»Die Kunstfreiheit ist ein
großes Privileg«
5. Juli 2024
FOTO: PHILIPP MEUSER
5. Juli 2024
Herr Luckow, in der Ausstellung SURVIVAL IN THE 21st CENTURY sorgt ein Beitrag der Künstlergruppe New Red Order (NRO) für Aufsehen und Unruhe. So hat die Gruppe ihre Installation kurzfristig um ein politisches Statement ergänzt, in dem die Ermordung Indigener in den USA, der Holocaust und das aktuelle Vorgehen Israels im Gaza-Streifen parallelisiert werden. Dass das für sehr viele in Deutschland eine krasse Entgleisung darstellt, steht außer Frage, Protest dagegen war also vorhersehbar. Warum haben Sie diese Ergänzung dennoch zugelassen?
Es war das Ergebnis eines sehr schwierigen, auch kontrovers mit den Künstlern geführten Entscheidungsprozesses. Alles, was wir in den letzten Wochen vor der Eröffnung dazu unternommen haben, war eine Gratwanderung. Wir wollten das Rechtsgut ‚Kunstfreiheit’ nicht verletzen, aber natürlich auch keiner antisemitischen Haltung eine Bühne bieten.
Daher haben wir uns während dieses Prozesses entschieden, den Vorschlag der Künstler für eine Doppelstrategie zu akzeptieren. Wir zeigen die Arbeit im Ganzen, distanzieren uns aber zugleich mit einem Wandtext von dem Inhalt der Tafel. Gleichzeitig diskutierten wir diesen Vorschlag auch mit kompetenter Berater*innen wie der Vorstandsvorsitzenden des Vereins zur Förderung des Israel Museum, Sonja Lahnstein-Kandel, oder Mirjam Zadoff, der Direktorin des NS-Dokumentationszentrum München*.
Ihre Strategie, das Statement zu zeigen und sich zugleich
davon zu distanzieren, zeugt für mich davon, dass Sie die Deichtorhallen
als einen Ort verstehen, an dem ein möglichst breites Spektrum an
Positionen – und politischen Meinungen – zur Diskussion gestellt werden
soll – ausdrücklich auch Meinungen, mit denen Sie, die Kurator*innen
oder auch die Geldgeber sowie die Mehrheit der Politiker*innen überhaupt
nicht übereinstimmen. Entscheidend ist aber, dass sich in der
Ausstellung selbst alle Beteiligten und alle Besucher*innen sicher
fühlen müssen. Ein Statement wie das von NRO stößt viele vor den Kopf,
doch mit Ihrer Distanzierung geben Sie zugleich die Garantie, dass bei
Ihnen niemand von einer antisemitischen Ansicht eingeschüchtert oder
bedroht, in der eigenen Freiheit eingeschränkt wird.
Ja, wir
wollen mit dieser Entscheidung signalisieren, dass wir das hinzugefügte
Schild zwar als Teil des Kunstwerkes respektieren, aber auch als
direktes politisches Statement wahrnehmen, was unserer institutionellen Verantwortung und Neutralität widerspricht. Wir wollten klipp und klar
signalisieren, dass wir diese wahren und zugleich den Raum für Gespräche öffnen. In der Ausstellung sind auch jüdische Positionen vertreten, denen wir mit unserer
Distanznahme deutlich zu verstehen geben, dass sie sich mit ihren Beiträgen bei uns in einem geschützten Raum bewegen. Wir wollen als
internationales Haus einen allseitigen Kunstaustausch fördern. Dabei haben jegliche Formen der
Diskriminierung bei uns
keinen Raum, so auch in unserem Code of Conduct verankert.
Es wird Ihnen nun vorgeworfen, dass Sie es
sich mit der Distanzierung von dem Text von NRO zu leicht machen, andere
Stimmen sehen in Ihrem Vorgehen ein zukünftiges Modell, wie mit solchen
Konfliktsituationen umgegangen werden kann. Auch für mich ist Ihr
Vorgehen, gerade im Vergleich damit, wie andere Institutionen zuletzt in
ähnlichen Fällen gehandelt haben, ein ‚best practice‘-Beispiel. Sie
erkennen damit den hohen Rang der Kunst- und Meinungsfreiheit an, nehmen
letztere aber für sich als Institution genauso in Anspruch, wie Sie sie
den Künstler*innen zugestehen. Aber nochmal nachgefragt: Wie genau
schätzen Sie die Rolle der Kunstfreiheit in dem Zusammenhang ein?
Die
Grenzen, die genaue Trennlinie der Kunstfreiheit, was sie alles
einschließt oder eben nicht, wo sie anfängt und aufhört, ist nicht
einfach zu bestimmen und vom jeweiligen Kontext abhängig. Künstler*innen
dürfen ihre Meinung äußern, solange diese keinen Straftatbestand
darstellt oder die Grundrechte Dritter, wie die Menschenwürde oder das
allgemeine Persönlichkeitsrecht, verletzt. Die Kunstfreiheit ist also
kein Freibrief für jegliche Meinung. Andererseits ist das Recht auf
künstlerische Freiheit ein zentraler Wert, den wir schützen wollen, eben
weil wir uns als einen Ort des internationalen kulturellen Austauschs
sehen, der zugleich Pluralität und demokratische Werte spiegelt.
Welche
Rolle spielen dabei die Erfahrungen der documenta fifteen oder der
Berlinale, aber auch Entwicklungen bei der UNO und beim Internationalen
Strafgerichtshof?
All diese zum Teil ja bitteren Erfahrungen
sind für uns wichtig, um zu entscheiden, wie wir mit einer solchen
Situation in der eigenen Institution vor dem Hintergrund der aktuellen
politischen Weltlage oder auch vielschichtiger kultureller Prozesse
insbesondere bei der Frage nach einer multidirektionalen
Erinnerungsarbeit umgehen wollen. Wie können wir Antisemitismus
vermeiden und dennoch einem heute selbstverständlichen postkolonialen
Denken Raum verschaffen? Ich stehe jedenfalls auf dem Standpunkt, dass
die aktuelle Regierung Israels durchaus kritisiert werden darf – so wie
jede andere Regierung auch. Ich verstehe es aber nicht, wenn die
kriegerische, menschenverachtende Politik der Hamas nicht im gleichen Atemzug an den Pranger gestellt wird.
Welche
Konsequenzen sehen Sie in diesen Herausforderungen für Ihre Arbeit in
den Deichtorhallen als internationale Kunsteinrichtung?
Wir
vertreten die Auffassung, dass man sich von einzelnen
künstlerischen Äußerungen distanzieren kann, aber auch Positionen
ertragen muss, die nicht die eigenen sind, besonders wenn Künstler*innen aus anderen kulturellen
Kontexten kommen und selbst von Völkermord- und Verfolgungsgeschichte
betroffen sind. Dass wir uns nun als Ausstellungshaus gemeinsam mit den eingeladenen Kuratoren von einem Kunstwerk distanzieren, um zugleich zu entscheiden, es zu zeigen, ist so in
der bald 35-jährigen Geschichte der Deichtorhallen noch nie vorgekommen. Das verdeutlicht, wie hochgradig politisch
aufgeladen die Situation für die Kulturhäuser aktuell ist.
Gerade
bei Großveranstaltungen mit Beiträgen aus unterschiedlichen Teilen der
Welt wurde zuletzt immer wieder deutlich, dass man in einzelnen Ländern
oft ganz andere Prioritäten hat, wenn es um Antisemitismus, Rassismus
oder Kolonialismus geht. Diese Prioritäten ergeben sich aus den jeweils
spezifischen Erfahrungen. Würde man diese Vielfalt nicht zulassen,
sondern den eigenen Standpunkt gleichsam absolut setzen, wäre das Ende solcher globalen Großveranstaltungen. Die Kunstwelt würde dann aber
um Jahrzehnte zurückgeworfen. Gewiss gibt es Leute, die das gerne
sähen, aber sicher nicht, weil es ihnen um die Kunstfreiheit geht.
Vielmehr wollen sie, dass nur die eigene Kultur repräsentiert wird. Wer
einen derartigen Backlash vermeiden will, muss also handeln wie Sie: den
eigenen Standpunkt klar kenntlich machen, zugleich aber den Raum offen
lassen für andere Standpunkte – sofern diese nicht ihrerseits aggressiv
vorgetragen werden. Die Frage ist nur, wie man sich künftig verhält,
wenn eine solche Doppelstrategie immer wieder auf heftige Proteste
stößt. Haben Sie grundsätzlich auch die Sorge, dass viele
Verantwortliche in den Kunstinstitutionen dann mürbe und müde werden
könnten?
Die Kunstfreiheit, das Demonstrationsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung sind in Deutschland stark verankert. Das ist ein großes Privileg. Gleichzeitig sehen sich viele Institutionen in Deutschland aktuell vermehrter Kritik, Anfeindungen und sogar körperlicher Gewalt ausgesetzt. Die Kunstwelt ist ingesamt sehr polarisiert, es kommt immer wieder zu harten Konfrontationen zwischen pro-israelischen und pro-palästinensischen Gruppierungen, die sich zum Teil völlig unversöhnlich gegenüberstehen. Der Druck auf die deutschen Kulturinstitutionen steigt infolgedessen. Dass sich die Kulturhäuser aktuell in einem Dilemma befinden und sich vielen Herausforderungen konfrontiert sehen, wird in der öffentlichen Debatte meines Erachtens nach zu wenig thematisiert.
Haben Sie den Eindruck, dass der Raum für freie Meinungsäußerung kleiner geworden ist?
Wenn der Staat die künstlerische Freiheit einschränkt, auch vielleicht
nur gefühlt, und Künstler*innen die Häuser für politische Botschaften
nutzen, wird es schwierig, das zu bewältigen.
Kultureinrichtungen tragen hier eine große Verantwortung, die über die
Formulierung von Codes of Conducts und Mission Statements hinausgeht. Trotz
der genannten Polarisierungen im Kunstbetrieb, wollen wir weiterhin ein breites Spektrum an Ansichten
zeigen. Dies kann nur durch intensiven Dialog gelingen – sowohl auf institutioneller Ebene mit den Künstler*innen, als auch im öffentlichen Diskurs.
Dabei
stehen Sie verschiedenen Gruppen gegenüber in der Verantwortung. Das
Publikum soll vor Diskriminierungen und Beleidigungen geschützt sein,
den Ausstellungsraum bestenfalls als einen ‚Safe Space’ erleben, aber
auch die Künstler*innen sollen im Vertrauen darauf agieren können, dass
ihre Arbeit nicht gleich beim ersten Protest oder Shitstorm abgeräumt
wird. Tatsächlich wird über die Rolle der Künstler*innen oft zu wenig
gesprochen. Mein Eindruck ist, dass viele von all den Absagen und
Ausladungen, die es zuletzt gegeben hat, verunsichert sind, ja dass sie,
zumal wenn sie aus Ländern jenseits des Westens kommen, Deutschland
aktuell nicht mehr unbedingt für ein Land halten, in dem auszustellen
erstrebenswert ist.
Es ist auch für Künstler*innen ein
schmerzhafter Prozess, wenn sie Angaben zu ihrer politischen Gesinnung
machen sollen, ohne die Konsequenzen zu
kennen. Besonders betroffen sind Künstler*innen, die in politisch
schwierigen Situationen in ihren Ländern arbeiten und deren
Ausstellungen in Deutschland abgesagt werden. Es ist schockierend, dass
auch jüdische Künstler*innen betroffen sind, die eine israelkritische
Haltung vertreten. Als international ausgerichtetes Haus sind wir gefordert, das Vertrauen in deutsche Institutionen zurückzugewinnen und zu stärken.
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Dirk Luckow ist Kunsthistoriker und Kurator. Seit 2009 ist er Intendant der Deichtorhallen Hamburg.
Wolfgang Ullrich ist Kunsthistoriker, Autor, Kulturwissenschaftler und Berater. Seit 2019 ist er zusammen mit Annekathrin Kohout Herausgeber der Buchreihe "Digitale Bildkulturen" im Verlag Klaus Wagenbach. Zuletzt erschien von ihm "´Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie" (2022).
Die Ausstellung SURVIVAL IN THE 21st CENTURY ist noch bis zum 5. November 2024 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.
*Die Aussage wurde rückwirkend am 26. August 2024 auf Wunsch von New Red Order konkretisiert.