Eisige Wüsten
4. Mai 2023
FOTO: © RAGNAR AXELSSON
4. Mai 2023
Es ist Februar, das Thermometer zeigt minus 44 Grad. Selbst für grönländische Verhältnisse ist das ungewöhnlich kalt. Seit drei Tagen sind die Innuit mit ihren Schlittenhunden auf dem Meereis des Ingelfieldfjords unterwegs. Sie wollten Narwale jagen, doch es zeigten sich keine.
Auf dem Rückweg nach Qaanaaq, dem früheren Thule, hoch oben im Nordwesten der Insel, schlägt das Wetter plötzlich um. Ein schwerer Sturm zieht auf. Sie müssen sich beeilen; noch gut 60 Kilometer liegen vor ihnen. Mit dabei: der isländische Fotograf Ragnar Axelsson, der die Männer schon mehrfach begleitet hat. Als sie wegen der Hunde rasten müssen, hält einer der Jäger Wache. Unablässig sucht er mit den Augen die Gegend nach Eisbären ab. Axelsson zieht die dicken, unförmigen Fellhandschuhe aus, behält nur das zweite dünne Paar an, um auf den Auslöser drücken zu können und macht – beiläufig wie immer – Aufnahmen von einem der Jäger. So entsteht das Porträt von Mads Ole. Es zeigt ihn, gestützt auf seine Harpune und eingehüllt in Eisbär- und Karibufellen, inmitten einer Mondlandschaft aus schneebedeckten Eishügeln, angestrahlt von der tiefstehenden Sonne, die die Szene wie eine Theaterkulisse ausleuchtet.
Für Axelsson gehört dieses Foto zu den beiden wichtigsten in der
Ausstellung. „Ich mag das Licht darin und bin froh, dass ich es gemacht
habe.“ Bei den Aufnahmen vor gut vier Jahren erfror allerdings sein
rechter Daumen; seitdem ist er taub und schmerzt, sobald es kühler wird.
„Aber das ist es mir wert.“ Axelsson ist ein Ästhet.
Mehrfach war er in Lebensgefahr, und doch fühlte sich Axelsson immer
beschützt – „so als stünde immer jemand hinter mir und wacht über mich“.
Er fiel einige Male ins eisige Meer; war Stürmen ausgesetzt, so
gewaltig, dass die Schlittenhunde kaum von der Stelle kamen und sich die
Kälte in sein Gesicht festkrallte; fuhr über Meereis, das sich bei
starkem Seegang mitsamt dem Schlittengespann im Rhythmus der Wellen
meterhoch auftürmte, um anschließend ebenso tief zu fallen und dabei
jeden Moment zu brechen drohte; grub sich in Schnee ein, während
orkanartige Winde Eiskristalle über die Ebene wirbelten. Doch selbst
dann gelang es Axelsson immer wieder, Bilder zu machen. Eines davon
zeigt ein knappes Dutzend Hunde im diesigen Gegenlicht, wie sie mit
ihrem Führer im Schlitten durch die schneeverwehte Eiswüste zurück nach
Qaanaaq jagen. „Ich musste einfach abspringen und losrennen, weil ich
dieses Foto unbedingt haben wollte. Ich wusste, dass ich diesen Moment
nicht verpassen durfte, weil ich ihn wahrscheinlich nie wieder erleben
würde.“
Axelsson steht vor der großformatigen Aufnahme in seiner Ausstellung
WHERE THE WORLD IS MELTING im PHOXXI der Deichtorhallen Hamburg. Ein
schlanker, eher kleiner Mann mit kurzen, nach hinten gekämmten weißen
Haaren und sorgfältig gestutztem Bart. In seinem schwarzen Boss-Mantel
und dem wild gemusterten braunen Hemd mit den offenen Manschetten wirkt
der 64-Jährige wie eine jüngere Ausgabe des Münchner Barbesitzers und
Teilzeitmodels Charles Schumann, nur zurückhaltender, leiser,
aufmerksamer. „Die besten Fotos entstehen oft bei schlechtestem Wetter“,
erklärt er und lächelt. Und schiebt gleich noch den wichtigsten Rat
seiner Mentorin hinterher, der Magnum-Fotografin Mary Ellen Mark. „Sie
sagte einmal zu mir: ‘Auch wenn Du glaubst, das perfekte Foto schon
gemacht zu haben – du hast es nicht. Mach weiter.‘ Und sie hatte Recht.
Jedes Mal.“
Axelsson war 16, als er bei der Tageszeitung Morgunblaðið in
Reykjavik eine Ausbildung zum Fotografen begann – und 46 Jahre blieb.
Anfangs war er vor allem innerhalb Islands unterwegs. Ein paar Jahre
später reiste er zum ersten Mal nach Grönland, im Kopf die Geschichten
der Polarforscher Peter Freuchen und Knut Rassmussen, die ihn schon als
Kind leidenschaftlich begeistert hatten: „Sie sind unglaublich spannend –
als würde man James Bond lesen.“
Grönland ist sechsmal so groß wie Deutschland und mit gerade mal 57000 Einwohnern nahezu unbewohnt. Vier Fünftel der Insel liegen unter einem bis zu drei kilometerdicken Eisschild; Temperaturen von minus 40 Grad sind im Norden während des Winters nicht ungewöhnlich. Für Axelsson allerdings damals viel zu kalt. Er schwor sich, nie mehr zurückzukehren. Und tat es dann doch. „Grönland ist wie ein Magnet“, erklärt er: „Nach einer Woche zu Hause will man unbedingt wieder hin.“ Einer der Gründe: die gigantischen Eisberge. „Jedes Mal, wenn ich sie
sehe, bin ich glücklich. Für mich ist die Insel die größte Kunstgalerie der Welt.“ Und: ein Sehnsuchtsort.
Axelssons Vater, ein Maschinenbauingenieur und Amateurfotograf, hatte ihm als Kind regelmäßig Kunstbücher und Magazine wie Life, den Stern und Paris Match
mitgebracht. Immer wieder sah er sich die Bilder darin genau an: Welche
Körperhaltung nehmen die Menschen ein? Wohin blicken sie? Wie neigen sie
ihre Köpfe? Da er nicht malen konnte, bat Axelsson seinen Vater, ihm
seine Kamera zu leihen, um zu fotografieren. Da war er zehn. Wie damals
in Island üblich, verbrachte er die Sommer auf einem Bauernhof. Er
gehörte den sieben Brüdern seiner Mutter und lag völlig abgeschieden in
Kvísker, im Südwesten der Insel. „Das war das Beste, was mir passieren
konnte“, erinnert sich Axelsson.
Zwei seiner Onkel, Hálfdan und Sigurður
Björnsson, waren Amateurforscher. Neben ihrer Arbeit auf dem Hof
untersuchten sie Gletscher und Gesteine, studierten Pflanzen ebenso wie
Käfer und Schmetterlinge, und jedes Wochenende ging der kleine Ragnar
mit ihnen wandern, sah ihnen zu, hörte zu und lernte. Manchmal ritt er
auch allein auf seinem Schimmel durch einen reißenden Gletscherstrom.
„Ich fühlte mich wie ein Indianer in der Wildnis und als Teil der Natur.
So aufzuwachsen und das Leben zu lernen, hat mich zum Mann gemacht.“
Axelsson, der Abenteurer.
Er fotografierte alles, was er mit seinen Onkeln erlebte: wie sie mit
einem Boot über einen See ruderten, wie sie eine Robbe töteten, wie sie
fischten, wie sie in ihrem Ölzeug knietief im Wasser standen. Auch
diese Fotos zeigt Axelsson im PHOXXI. Was diese Bilder von denen
unterscheidet, die er heute macht? „Eigentlich nichts“, sagt Axelsson.
Schon damals habe er sich wie eine Fliege an der Wand verhalten, habe
nur beobachtet, nichts arrangiert, und so lange auf den richtigen Moment
gewartet, bis er da gewesen sei. Dann erst drückte er den Auslöser.
„Alles, was auf dem Land geschah, härtete mich ab und bereitete mich auf
meine spätere Tätigkeit vor“, schreibt Axelsson in seinem Buch zur
Ausstellung. Sein Ziel: „Eine Zeit in Bildern festzuhalten, die niemals
wiederkehren würde.“ Es wird zu seiner Lebensaufgabe.
Dass er den Wandel dokumentieren will, wird Axelsson erstmals Mitte der 1980er Jahre bewusst. Damals ist er für seine Tageszeitung Morgunblaðið an der Küste von Gjögur unterwegs und lernt den alten Fischer Axel Thorarensen mit seinem Hund Týri kennen. Er spürt: Die Geschichten dieses Mannes und seine Art zu leben werden mit ihm sterben. Also fängt er an, zu fotografieren, macht unter anderem das Bild von Thorarensen im Boot und dem ängstlichen Týri an Land, das ebenfalls in der Ausstellung hängt. Und es ist genau diese Aufnahme, die den Beginn seines bald vier Jahrzehnte umfassenden Projekts markiert. Es wird ihn in alle acht arktischen Länder führen und zu Menschen, die unter extremen klimatischen Bedingungen an den abgelegensten und einsamsten Orten der Welt leben.
Doch schon bald genügt es Axelsson nicht mehr, den Alltag der
Bewohner hoch im Norden mit seiner Kamera festzuhalten – er notiert auch
ihre Erlebnisse und Erzählungen. Entscheidend dafür ist die Begegnung
mit einem alten grönländischen Jäger. „Der sagte zu mir: ‚Irgendetwas
stimmt nicht. Dem großen Eis geht es schlecht.‘“ Was er beobachtete,
war, dass die Gletscher schmelzen. Eine der vielen Folgen der globalen
Klimaerwärmung. „Die Menschen dort haben so viel Wissen. Und trotzdem
werden sie nicht gehört“, sagt Axelsson. „Ich wollte ihnen eine Stimme
geben, weil ich glaube, dass das, was sie zu sagen haben, sämtliche
Reden der Arktis-Konferenzen überdauern wird.“ Axelsson, der Chronist.
Seine Bilder, sagt Axelsson, fielen nicht vom Himmel: „Man muss
hingehen.“ Und wiederkommen. Viele Male. Denn für seine Fotos muss er
nah dran sein: Zoomobjektive benutzt Axelsson nie. Auch das ein Rat
seiner Mentorin Mary Ellen Mark. „Man braucht ihr Vertrauen, damit sie
dich überallhin mitnehmen.“ Er besucht alle 18 Inseln der Färöer, reist
nach Alaska und Sibirien, fotografiert Hunde, Berge, Fischer, Bauern.
Immer wieder ist er wochenlang mit ihnen unterwegs, schläft mit ihnen
zusammen in denselben kleinen Zelten, liegt auf denselben Fellen, erlebt
dieselben Stürme, dieselbe eisige Kälte. Wenn er dann fotografiert, ist
er wie die Fliege an der Wand, die er schon als Kind war.
So entstehen die manchmal ebenso intimen wie intensiven Aufnahmen, mit denen Axelsson festhält, was unwiederbringlich verloren geht. Und die ihm, dem Ästheten, dem Abenteurer, dem Chronisten, das Gefühl geben, etwas Wichtiges zu tun. „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.“ Gelegentlich gewinnt Axelsson ihn, wie bei dem Foto, das er 2021 von einem Gletscherbogen des Kötlujökull in Island gemacht hat. Es ist ein bitterer Sieg. Zwei Tage nach der Aufnahme brach der Bogen zusammen. Dieses Bild ist für Axelsson das zweite, wichtige Foto seiner Werkschau – und das erste, was die Besuchenden gleich zu Beginn der Ausstellung sehen.
Durch den Gletscherfluss, der sich unter dem mit Vulkanasche bestäubten Gletscher hindurchwindet, wirkt der Bogen wie der Eingang zur Hölle. „Island schmilzt“, sagt Axelsson. „In 150 bis 200 Jahren werden vermutlich alle unsere Gletscher verschwunden sein.“
Auch deshalb fliegt Axelsson regelmäßig mit seinem Flugzeug über die eisigen Berge und dokumentiert ihren Zustand. Einige Aufnahmen zeigen nur durch Asche konturierte Oberflächen. Es sind abstrakte Werke von eigenwilliger Schönheit, die Axelssons Entscheidung, ausschließlich in Schwarzweiß zu fotografieren, eine weitere, kreativ-künstlerische Dimension hinzufügen.
In zwei, drei Jahren will Axelsson sein spektakuläres Lebenswerk abschließen. Dann wird er in allen acht arktischen Ländern sommers wie winters dokumentiert haben, wie sich das Leben der Menschen dort verändert hat. Erst kürzlich war er dafür noch einmal in Grönland, wo er den letzten Mann eines Dorfes fotografiert hat. „Als ich vor 25 oder 30 Jahren das erste Mal dort war, lebten noch etwa 40 Leute in Cape Hope. Es war ein gutes Jagddorf.“ Axelsson wischt sich durch die Mediathek seines Handys bis er die Aufnahme eines alten, weißhaarigen Mannes gefunden hat, der mit ängstlichem Blick in die Ferne schaut. „Von seinen vielen Geschwistern leben nur noch zwei Schwestern und von seinen vier Partnerinnen keine mehr. Alle sind gestorben. Überall sah er Geister und fürchtete sich vor ihnen. Dann sagte er: ‚Es gibt keine Hoffnung mehr in Cape Hope.‘“
__________
Gunthild Kupitz ist Kunsthistorikerin und arbeitet als freie Journalistin und Textchefin in Hamburg.
Die Ausstellung RAGNAR AXELSSON – WHERE THE WORLD IS MELTING ist bis zum 18. Juni 2023 im PHOXXI zu sehen.