»Die Bakterien haben mitgespielt«
7. Dezember 2023
FOTO: © EXCELLENZ CLUSTER MATTERS OF ACTIVITY
7. Dezember 2023
Frau Hengge, so oft kommt es nicht vor, dass Wissenschaftler*innen und Künstler*innen gemeinsam an Projekten arbeiten. Ich habe gehört, dass Sie und Kathrin Linkersdorff sich über Instagram kennengelernt haben. Ist das richtig?
Ja, das ist tatsächlich so. Ich habe ihre Instagram-Seite entdeckt und war ganz begeistert. Dann hat sie nachgeschaut, wer da ihre Bilder so offensichtlich begeistert liked und hat gemerkt, dass ich Mikrobiologin bin. Das hat sie interessiert und dann hat sie mir einfach eine Nachricht geschrieben. Das war alles noch während der Pandemie, deshalb hat es etwas gedauert, bis wir uns auch mal getroffen haben. Das Labor konnte man zu der Zeit auch nicht gemeinsam betreten, aber wir haben uns viel ausgetauscht. Ich habe überlegt, ob wir zusammenarbeiten könnten und wie ich mit meinen Bakterien etwas dazu beitragen könnte. Diese Möglichkeit fand ich sehr spannend und kam dann auch schnell auf eine Idee.
Könnten Sie kurz schildern, was Sie üblicherweise machen, wenn Sie nicht mit Künster*innen zusammenarbeiten?
Meine Forschung befasst sich mit Biofilmen, großen Gemeinschaften von Bakterien, die zusammenbleiben, wenn sie sich teilen, und auf Oberflächen zu finden sind. Um sich anzuheften und sich zu schützen, umgeben sie sich mit einer klebrigen Schicht aus faserartigen Makromolekülen, der extrazellulären Matrix. Diese beschützt die Bakterien zum Beispiel vor dem Angriff mit Antibiotika – die Bakterien sind in einer solchen Gemeinschaft also antibiotikatolerant. Das kann im menschlichen Körper zu chronischen Infektionen führen – chronisch deshalb, weil man sie mit Antibiotika eben nicht beseitigen kann. Das Behandeln dieser chronischen Infektionen ist eines der großen medizinischen Probleme. Deshalb müssen wir herausfinden, wie diese Biofilme funktionieren, wie sie entstehen und wie man gegen sie vorgehen kann, zum Beispiel mit Wirkstoffen, die man in der Natur findet – denn alle Makroorganismen, also auch Pflanzen und Tiere, müssen Strategien haben, die verhindern, dass Bakterien auf ihren Oberflächen in kaum kontrollierbaren Biofilmen wachsen.
Das klingt sehr spannend, allerdings habe ich noch nicht verstanden, wie Sie auf die Idee kamen, zu Frau Linkersdorff zu sagen: Wir machen etwas zusammen.
Ich bin sehr kunstaffin und komme aus einer Künstler- und Designer-Familie. Ich bin sozusagen die Ausreißerin und entsprechend vorgeprägt. Kathrins Bilder von den Pflanzen fand ich einfach unheimlich schön und zugleich fand ich das dahinterstehende Wabi-Sabi-Konzept sehr interessant. Darin geht um die Schönheit in der Vergänglichkeit und in Momenten des Zerfalls. Nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen und nichts ist perfekt. Kathrin hilft nach, indem sie die Pflanzen entfärbt und dadurch ihre wunderbaren inneren Strukturen offenlegt. In dieser Zeit hatte ich außerdem gerade einen großen Artikel geschrieben über Nachhaltigkeit und Kreislaufprozesse in der Natur – im Gegensatz zu unserer modernen Lebensweise, die nicht zirkulär ist, was zu Ressourcenerschöpfung und Abfallanhäufung führt.
Sie waren für das Thema sensibilisiert.
Genau. Kathrin schaut vor allem auf die Zerfallsprozesse und ich dachte mir: Was wäre, wenn wir auf dem Zerfallsprozess einen Wachstumsprozess obendrauf setzen, damit es zirkulär wird? Dabei stellte sich heraus, dass sie auch schon über organische Zerfallsprozesse nachgedacht hatte, indem sie Pflanzen oder Früchte zum Verrotten in Erde steckte. Und ich meinte: »Schau mal, da zerfällt ja nicht nur etwas, sondern sobald du organische Prozesse hast, wächst auch etwas. Das ist dann ein Kreislauf.« Wir brauchten also Bakterien, die auf den abgestorbenen Pflanzen von Kathrin wachsen, das heißt Zellulose abbauen können. Das ist gar nicht so häufig, aber im Boden gibt es bestimmte Bakterien, die das können. Außerdem sollten es Bakterien sein, die auch noch möglichst visuell attraktiv sind, indem sie zum Beispiel Pigmente herstellen. Da bin ich auf die Streptomyceten gekommen. Das sind überall vorkommende harmlose Bodenbakterien, die bunte Pigmente herstellen, die gleichzeitig Antibiotika sind. Sie haben einen sehr interessanten Lebenszyklus und besitzen ein Enzym, das Zellulose abbauen kann. Damit sollten sie eigentlich auf Kathrins Pflanzen wachsen können.
Aber ob es wirklich funktioniert, wussten Sie nicht?
Nein, denn es ist sehr komplex, diese Bakterien mit diesen Pflanzen
zusammen zu bringen. Abgesehen davon geht man in der wissenschaftlichen
Forschung üblicherweise anders vor: In der Forschung wird
standardisiert und vereinfacht, indem alle Parameter möglichst konstant
gehalten werden. Man variiert nur eine einzige Bedingung, um zu sehen,
wie die Systeme darauf reagieren. Was wir hier vorhatten, war aber so
komplex, dass es noch niemand versucht zu haben schien. Ich habe
jedenfalls keine einzige Publikation gefunden, in der beschrieben wurde,
dass jemand Streptomyceten auf verrottendem Pflanzenmaterial hat
wachsen lassen. Es gab also viele große Fragezeichen, aber wir haben es
einfach ausprobiert. Und die Bakterien haben tatsächlich mitgespielt.
Dann stellt sich mir direkt die Frage, ob das Projekt mit Frau Linkersdorff auch einen wissenschaftlichen Wert hat.
Im Verlauf dieses Prozesses haben wir auf unseren Petrischalen
tatsächlich eine Reihe von interessanten Beobachtungen gemacht, die zum
Ausgangspunkt neuer wissenschaftlicher Forschungsprojekte werden
könnten. Kathrin denkt ohnehin sehr systematisch, fast wie eine
Wissenschaftlerin. Für sie zählen nicht nur die Fotos, die am Ende dabei
herauskommen, sondern der gesamte Prozess, der dorthin führt. Zudem
habe ich eben auch Interesse an der Kunst und wir treffen uns da
sozusagen in der Mitte. Für mich war es immer schon klar, dass
Wissenschaft auch eine künstlerische Seite hat, zumindest die hypothesengetriebene Forschung. Eine Hypothese ist im Prinzip ein Szenario, das
mit allem kompatibel sein muss, was man bislang zu der Fragestellung
weiß, aber darüber hinaus geht. Eine Hypothese macht also auch einen
Schritt ins Unbekannte und man stellt sich vor, wie es sein könnte. Bei
diesem Schritt ins Unbekannte benötigt man Intuition und Fantasie und
ist völlig frei. Dieses erfundene Szenario muss sogar sehr detailliert
sein, um es anschließend mit Hilfe von präzisen Experimenten testen zu
können. Die Hypothesenbildung ist der künstlerisch-kreative Anteil der
Wissenschaft und da gehen Wissenschaftler*innen nicht anders vor als
Künstler*innen. Eine Künstlerin macht das im Grunde die ganze Zeit und ist
sehr viel subjektiver und intuitiver als ein Wissenschaftler, der in den
anderen Teilen des Forschungsprozesses dann wieder strikt logisch sein
muss.
Kathrin Linkersdorff ist ja studierte Architektin, kommt also auch
nicht direkt aus der Kunst. Merken Sie diesen Hintergrund bei ihr?
Ja, das merke ich an ihrer Arbeit im Labor. Sie hat extrem schnell
begriffen, wie man dort vorgeht, wie man steril arbeitet, warum man
gewisse Handgriffe machen muss und warum man bei bestimmten Schritten
bestimmte Instrumente braucht. Ich musste ihr das nicht lange erklären,
sie hat das direkt verstanden. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass
sie diesen Hang zum Systematischen und den technischen Hintergrund aus
der Architektur besitzt.
Ich höre heraus, dass diese Zusammenarbeit nicht in Frau Linkersdorff Atelier stattgefunden hat, sondern bei Ihnen im Labor.
Das stimmt. Kathrin Linkersdorff ist inzwischen offizielle
Mitarbeiterin bei mir im Labor als Gastforscherin. Sie ist in alle
technischen und sicherheitsrelevanten Aspekte eingewiesen und kann und
darf selbstständig arbeiten.
Über welchen Zeitraum haben sie zusammengearbeitet?
Konkret im Labor angefangen haben wir im Januar dieses Jahres,
vorher ging es wegen der Corona-Bestimmungen nicht. Das war eine kurze
Zeit und wir wussten anfangs nicht, ob es klappt, ob da etwas wächst und
wie es aussehen würde. Dabei stand der Termin für die Ausstellung in
den Deichtorhallen Hamburg schon fest. Aber ich habe darauf vertraut,
dass uns die Bakterien nicht im Stich lassen würden.
Neben den wissenschaftlichen und künstlerischen Aspekten kommt ja
auch noch der ästhetische Aspekt hinzu. Die Fotografien, die daraus
entstanden sind, zeigen nicht unbedingt das, was man da in den Schalen
so direkt sieht. Wie weit entfernen sich Frau Linkersdorff Bilder von
dem, was man tatsächlich im Labor sieht?
Das, was wir in unseren Petrischalen sehen, ist fast Eins zu Eins
das, was sie später auf ihren Fotografien zeigt. Natürlich ist es
technisch fantastisch aufgenommen und sie verwendet dabei ein Verfahren,
das ebenfalls aus der Wissenschaft stammt. Da es sich bei den Fotos um
Makroaufnahmen handelt, hat man in der einzelnen Aufnahme eine sehr
geringe Tiefenschärfe. Um die Tiefenschärfe zu erhöhen, macht sie bis zu
50 Aufnahmen in minimal unterschiedlichen Höhenabständen, also mit
unterschiedlichen Fokussierebenen. Das bedeutet, dass diese Bilder an
unterschiedlichen Stellen scharf sind. Der Computer sucht dann die
scharfen Bereiche und kombiniert sie. Das erzeugt diesen
hyperrealistischen Eindruck. Wenn Sie vor der Schale stehen, sehen Sie
das, was Sie auch auf dem Foto sehen. Nur um das zu erreichen, braucht
man eben viele Aufnahmen – mit einem Bild wäre das gar nicht möglich.
Diese Prozesse, die Sie unter Laborbedingungen herbeigeführt und
untersucht haben: Könnten Sie auch so in einer natürlichen Umgebung
stattfinden?
Ja, das sind genau die Prozesse, die im Boden stattfinden. Dort
wird ja ständig Pflanzenmaterial umgesetzt von Bakterien und Pilzen,
also von Mikroorganismen. Und da läuft genau das ab, was wir auf unseren
Petrischalen visualisieren. Nur, dass es sonst im dunklen Boden
geschieht. Und auch die Streptomyceten sind die hauptsächlich
zuständigen Bakterien im Boden. Wir haben also im Grunde genommen nichts
anderes gemacht als die im Boden stattfindenden, sehr komplexen
Turn-Over-Prozesse auf die Petrischale zu transferieren. Mit Turn-Over
meint man im Prinzip von Werden und Vergehen, dass organisches Material
in einem Kreislaufprozess umgesetzt wird. Und die Petrischale wird dafür
quasi unsere Bühne, auf der unsere Bakterien und manchmal auch spontan
hinzu gekommene Schimmelpilze ‚performen‘. Und wir lassen Ihnen alle
Freiheiten: Wir bringen Sie mit den Pflanzen zusammen und schauen
einfach, was passiert. Das Ergebnis sind die Bilder, die sehr ästhetisch
sind, die aber eben auch visualisieren, was in einem intakten und
gesunden Boden abläuft. Und was in vielen unserer heutigen Ackerböden
nicht mehr oder nicht mehr in dem Maße geschieht, weil sie zu geringe
organische Anteile haben und mit chemischen Herbiziden, Fungiziden und
Insektiziden verseucht sind. Die Folge ist, dass Böden ihre Fähigkeit
verlieren, Kohlenstoff zu binden und Wasser zu speichern, und ihre
Fruchtbarkeit reduziert wird.
Sie haben Kathrin Linkersdorff in ihrem Atelier besucht und meinten, dass es aussehe wie eine botanische Wunderkammer.
Ihr Atelier sieht schon sehr ungewöhnlich aus. Es ist vollgestopft
mit Pflanzen, die überall hängen und trocknen. Es gibt ganz
unterschiedliche Tulpen, Erbsenpflanzen, Orchideen und riesige
Lotusblätter. Und es duftet ganz wunderbar. Es sieht eher wie der
Arbeitsplatz einer Botanikerin als der einer Fotografin aus. Das fand
ich sehr bemerkenswert.
Sie sind nicht nur Wissenschaftlerin, sondern fotografieren auch
selbst und auf Ihrem Instagram-Kanal erkennt man, dass Sie auch in
Serien arbeiten.
Das hat tatsächlich auch mit meiner Arbeit zu tun. Im Rahmen des
Exzellenz-Clusters Matters of Activity arbeite ich seit einigen Jahren sehr
interdisziplinär mit Wissenschaftler*innen aus anderen Fachgebieten
zusammen. Ich habe sogar einige Designer*innen bei mir im Labor, die
sich für organische, nachwachsende Materialien interessieren und damit
arbeiten. Kathrin Linkersdorff ist also nicht die einzige
Nicht-Wissenschaftlerin bei mir im Labor (lacht).
Woher kommt ihre Begeisterung für die Fotografie?
Ich selbst
fotografiere, seit ich neun Jahr alt war und meine erste Kamera von
meinem Vater geschenkt bekommen habe – der war Werbegrafiker und
Fotograf. Mich haben schon immer Strukturen, Texturen und Dinge mit
einer starken Materialität interessiert, wie die Zusammenhänge zwischen
Material und Form und, in der Biologie, Funktion und intrinsischen Codes
sind. Mit meinen Kollegen untersuche ich das wissenschaftlich, aber in
der Fotografie gehe ich sehr intuitiv vor. Ich fotografiere etwas, was
mich anspricht und so entstehen die Serien. Die Wissenschaftlerin in mir
beginnt dann, das zu analysieren: »Was habe ich da eigentlich
fotografiert und warum? Welche Fragestellung steckt dahinter und ist es
vielleicht eine Fragestellung, die mich generell beschäftigt?«. Ich lerne
durch meine Fotografien also etwas über mich und über das, was mich
beschäftigt, aber ich verstehe auch die erwähnten Zusammenhänge besser.
Das ist so eine Art künstlerische Forschung, die mir im weitesten Sinne
bei meiner Materialforschung hilft.
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Regine Hengge ist Professorin für Mikrobiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet an der Erforschung der Stressverarbeitung von Bakterien und der Bildung von Biofilmen. Sie ist Projektleiterin im Exzellenz-Clusters Matters of Activity. 1998 wurde sie mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ausgezeichnet.
Damian Zimmermann (*1976) lebt und arbeitet als Journalist, Kunstkritiker, Fotograf, Kurator und Festivalmacher in Köln.
Die Ausstellung KATHRIN LINKERSDORFF – WORKS ist bis zum 21. Januar 2024 im PHOXXI zu sehen.