach New York auszuwandern. Er heiratet Nancy White und lernt ein Jahr später die Kinderbuchverlegerin Ursula Nordstrom bei Harper & Row kennen, die sein erstes Kinderbuch The Mellops Go Flying (Die Abenteuer der Familie Mellops), veröffentlicht. Es ist ein sofortiger, preisgekrönter Erfolg, dem bis heute über 80 Kinderbücher gefolgt sind.
Ungerer macht Tiere zu den Helden seiner Geschichten: Schweine, Esel, Tintenfische oder Fledermäuse – mit streitenden Eltern und Alkoholflaschen auf den Küchentischen. In einem Interview gibt Ungerer einmal stolz zu Protokoll: »Keiner hat die Kinderbuchtabus so zerschmettert wie ich.« In dieser Zeit entsteht auch die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Diogenes Verlag, die bis zu seinem Tod anhalten wird. 1963 erscheint mit Die drei Räuber schließlich sein wohl berühmtestes Bilderbuch, das bis heute in mehr als 18 Sprachen übersetzt wurde.
Ungerers Unbeständigkeit und seine Tendenz, schnell von eingefahrenen Strukturen gelangweilt zu sein, bewahren ihn vor Routinen. Trotz zahlreicher persönlicher und künstlerischer Kurs- und Ortswechseln bleibt er immerhin für 14 Jahre in den USA, wo er sich in New York als Kinderbuchautor und -illustrator sowie als Grafiker für die Werbe- und Filmbranche einen Namen macht.
Er gestaltet Plakate für die New York
Times und gegen den Vietnamkrieg. Seine Illustrationen erscheinen in
namhaften Publikationen wie Life, Village Voice und Esquire. Seine Vorbilder sind nun die US-amerikanischen Cartoonisten wie Saul Steinberg, Chas Addams, James Thurber. Ungerer
knüpft Kontakte in die literarische Szene New Yorks, mit dem
Schriftsteller Philip Roth bewohnt er ein Ferienhaus auf Long Island. In
den 1960er-Jahren gelingt es Ungerer sogar, für einen handfesten
Skandal im prüden Amerika zu sorgen: Er veröffentlicht die Cartoon-Bände
Geheimes Skizzenbuch und The Party, in denen er die
New Yorker High Society, die Reichen, Intellektuellen und Schönen,
verspottet.
Und damit nicht genug: Es zieht ihn künstlerisch in eine
deutlich erotische Kunstrichtung mit expliziten Posen und unverhüllt
dargestellten sexuellen Praktiken. Diese zugegebenermaßen eigenwillige
Vermischung aus seiner Funktion als Kinderbuchautor und als Zeichner
ebendieser Illustrationen für Erwachsene ist den US-Amerikaner*innen suspekt und führt dazu, dass er von der Presse angegriffen wird und seine Publikationen in den USA wie auch in England aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt werden.
In
seiner späteren Sammlung von Aphorismen ist Ungerers humorvolle
Stellungnahme zu diesem (scheinbaren) Konflikt zu finden: »Eine Dame hat
mich angegriffen mit der Behauptung, jemand, der erotische Bücher
produziere, dürfe keine Kinderbücher machen. Ich habe geantwortet: Ohne
Sex keine Kinder.«
Nach 14 Jahren wird es Tomi Ungerer in New
York zu eng. Zusammen mit seiner mittlerweile dritten Ehefrau Yvonne
Wright und seinen Kindern verschlägt es Ungerer 1971 nach Neuschottland in Kanada, wo das
Gros seiner aquarellierten Illustrationen für Das Große Liederbuch
entstehen. Aber auch die politischen Verhältnisse, die Schwermut und der langsame Verfall Neuschottlands beschäftigen ihn: In Slow Agony (1983) blickt Tomi Ungerer auf das Sterben eines Fischerdorfs in Neuschottland, in seinem 1983 erschienenen Band Heute hier, morgen fort, fasst er intensive Zeichnungsfolgen zusammen, in welchen er über Zeit und Tod reflektiert.
Bald fasst die Ungerer den Entschluss, mit seiner Familie zurück nach Europa zu kehren. Seit 1976 lebt er – unterbrochen von einem Studienaufenthalt in
Hamburg, bei dem Beobachtungen des hiesigen Rotlichtviertels entstehen –
mit seiner Familie in der irischen Stadt Cork. Hier entfaltet er die
gesamte Breite seiner kreativen Schöpfungskraft: Er zeichnet weiter
erfolgreiche Kinderbücher, illustriert für Journale und Werbekampagnen,
entwickelt einen ernsthaften schwarzen Humor innerhalb politischer
Karikaturen, schreibt Bücher, erarbeitet Collagen und erschafft nebenbei
auch noch plastische Arbeiten. Seine Stilistik ändert sich von Projekt
zu Projekt.
Doch Ungerer gelingt es immer wieder, die Fantasie der
Betrachtenden mit nur wenigen Strichen zu beflügeln – sie zu bezaubern
oder abzustoßen. Er sprüht vor Einfällen – und behauptet dennoch, trotz
des hohen Arbeitstempos seiner Ideenflut niemals wirklich
hinterherzukommen. 2007 wird ihm als erstem lebenden Künstler
in Frankreich ein eigenes Museum gewidmet, das Musée Tomi Ungerer –
Centre international de l’Illustration in Straßburg. Der Grundstock
dafür stammt aus dem Besitz des Künstlers selbst.
Als Ungerer am 9. Februar 2019 schließlich in Cork stirbt,
hinterlässt er über 40.000 Zeichnungen, mehr als 140 Bücher und zahllose
Humoresken, Weisheiten und weitere kreative Erzeugnisse. In Erinnerung
bleibt er allen als extrem vielseitiger und produktiver Künstler, der
zur Provokation geboren war und immer genau das tat, was man gerade
nicht von ihm erwartete.
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Iris Haist ist promovierte Kunsthistorikerin mit den Schwerpunkten Comics sowie Zeichenkunst und Skulptur der Moderne und der Gegenwart. Sie arbeitet als leitende wissenschaftliche Fachkraft bei der Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung in Plauen.
Die Ausstellung TOMI UNGERER – IT'S ALL ABOUT FREEDOM ist bis zum 24. April 2022 in der Sammlung Falckenberg zu sehen.