Der urban space als Bühne
18. Oktober 2018
© Maciej Dakowicz
18. Oktober 2018
Auch wenn die US-amerikanische Modefotografin Diane Arbus mit dem glitzernden und schönen Leben ihr Geld verdiente, fand sie Gefallen an dem, was bisher nicht fotografiert worden war und was nicht in den Modestrecken der Magazine auftauchte. Sie war auf der Suche nach Menschen mit Defekten und Makeln: Ihre Modelle führten als Nudisten, Transvestiten und behinderte Menschen ein Leben im Verborgenen. Ihre Werke geben Einblick in das private Leben von Menschen, die bis zu der »New Documents«-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art 1967 im öffentlichen Leben nicht auftauchten. Sie selbst sagte: »Ich glaube, dass es Dinge gibt, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografierte.« Ihre stolzen Porträts, in denen die Modelle sich trotz ihrer Makel offen und damit verletzbar zeigen, lösten eine im besten Fall verständnislose Reaktion aus.
Auf der Fotografie A young Brooklyn family going for a Sunday Outing, N.Y.C. 1966 sieht man eine junge Familie: Auf dem Arm hält die Mutter ein Baby und schaut zusammen mit dem Mann an ihrer Seite in die Kamera. An der Hand hält er seinen Sohn, der nicht direkt in die Kamera schauen kann, weil er möglicherweise in seinem Sehen beeinträchtigt ist. Oder ist es nur eine unglückliche Aufnahme?
Die amerikanische Kunstkritikerin Susan Sontag stellt fest, dass es zu Arbus’ Talenten gehörte, ihren Sujets »Geistesverwirrung« anzudichten. Die leichte Untersicht und die angeschnittenen Beine der Familie zwingen den Betrachter in eine distanzlose Haltung. Zugleich betont Arbus damit das »Andersartige«, das »Abweichende« von der ansonsten durchschnittlich wirkenden Familie in ihrer Sonntagsgarderobe.
Der Betrachter des Bildes befindet sich in einem inneren Konflikt: Man sieht auf den ersten Blick ein idyllisches Familienideal und fragt sich schließlich, wieso Arbus, die Unmengen von Filmmaterial belichtete, ausgerechnet diesen Abzug wählte. Ihre Arbeiten irritieren: Die Eltern schauen zuversichtlich resigniert, aber aufrichtig in dieKamera. Damals war man erstaunt darüber, wie wenig Scheu sie sie gegenüber der Öffentlichkeit zeigten und wie es gelingen konnte, dass sie sich so vertrauensvoll mit all ihren Makeln in Arbus’ Obhut begaben und sich damit so verletzbar in der Öffentlichkeit präsentierten.
Diane Arbus spielte mit der Zuversicht und der Erwartung ihrer Modelle an einen Fotografen. Arbus war dafür bekannt, ihren Modellen zu schmeicheln und ermunterte sie, sich selbst zu inszenieren. Doch wer inszeniert hier eigentlich wen? Es gibt die Geschichte von einem ihrer Fotos, auf dem sie zwei minderjährige Zwillinge fotografierte. Die Eltern widersprachen der Veröffentlichung. Arbus überging das und zeigte das Foto trotzdem.
»Man begegnet dem aufrichtigen Blick der Modelle und sieht genau das, von dem man schon als kleines Kind beigebracht bekommen hat: den Blick abzuwenden und zu übersehen.«
»Nur im Krieg ist Voyeurismus mit Gefahr verbunden«,
sagte Arbus einmal. Jedoch ist der Akt des Fotografierens mehr als nur
passives, voyeuristisches Beobachten. Bei den von Arbus porträtierten
Modellen decken sich Selbstdarstellung und Selbstpräsentation nicht.
Genau das stellt Arbus in den Vordergrund: Ihr Interesse gilt der Kluft
zwischen der Selbstinszenierung ihres Modells und dessen eingeschätzter
Wirkung auf die Außenwelt. Arbus ermuntert ihre Modelle, sich vor der
Kamera zu positionieren. Damit geben sie sich genauso, wie sie gesehen
werden wollen und entlarven sich selbst. Genau diesen Moment wartet die
Fotografin ab, um dann auf den Auslöser zu drücken.
Auf Arbus' Arbeiten schaut man nicht »ungestraft«, vielmehr macht
sich der Betrachter »mitschuldig«. Man begegnet dem aufrichtigen Blick
der Modelle und sieht genau das, von dem man schon als kleines Kind
beigebracht bekommen hat: den Blick abzuwenden und zu übersehen. Bei
Arbus’ Arbeiten hat das nicht perfekte Modell hat nicht nur
eingewilligt, porträtiert zu werden, es gewinnt dadurch an Sicherheit
und Würde. Das war das Aufsehenerregende an Arbus’ Werken. Aus
heutiger Sicht wirken ihre Arbeiten eher visionär als skandalös. Ihre
ungeschönten Modelle wollen kein Mitleid erregen. Sie zeigen sich
würdevoll, so wie sie sind und überzeugen durch ihre Authentizität.
Heute, fast 60 Jahre später, treffen ihre Fotos genau den Puls der Zeit.
Der Seismograph der öffentlichen Wahrnehmung schlug ebenfalls aus,
als der polnische Fotograf Maciej Dakowicz seine zwischen 2005 und 2011
gesammelten Arbeiten aus dem Nachtleben Cardiffs präsentierte. Man sieht
Menschen auf der St. Mary Street an einem Samstagabend torkeln, auf
allen Vieren kriechen, mit blutverschmiertem Gesicht, in obszönen Posen,
vom Müll umringt und im Müll liegend. Der glamouröse Teil der Nacht
liegt hinter ihnen, unbedarft torkeln sie über die Straße und sind auf
eine Kamera nicht gefasst und vorbereitet. Sie agieren so, wie man
agiert, wenn man sich unbeobachtet fühlt. Sie bemerken nicht, dass dort
ein Fotograf mit einer Kamera steht, der sehr genau hinschaut. Auf einem
der Fotos stützt sich ein Betrunkener müde mit beiden Armen auf einen
Abfalleimer und scheint dort zu schlafen. Um ihn herum liegen Mülltüten
und Essensreste. Auf der Mülltonne ist ein Schild mit rotem Drachen und
der Schrift »Cardiff« und »Caerdydd« angebracht.
Erst, wenn man sich mehrere Fotos von Dakowicz angesehen hat,
überrascht man sich mit dem Gedanken, ob diese Menschen überhaupt so
fotografiert werden wollten. Möchte man selbst in dieser Situation
fotografiert werden? Nach einer durchfeierten Nacht, auf dem Weg nach
Hause, möglicherweise im angetrunkenen Zustand? Es fallen einem dann
einige Situationen ein, die man nur dunkel in Erinnerung hat und ist am
Ende ganz froh, dass es davon keine Fotos gibt. Wozu hätte man sich
möglicherweise hinreißen lassen?
Man kann sich in die Betrunkenen auf Dakowicz’ Bildern sofort
einfühlen. Natürlich sind sie nicht darauf gefasst, fotografiert zu
werden. Natürlich spielt ihnen ihre Selbstwahrnehmung einen Streich.
Dennoch: Ein bisschen schämt man sich sogar für sie. Anders als bei Arbus entsteht bei
Dakowicz’ Arbeiten der Eindruck, dass die abgebildeten Personen nicht
immer ihr Einverständnis für das Foto gegeben haben könnten. Taten sie
es doch, war ihre Hemmschwelle aufgrund ihres Alkoholpegels
möglicherweise nicht hoch genug war, um »nein« zu sagen. Genau diese
Chance nutzte Dakowicz und drückte auf den Auslöser.
Die Lage wäre nicht so ernst gewesen, wäre der rote Drache auf dem
Mülleimer nicht im Wappen von Wales abgebildet. Mit dem Drachen zusammen
wird der Betrunkene zum Symbol des Landes, die St. Mary Street zum
Stellvertreter für die vermeintliche britische Trink- und Feierkultur.
2009 druckte die Boulevardzeitung The Daily Mail erstmals Dakowicz’
Fotos zum Thema »Binge Britain«, die Internetseit Mail Online greift die
Bilder 2011 in einer großangelegten Fotoreportage wieder auf. »Captured
on our streets by a foreign lens«, empört sich der Autor und attestiert
England eine »Schockstarre«, in der es sich angesichts der Zustände in
der St. Mary Street befinde. Das Medienecho war gewaltig. Mit seinen
Arbeiten lieferte Dakowicz die Bilder, die bisher zur Diskussion noch
gefehlt hatten: Sie waren der gefundene fotografische Beweis dafür, dass
der Konsum von Alkohol bei jungen Leuten offenbar außer Kontrolle
geraten war. Auch wenn Dakowicz später darauf hinwies, dass die
Bildunterschriften der Daily Mail seine Fotos missverständlich
erscheinen lassen, änderte die Redaktion sie nicht ab.
Dakowicz' Arbeiten polarisieren. Sie präsentieren eine private, aber
im öffentlichen Raum stattfindende Situation. Als Fotograf geht
Dakowicz einen Schritt weiter als Arbus: Nicht nur lässt er in
voyeuristischer Weise dem nächtlichen Geschehen freien Lauf und macht
davon unbemerkt Fotos. Er zeigt diese Fotos der ganzen Welt.
Die Frage, wer Herr der Lage ist, stellt sich bei Dakowicz ganz anders: Nicht nur ist er den Modellen gegenüber überlegen, indem er sich unbemerkt als Fremder unter sie mischt und sein Vorhaben verhüllt. Zudem nutzt er ihre niedrige Hemmschwelle aus. Heute zieht ein Fotograf im städtischen Raum keine Aufmerksamkeit mehr auf sich. Er bleibt unsichtbar, erst recht, wenn es dunkel ist.
Eine Kamera gehört heutzutage zum Alltag. Ein Fotograf auf der Straße
fällt nicht mehr auf, auch weil die Kameras heute kleiner und weniger
auffällig sind. Das Smartphone macht jeden zum Fotografen und alles und
jeden zum potenziellen fotografischen Objekt. Wer im städtischen Raum
agiert, wird Teil der Öffentlichkeit. Er bleibt unsichtbar, erst recht,
wenn es dunkel ist. Die Arbeiten von Dakowicz sind so spannend und
skandalös, gerade weil beziehungsweise indem sie diese Grenze zwischen öffentlichem
und privatem Raum sichtbar machen. Unsere Wahrnehmung, die Reaktion
englischer Zeitungen auf die Bilder, sind der Ausdruck für das
Überschreiten von Grenzen.
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass die Grenze zwischen privatem
und öffentlichem Raum verwischt. Fragt man sich nun, wie sich der urbane
Raum seit Diane Arbus verändert hat, so könnte man die Privatsphäre
anführen: Sie hat sich in die Außenwelt verlagert. Arbus musste für ihre
Fotos mit den Modellen sprechen, sie bitten, mit in ihre Wohnungen
kommen zu dürfen. Dakowicz braucht sich diese Mühe gar nicht zu machen:
Er mischt sich unbemerkt unter die Menschen und beginnt zu
fotografieren.
Sonja Baer ist freie Autorin. Sie hat Kunstgeschichte in Hamburg und Indonesien studiert.
»Die Arbeiten von Dakowicz sind so spannend und skandalös, gerade weil sie die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum sichtbar machen.«