»Dieter Roth ist kein Antikünstler«
12. Januar 2023
FOTO: PHILIPP MEUSER
12. Januar 2023
Dirk Dobke, den Künstler Dieter Roth kennt man als enfant terrible, der die bürgerlichen Kategorien von Kunst infrage stellt. Vor allem seine Verwendung von Lebensmitteln und anderen organischen Materialien wie Käse, Joghurt und Schokolade, aber auch Wurst und sogar Fleisch ist berüchtigt. Die Druckgrafik steht weniger im Zentrum. Welchen Stellenwert nimmt sie tatsächlich in seinem Werk ein?
Die Druckgrafik ist absolut zentral. In dem Moment, als Roth anfängt zu zeichnen, beginnt er auch, sich druckgrafisch auszudrücken. Die erste Radierung ist mangels professionellen Materials auf Dosenblech entstanden, da ist er erst 16 Jahre alt. Man kann sein gesamtes Oeuvre in den verschiedenen Phasen in der Druckgrafik abbilden. Eine Druckgrafik-Ausstellung Dieter Roths ist damit eigentlich so etwas wie eine Retrospektive.
Die Druckgrafik dient klassischerweise der Verbreitung von bereits entwickelten Werkideen. Sie gilt eher als reproduktiv und weniger als genuin schöpferisch.
Roth arbeitet nicht nur mit ihren Möglichkeiten der Druckgrafik, sondern auch mit ihren Grenzen. Sie unterwirft den Schaffensprozess einem gewissen Korsett. Man arbeitet in ein Material hinein, muss mit dessen Eigenschaften umgehen, sich an technische Standards halten. Diese Standards bricht er sehr früh, er thematisiert sie durch Verwischungen und Auflösungen und seine berüchtigten Materialexperimente mit Lebensmitteln wie Käse, Schokolade oder Bananen, die er, wie der Ausstellungstitel ja auch besagt, presst, drückt und quetscht. Seine intellektuellen und künstlerischen Ideen verzahnen sich mit, reiben sich aber auch an den technischen Vorgaben, die er bricht und infrage stellt. Das ist ein sehr außergewöhnlicher Ansatz.
Er kehrt auch die Idee der Vervielfältigung um: Statt ein
Unikat zu produzieren und es dann für den Verkauf druckgrafisch
umzusetzen, macht er aus den Auflagenwerken wieder Unikate, indem er
etwa Lebensmittel darauf druckt.
Roths Interesse gilt nicht den demokratischen oder ökonomischen
Aspekten der Vervielfältigung, um Kunst unter die Leute und auf den
Markt zu bringen, sondern es geht ihm von vornherein um das
Formulieren eines Bildgedankens über die druckgrafischen Techniken.
Gerade seine ganz frühen Drucke sind alles Unikate, er hat nur
Probedrucke gemacht. Die Vervielfältigung, der eigentliche Kerngedanke
der Druckgraphik, spielt da noch keine Rolle für ihn.
Später arbeitet er geradezu obsessiv in Serien. In Surtsey beispielsweise verwandelt er Blatt
für Blatt die isländische Vulkaninsel in ein Stilleben in einer Schale, gemischter Kopfsalat hingegen kombiniert verschiedenste
Drucktechniken miteinander. Der Titel bezieht sich auf die »gemischten«
Techniken, nicht die Motive. Dieses Denken in Serien trägt etwas
Überbordendes, eine gewisse Unabschließbarkeit in sich.
Das Prozesshafte und der Aspekt der Zeitlichkeit sind dem
eigentlichen Resultat sogar häufig übergeordnet. Bei den Drucken nimmt
das verschiedene Formen an. In den 1960er Jahren sind es die Experimente
mit organischen Materialien, die sich durch Verfallsprozesse verändern.
Der gemischte Kopfsalat hingegen wird erst möglich, weil Roth an
einem Ort sämtliche druckgrafischen Techniken zur Verfügung stehen.
1970 gründen Dieter Roth und Karl Schulz ein Studio im
Braunschweiger Stadtteil Oelper und statten es mit sämtlichen
drucktechnischen Maschinen aus. Sie wählen teilweise auch ein
einheitliches Format, um prinzipiell alle Drucktechniken übereinander
drucken zu können.
Bis heute gibt es in der Druckgrafik eine Spezialisierung. Anstatt
die jeweils angedruckten Editionen von A nach B zu transportieren und
von dort wieder in die nächste, auf eine weitere Technik spezialisierte
Werkstatt, konnten sie im Oelper Studio Radierung mit Siebdruck und
anderen Techniken verbinden. Die Bildfindung, nicht nur die
intellektuelle, sondern auch die assoziative und die durch das
praktische Experimentieren, konnte also an einem Ort stattfinden. Sie
kombinierten auch Vorhandenes wie bereits bestehende Druckformen und
Motive miteinander und kombinierten und überarbeiteten sie neu. Das ist
auch innerhalb der Druckgrafik spektakulär, aber auf einem stillen
Niveau, weil das später kaum jemand so recht realisiert.
Roth wird oft als eine Art Antikünstler gehandelt. Die
Verfallsprozesse organischer Materialien, die nicht nur einen mitunter
bestialischen Gestank entwickelt haben, sondern auch die bürgerlichen
Kategorien der Kunst infrage stellen: das vollendete, in sich
abgeschlossene Werk, die Idee der unverrückbaren Autorschaft. Dabei
hatte er eine klassische Ausbildung und scheint sich auch an
traditionellen Medien und Techniken, aber auch an der Kunstgeschichte
orientiert zu haben.
Ich halte deswegen den Begriff »Antikünstler« auch nicht für geeignet.
In seinem Grundverständnis ist Roth ein fast traditioneller Künstler.
Das materielle Werk hat einen hohen Stellenwert für ihn. Es wird
signiert und bleibt, allen Veränderungsprozessen zum Trotz, am Ende doch
Werk. Es geht ihm nie darum, dass es komplett verschwinden soll.
Wie kommt es zu der Festlegung auf die Lebensmittelarbeiten und die Betonung des Antikünstlerischen?
Das Lebensmittelthema ist gleichermaßen radikal wie anschaulich. Und
besonders Schokolade ist ein Material, das nicht nur negativ besetzt
ist. Darüber hinaus aber verbindet die verschiedensten Werkkomplexe
keine klassische gemeinsame Handschrift, die eine leichte
Wiedererkennbarkeit ermöglicht. Das hat es ihm in der öffentlichen
Wahrnehmung immer schwer gemacht. Wenn die Leute ihn kennen, kennen sie
ihn als »Schokoladenkünstler«.
Künstlerisch ist er ja eigentlich Autodidakt.
Gebrauchsgrafiker hat er deshalb gelernt, weil die Eltern letztlich
nicht wollten, dass er freie Kunst studiert. Als Künstler orientiert er
sich schon ganz früh an den großen Schweizer Vorbildern wie Paul Klee
und Max Bill. Aber auch aus der Gebrauchsgrafik übernimmt er
Grundsätzliches, nicht nur Pragmatismus und Handwerklichkeit, sondern
vor allem einen Universalanspruch, Künstler, aber auch Gestalter seines
gesamten Lebens zu sein. Er ist auch Filmemacher, Musiker, Dichter,
Installationskünstler, aber er baut eben auch Möbel, seine eigenen, aber
auch für andere, und gestaltet Schmuck.
Roth bewegt sich immer zwischen Widerstand und Anpassung, technischer Perfektion und Grenzüberschreitung. Woher rührt diese Ambivalenz?
Es gibt einen ersten großen biografischen Einschnitt. Er wird 1943,
mit nur 13 Jahren, aus Hannover in die Schweiz geschickt. Dort macht er
die Erfahrung, dass alles, womit er aufgewachsen ist, plötzlich infrage
gestellt wird. Das betrifft den Nationalsozialismus, aber auch die
Sprache. Er stößt auf Widerstände. Dieser erste radikale Bruch
beschäftigt ihn meines Erachtens zeitlebens, auch im positiven Sinne. Er
macht damit auch früh die Erfahrung, dass es dennoch irgendwie immer
weiter geht. Und diesen ersten Bruch sucht und reproduziert er später
immer wieder.
Ist darauf auch sein grundleger Zweifel an dem Verstehen und
der Verständigung zurückzuführen? Ein ihn zeitlebens begleitendes Thema
ist ja, wie man die Welt verstehen kann und wie man Verständigung über
sie erzielen kann.
Das führt zu einem kritischen Umgang mit Zeichen, nicht nur mit
bildlichen, sondern auch mit sprachlichen Zeichen. Er versteht sich
immer auch als Sprachkünstler und vor allem als Schriftsteller. Dichten
ist ihm genauso wichtig wie Kunst zu produzieren. Für das Künstlerbuch Mundunculum entwickelt er in den 1960er Jahren eine eigenes
piktogrammartiges Stempelalphabet, eine eigene Semantik. Da geht es ihm
ganz konkret um das Verstehen von Bildzeichen. Er setzt sich in dem Buch
auch mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins auseinander.
Roth produziert auch sehr viele Bücher, in denen der
Schriftsteller und der Künstler zusammenkommen. Hängt das druckgrafische
Oeuvre auch mit dem Büchermachen zusammen?
Es ist sogar eng verzahnt. Das Künstlerbuch als Medium, wie wir es
heute kennen, ist seine Erfindung. Das kann man ohne Übertreibung sagen.
Er schafft einen reichen Farben- und Formenkanon, der sich durch das
Blättern erschließt, etwa die frühen geometrischen Formen, die sich
durch Ausstanzungen überlagern und veränderbar sind. Wie in der
Druckgrafik zieht sich auch das Künstlerbuch durch sein ganzes Werk.
Weil ihm beide Gattungen so wichtig sind, hat er 1979 eine
Ausstellungstournee begonnen, »Grafik und Bücher«, die an verschiedenen
Stationen gezeigt wurde.
Hier zeigt sich wieder sein enzyklopädischer Anspruch auf
Vollständigkeit. Er hat auch seinen Förderer und Sammler Philipp Buse,
aus dessen Beständen diese Ausstellung bestritten wird, beauftragt,
durch gezielte Ankäufe die Sammlung zu vervollständigen, so dass sie
Roths gesamtes Schaffen abbildet.
Die Ausstellungstournee wird von Band 20 und 40 der »Gesammelten
Werke« begleitet. Roth fängt sehr früh an, sein Werk selbst zu
katalogisieren. Er beschäftigt bereits in den 1980er Jahren eine eigene
Assistentin, die für ihn den Werkatalog erarbeiten soll. Auch scheinbar
abwegige künstlerische Experimente bewahrt er in der Regel auf oder
deponiert sie bei Freunden oder ehemaligen Assistentinnen und
Assistenten. Auch seine zufälligen Telefonzeichnungen oder
vollgeschriebenen Arbeitsunterlagen widmet er später zu Kunstwerken um.
Das spricht erneut für deine Einschätzung, dass Roth gerade kein Antikünstler ist.
Roths künstlerischer Ansatz ist zwar mitunter sehr radikal und
überschreitet auch die Grenzen des Erträglichen, aber es ist immer auch
eine Suche nach Schönheit. Er versucht zeitlebens, eine eigene Ästhetik
zu entwickeln. Das ist besonders an einigen Werken seiner sogenannten
Verfallskunst gut nachvollziehbar: Faktisch handelt es sich zwar um
verweste und verschimmelte Materialien, aber 30 Jahre später sind daraus
vielfach wunderschöne Bilder geworden.
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Dirk Dobke ist Kunsthistoriker und Kurator. Er ist Präsident der Dieter Roth Foundation und Geschäftsführer der Griffelkunst-Vereinigung Hamburg. Gemeinsam mit Ina Jessen hat er die Ausstellung DIETER ROTH – GEPRESST GEDRÜCKT GEQUETSCHT. MATERIAL- UND DRUCKGRAFIK in der Sammlung Falckenberg kuratiert.
Veronika Schöne ist Kunsthistorikerin, Autorin und Dozentin. Sie
schreibt Texte und macht Führungen, Seminare und Reisen zur Kunst.