FOTO: HENNING ROGGE

Eines der größten
Mysterien des Universums

Nichts ist alltäglicher und universeller als die Familie. Künstlerischen Auseinandersetzungen bietet sie daher viel Stoff. Besonders die zeitgenössische Fotografie eignet sich für die Spurensuche danach, wo wir herkommen. VON ANNE WAAK

18. Mai 2021

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Der Schriftsteller Kurt Vonnegut soll einmal gesagt haben, alle Literaten hätten in Wahrheit nur ein einziges Thema, das sie immer und immer wieder variierten: »You are going to write about your family forever«. Angewandt auf die Fotografie hieße das: Jede Aufnahme ist in Wahrheit ein Familienbild.

Gleichzeitig bleibt Familie eines der größten Mysterien des Universums. Man kann sich ewig an ihr abarbeiten und wird dennoch kaum jemals mit ihr fertig.

Die Ausstellung FAMILY AFFAIRS – FAMILIE IN DER AKTUELLEN FOTOGRAFIE versucht, diese Sozialform zu ergründen. Sie umkreist dabei mithilfe der Arbeiten von zwei Dutzend Künstler*innen Fragen wie: Was gilt eigentlich als eine Familie, welche Dynamiken herrschen innerhalb ihrer und was prägt unseren Blick auf sie?

Auffällig ist, welches Familienmitglied im Ausstellungsverlauf erst recht spät auftritt: der Vater nämlich. Die ersten drei gezeigten Positionen drehen sich fast allein um das Verhältnis von Mutter und Kind: Katharina Bosses Serie A Portrait of the Artist as Young Mother thematisiert den Umstand, dass mit jedem Kind auch eine Mutter auf die Welt kommt, Siân Davey ergründet in den Aufnahmen von Teenagern ihr Dasein als die Mutter ihrer Stiefkinder, Vincent Ferrané zeigt in Milky Way seine erschöpfte Freundin beim Stillen des gemeinsamen Kindes. Er selbst bleibt hinter der Kamera verborgen. Es sind hier die Mütter, die Nahrung spenden, Sorge tragen und die Beziehungen pflegen, während die Väter lediglich zu zeugen scheinen und sich danach auf die Position des Beobachters zurückziehen.

Das spiegelt recht akkurat die Verhältnisse, wie sie in weiten Teilen der Welt seit dem 19. Jahrhundert herrschen. Einst war der König der von Gott eingesetzte Herrscher auf der Erde und der Vater sein mächtiger Stellvertreter in der Familie. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus, der die Arbeit in die Sphären Heim und Welt aufteilte, verschwand das sogenannte Oberhaupt der Familie aus dem Schoß derselben. Die aufopferungsbereite Mutter sorgte zu Hause dafür, dass alles in bester Ordnung war, der Vater zog sich den Anzug, den Kittel, den Blaumann wie eine Rüstung an, ging hinaus – und landete im Exil der Berufswelt. In der Familie wurde er zum Zaungast. Blieb er bis in die 1980er-Jahren dennoch eine Autoritätsperson, wird er heute, da viele Frauen allein für sich selbst und ihre Kinder sorgen können, nicht mehr als Ernährer gebraucht. Nicht zum Kinderhaben und, dank der modernen Repoduktionsmedizin, nicht mal zum Kinderkriegen ist er noch vonnöten. Der ehemalige Alleinherrscher ist zu einer bloßen Option geworden und muss seine Rolle in der Familie erst wieder finden.

Die Frage, wer oder was eigentlich als Familie gilt, thematisieren mehrere Serien in der Ausstellung. Daniel Schumann zeigt in der 2011 bis 2013 entstandenen Serie International Orange gleichgeschlechtliche Paare mit Kind in klassischer Familienporträt-Aufstellung. Nur zehn Jahre nach ihrer Entstehung wirken die Bilder denkbar unspektakulär; der Anblick sogenannter Regenbogen-Familien birgt heute, da selbst Vertreter der katholischen Kirche Homo-Paare segnen, abseits religiösen Fanatikertums kaum mehr Erregungspotenzial.

Die Aufnahmen der Fotografin Jamie Diamond dagegen spielen mit der Erwartungshaltung, mit denen wir Bildern der traditionellen Konstellation aus Vater, Mutter und ihren Kinder entgegentreten. Beim Betrachten ertappt man sich dabei, äußerliche Gemeinsamkeiten der abgebildeten Personen miteinander abzugleichen: die Schwestern haben ihre Augenform eindeutig vom Vater, die allen gemeinsamen brünetten Haare werden zum vermeintlichen Beweis einer vorliegenden Blutsverwandtschaft. Erst der Titel Constructed Family Portraits enthüllt die Fabrikation: Für ihre Bilder castet die Fotografin einander weder miteinander verwandte noch bekannte Statistinnen und Statisten und inszeniert sie in Hotelzimmern als Familie. Allein die Behauptung, die Gezeigten seien miteinander verwandt, lässt uns an die dargestellte Ordnung glauben.

Doch woher stammt die uns so natürlich erscheinende Ordnung? Sie geht auf eine bestimmte Vater-Mutter-Kind-Konstellation zurück, die vielerorts das seit mehr als 2000 Jahren das herrschende Glaubenssystem und damit auch die Kultur bestimmt – und bis heute so gut wie alle Bilder speist, die wir uns von Familie machen. Die Rede ist, natürlich, von Joseph, Maria und Jesus. Über Jahrhunderte hinweg prägten Bilder und Erzählungen, in der die Heilige Familie wieder und wieder als eine innige, einander zärtlich zugewandte Gemeinschaft dargestellt wurde, die Geschlechter- und Familienrollen. Das beeinflusst bis heute unsere Vorstellung von familiärer Intimität.

Foto: Jamie Diamond, The Hilton Family, aus der Serie Constructed Family Portraits, 2006/2008 © Jamie Diamond

Dabei war Jesus laut der Evangelien gar nicht das einzige Kind des verwitweten jüdischen Handwerkers Joseph und seiner jungen Frau Maria, die noch weitere Nachkommen zeugen sollten. Auch die Vaterrolle ist in dieser Dreierkonstellation bekanntlich doppelt, wenn nicht sogar dreifach besetzt: mit Gott als Vater im Himmel, dem Heiligen Geist als dessen Abkömmling und dem menschlichen Stiefvater Joseph. Und der erwachsene Jesus tritt als Anführer der neu gegründeten christlichen Sekte eben gerade nicht als Prediger der Familie, sondern im Gegenteil als ihr radikaler Zerstörer an. Seine Jünger sollen Vater, Mutter und den gesamten Clan verlassen und ihm folgen. Aber all das – die Stiefgeschwister, die unklare Stellung Josephs, die große Sippe und das Verlassen derselben – wird im Laufe der Jahrhunderte und der zunehmenden Intimisierung des Familienbildes verkürzt zur christlichen Modellfamilie, wie sie bis in die Gegenwart jedes Jahr Ende Dezember wieder von 2,2 Milliarden Menschen gefeiert und in Millionen Familienporträts reinszeniert wird.

Auch die Bilder der Serie Last Family Portrait von Neil DaCosta spielen mit dieser Konvention. DaCosta porträtierte traditionell lebende Familien in Äthiopien nach den klassischen Prinzipien des Genres. Bei genauerer Betrachtung jedoch fällt auf, dass die Familienstrukturen in Subsahara-Afrika nicht ins Muster Vater, Mutter, Kind passen: In den polygyn lebenden Gesellschaften ist die Stelle der Frau und Mutter häufig mehrfach besetzt.

Foto: John Clang, Tye Family (Paris, Tanglin), 2012, aus der Serie Being Together, 2010–2012 © John Clang

Der Blick zurück in die europäische Geschichte zeigt, dass es im heutigen Europa lange nicht anders war. Erst als die römisch-katholische Kirche ersetzte ab dem 6. Jahrhundert die Mehrehe durch die Monogamie, sodass für Übertragung von Erbschaften statt eines weitverzweigten Clans irgendwann nur noch ein stark reduzierter Personenkreis in Frage kam (und bis heute kommt). Indem die Kirche an das Seelenheil der Gläubigen appellierte und sie gleichzeitig dazu anhielt, ihr zu diesem Zweck die persönlichen Besitztümer zukommen zu lassen, fielen ihr über die Jahrhunderte hinweg enorme Geldmengen zu. Eine Nebenwirkung dieser Politik: die Miniaturisierung der Familie.

Die Serie Being Together von John Clang schließlich verweist auf eine sehr zeitgenössische Praxis: das Videotelefonat zwischen über den Globus verstreut lebenden Familienangehörigen. Für seine Bilder projiziert der aus Singapur stammdende Clang das live stattfindende Videotelefonat so an die Wohnzimmerwand des sich vor Ort befindenden Teils der Familie, dass der abwesende Teil in Lebensgröße zu sehen ist.

So thematisiert Clang die weltweite Arbeitsmigration und damit auch die global care trains, also die Betreuungs- und Versorgungsketten, die sich über Länder und Kontinente spannen und Familien spalten: In Fortgegangene und Daheimgebliebene, in solche, die ausziehen, um wohlhabenderen Menschen im globalen Norden all jene Dienste wie Kinderbetreuung und Altenpflege zu leisten, die früher die erweiterte Familie übernahm und solche, die am unteren, armen Ende der Versorgungsketten – meist in ehemaligen Kolonialländern – fürsorgelos zurückbleiben. So hat heute jedes dritte Kind auf den Philippinen eine »Cell-Phone Mum«, also eine, die nur über das Telefon erreichbar ist.

Foto: Nancy Borowick: His and Hers, 2013, aus der Serie The Family Imprint, 2013 © Nancy Borowick

Zu den berührendsten Serien der Ausstellung gehört Nancy Borowicks The Family Imprint, in der die Fotografin in Schwarzweiß-Aufnahmen die gleichzeitig aufgetretenen und letztendlich tödlich verlaufenden Krebserkrankungen ihrer Eltern dokumentiert. Zusammen mit alten gerahmten Amateuraufnahmen der Familie aus früheren, glücklicheren Tagen sowie Möbeln, die auf das gemeinsame Zuhause verweisen, das nicht mehr ist, schafft Borowick eine eindringliche Installation. Sie verdeutlicht, was in Fotografien seit jeher eingeschrieben ist: Vergänglichkeit und Tod.

Und noch etwas macht die Ausstellung FAMILY AFFAIRS bewusst. Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist als Familie: keine Familie.

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Anne Waak ist Kulturjournalistin und Autorin. Ihr jüngstes Buch »Wir nennnen es Familie – Neue Ideen für ein Leben mit Kindern« ist in der Edition Körber erschienen.

Die Ausstellung FAMILY AFFAIRS – FAMILIE IN DER AKTUELLEN FOTOGRAFIE ist bis zum 4. Juli 2021 im Haus der Photographie zu sehen.


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