Der letzte Romantiker
28. Mai 2019
Foto: © david baltzer / bildbuehne.de
28. Mai 2019
Christoph Schlingensief war kein Nachfolger der Moderne. »Eigentlich ist die gesamte Moderne Kunst eine zutiefst böse und aggressive Veranstaltung«, schreibt er in seinem Buch Ich weiß, ich war’s. Er stelle sich dem Gegenüber nicht als der Gute dar, nein, auch er wolle das Böse schildern, wenn dies in der Welt auf ihn einstürme. Was er aber vor allem tat, war mit Hilfe des Theaters, des Films, der Oper, der Musik, des Fernsehens und der politischen Aktion das Leben und die Kunst so stark ineinander zu verweben, dass der gespielte Wahnsinn bei ihm zum gelebten Wahnsinn wurde: »Man muss real werden lassen, was Politiker propagieren«. Schlingensief schuf ein Gesamtkunstwerk nach dem anderen. Die Musik Richard Wagners war darin ein wichtiger Bestandteil und wurde ihm zum Wegbegleiter – von Namibia ins Ruhrgebiet bis nach Bayreuth.
Während seiner Deutschlandsuche ‘99 suchte Schlingensief nach dem neuen Siegfried, auf der Theatertournee Wagner lebt – Sex im Ring und bei Straßenaktionen diskutierte er mit Passanten über Überlebensstrategien für Deutschland im 21. Jahrhundert. Auf der Suche nach dem deutschen Wesen beschallte er in Namibia eine ganze Robbenkolonie mit Wagnermusik. »Er hatte damals 100.000 Robben den Siegfried vorgespielt, um die Reaktion zu testen. Wie ein Versuchsaufbau«, erinnert sich seine Frau Aino Laberenz. 2004 veranstaltete er dann im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen die Wagner-Rallye, eine Aktion aus Autosport, Heimat-Quiz und Kunstereignis. Während ihrer Autorundfahrt durch das Ruhrgebiet mussten die Fahrer Aufgaben zu Wagner lösen, auf den Dächern der PKWs befanden sich Lautsprecher, die seine Musik ausstrahlten. »Überwältigende Musik, überwältigende Hilfsbereitschaft, überwältigende Überwältigung«, hieß es auf der eigens für die Aktion erstellten Homepage. Es war aber auch einfach ein großer Spaß: »Es war ganz bekloppt, auch eine Art Schnitzeljagd«, so Laberenz im Katalog der HYPER!-Ausstellung, wo drei Beispiele von Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Wagner zu sehen sind.
»Die Musik Richard Wagners wurde Schlingensief zum wichtigen Wegbegleiter – von Namibia ins Ruhrgebiet bis nach Bayreuth.«
»Schlingensief gelang es immer wieder Hochkultur auf witzige, aber auch bitterernste Weise in seinen Inszenierungen populärer Volksveranstaltungen einzubringen.«
Schlingensief gelang es immer wieder Hochkultur auf witzige, aber auch bitterernste Weise in seinen Inszenierungen populärer Volksveranstaltungen einzubringen. Aus diesem Grund müssen seine MTV-Show U3000 in der Berliner U-Bahn-Linie 7, die zahlreichen Theater- und TV-Inszenierungen mit Laien und Behinderten und seine Filme und Aktionen wie das Big-Brother-Format Bitte liebt Österreich zusammen gedacht werden. Schlingensief kreierte Erzählungen und Bilder nicht nur für die Kunstwelt, sondern auch für die breite Masse. »Ich bin hochromantisch«, bekundete Schlingensief. Das war mehr als nur eine Behauptung: Als Künstler bediente er sich essentieller Praktiken der Romantik.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verfolgten die Romantiker das Ziel, die Ideenvermittlung durch neue Mythologien unter das Volk zu bringen. Für Friedrich Schlegel und Novalis bedeutete »Romantisieren« die Grenzen zwischen Dichtung und Kunst sowie populärem Alltagsleben und Politik einzureißen. Große künstlerische und politische Gedanken bräuchten eine Form der Popularisierung – Symbole, Bilder, anschauliche Erzählungen und Volksmärchen. Poesie und Philosophie sollten mit Politik und dem wahren Leben fusionieren. Nichts anderes versuchte auch Christoph Schlingensief, indem er beispielsweise eigene TV-Formate bei Musiksendern wie MTV und VIVA ausprobierte. In den 90er- und 2000er-Jahren wurden hier die Märchen erzählt, die die Romantiker ihrer Zeit in der Volksliteratur ausmachten.
Die immer wiederkehrenden, dilettantischen Elemente in Schlingensiefs Theaterstücken repräsentierten das Leben in der Kunst. Oder umgekehrt. Auch der Ironie, ein wichtiges Stilelement in seinem Werk, schrieben die Romantiker als künstlerisches Werkzeug und divinatorische Kraft einen hohen Stellenwert zu. Der Schriftsteller Novalis bezeichnete die Technik des Romantisierens einmal als »Gemütererregungskunst«. In diesem Kontext wollte Richard Wagner einen revolutionären Mythos dichten, den Ring der Nibelungen. Er verwirklichte so den Traum der Frühromantiker einer neuen Mythologie. Wagner prägte den Begriff des Gesamtkunstwerkes unwiderruflich. In seinen Musikdramen sollte das Große, das Erhabene durch den Kunstgenuss körperlich spürbar werden.
Was Christoph Schlingensief in Interviews bereits Ende der 90er-Jahre in Interviews vorhergesagt hatte, wurde 2004 Wirklichkeit: Er wurde eingeladen, am Festspielhaus Bayreuth den Parsifal zu inszenieren. Das Musikdrama wollte er »von dem christlichen Schmier befreien« und tauschte die Erhabenheit gegen Hasenverwesungsfilme, Voodoo, Robben und ein ghettoähnliches Chaos ein. Den Wagner-Stoff machte sich Schlingensief »durch das ahnungslose Rangehen« zu eigen, ließ sich eher von seinem Instinkt als durch Kennerschaft leiten. »Das ist doch die Tür, die ich brauche. Deutschland will einen aber permanent dazu erziehen, dass man der Super-Experte sein muss«, sagte er in einem Gespräch mit Joachim Kaiser für die Süddeutsche Zeitung. Schlingensief mochte keine pompösen, einwandfreien Inszenierungen,
keine geniale Kunst-Erhabenheit. Stattdessen suchte er Inspiration in
Märchen und Mythen aus Afrika und Asien. Den Hasen, der in seiner
Bayreuth-Inszenierung auftaucht, führte er auf Joseph Beuys, ein Märchen
aus Namibia und die toten Hasen auf Afrikas Straßen zurück: Hochkultur,
Volkskultur und echtes Leben trafen mit Wucht aufeinander. Konflikte mit dem damaligen Festspielchef Wolfgang Wagner waren vorprogrammiert.
Ein Vorhaben, das Christoph Schlingensief sehr wichtig war, konnte er in seiner Parsifal-Inszenierung nicht umsetzen: Kurz vor der Gralsenthüllung im zweiten Akt wollte er
eine Pause von vier bis zehn Minuten einlegen. Die Pause sollte eine
metaphysische Kraft entfalten, dass sei »bei Wagner nicht anders als bei
Rockkonzerten«, so Schlingensief. Dieser Plan wurde ihm aber von der
Festspielleitung verwehrt.
Als
Schlingensief während der Parsifal-Inszenierung in Bayreuth künstlerisch
einmal nicht mehr weiterwusste, erbat er sich Hilfe vom Meister selbst: »Richard, hilf mir!«. Der besessene Komponist faszinierte ihn bis zu seinem Tod im Herbst 2010. Neben all den metaphysischen Fragen zum Gesamtkunstwerk und zur romantischen Praxis, bewegte die Musik Schlingensief aber vor allem auf körperliche, sinnliche Art. Ideen zu Wagners Musikdramen entwickelte Schlingensief
noch während seiner schweren Krebserkrankung: »Ich merke gerade, wie
gern ich weiterleben würde, auch um diesen „Tristan“ noch zu
inszenieren. Wie viel Spaß mir diese Arbeit machen würde«. In seinem Tagebuch einer Krebserkrankung beschreibt Schlingensief die spirituelle Wirkung der Ouvertüre zu Tristan und Isolde
als rauschhaft-spirituellen Moment. Ehemalige Weggefährten und
Familienmitglieder erscheinen dem Künstler wie in einer Vision am
Krankenbett. Unter ihnen befindet sich auch Richard Wagner. Bevor er sich schlafen legt, notiert Christoph Schlingensief: »Meine Brust
tat weh, aber es war wunderschön«.
Larissa Kikol ist promovierte
Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als freie Kunstkritikerin und
Dozentin. Sie lebt und arbeitet in Marseille und Köln.
Die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC ist bis zum 4. August in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.
»Als Schlingensief während der Parsifal-Inszenierung in Bayreuth künstlerisch einmal nicht mehr weiterwusste, erbat er sich Hilfe vom Meister selbst: "Richard, hilf mir!"«