FOTO: PHILIPP MEUSER

»Es gibt immer noch blinde Flecken«

Auf der ganzen Welt entstehen täglich Millionen neuer Bilder. Die Austellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE zeigt, wie sich die Fotografie angesichts der gigantischen Bilderfluten immer wieder neu denken lässt. Ein Gespräch mit der Kuratorin Rasha Salti VON MELANIE VON BISMARCK

1. Juni 2022

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Frau Salti, ihre Ausstellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE untersucht die künstlerische Auseinandersetzung mit Fotografie im sogenannten »retinalen Zeitalter«. Was war die zentrale Frage, die Sie im Zuge der Vorbereitung der Triennale in Ihrem Team aus vier Kuratorinnen diskutiert haben?
Wir haben viele Ideen auf den Tisch gelegt. Wir hatten Fragen und keine Antworten. Die zentrale Frage aber war: Wie denken wir heute über Fotografie, angesichts der Tatsache, dass die Welt von Bildern überflutet wird und täglich Millionen von Bildern produziert? Die Bilder zirkulieren, auch ohne unsere Kontrolle. Sie werden als Zeichen der Identifikation verwendet, werden absichtlich, aber auch gegen unseren Willen gemacht. Angesichts dieser Tatsache hat sich die Rolle der Fotografie in der Produktion der visuellen Kultur so sehr ausgeweitet, dass sich die Frage stellt, wie wir heute über Fotografie denken.

Bei Währung denken wir gleich an die Zirkulation von Fotografie als Ware in unserer kapitalistischen Wirtschaft. Aber da schwingt auch etwas anderes mit...
Wir entlehnen den Begriff aus der Wirtschaft, aber er ist mehr. Es geht auch um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Denn auch wenn die Menge der täglich produzierten Bilder wächst, gibt es immer noch blinde Flecken. Der Begriff der Währung beinhaltet auch den Begriff des Flusses. Da gibt es die Zirkulation, die wir kennen, die sozialen Medien, das Internet, die Medien allgemein. Aber es gibt auch neue und andere Wege der Zirkulation, die wir nicht abbilden können. Dann geht es um Beziehungen. Um die Fragen, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir uns der Welt präsentieren, wie wir wahrgenommen werden. Und wie wir Emotionen, Affekte erzeugen. So wurde uns klar, dass das Reden über Wert, Zirkulation und Wahrnehmung etwas mit der Währung, Currency, zu tun hat.

Die Ausstellung ist eine von zwölf Ausstellungen der 8. Triennale der Photographie Hamburg.
Das Fantastische an dieser Triennale ist, dass elf etablierte Museen in der Stadt teilnehmen. Einige haben sich auf zeitgenössische und moderne Kunst spezialisiert. Aber dann gibt es noch die anderen Museen, die sich zwar auf die visuelle Kultur beziehen, aber keine Kunstsammlung haben, sondern fotografische, ethnografische Sammlungen. Oder sie haben Sammlungen von Objekten und sind mit einer konkreten Idee verbunden – wie das Museum der Arbeit. Und das ist das Schöne an dieser Triennale: Wir sind innerhalb und außerhalb der Kunstwelt in einem Gespräch.

In der Ausstellung in den Deichtorhallen Hamburg sind kaum europäische Künstler*innen vertreten, dafür viele aus afrikanischen Ländern, aus Süd- und Nordamerika, Japan und Sibirien.
Wir haben uns bei der Vorbereitung der Triennale mit den zehn anderen Institutionen ausgetauscht und einen Parcours aufgebaut. Unsere Ausstellung ist wie eine Perle in einer Halskette. Wir konnten es uns leisten, uns treiben zu lassen und Künstler*innen präsentieren, die in Hamburg nicht so bekannt sind. Über Geografie haben wir nicht so sehr nachgedacht. Was ich an unserer Ausstellung wirklich mag: Es gibt Werke aus den 1970er, 80er, 90er Jahren und neue Arbeiten. Wir dachten also nicht an brandneue Werke und neue Aufträge, wie sonst bei einer Triennale üblich.

Dabei vermischen sich verschiedene Aspekte – künstlerische und soziologische, ethnologische, geografische, politische.
Die Ausstellung repräsentiert die verschiedenen Welten, die wir als Kurator*innen mitbringen. Oluremi Onabanjo ist Spezialistin für Fotografie. Gabriella Beckhurst Feijoo, Koyo Kouoh und ich beschäftigen uns mit zeitgenössischer Kunst, die alles umfasst. Es gibt Fotograf*innen, Konzeptkünstler*innen, die sich der Fotografie bedienen, und es gibt Fotograf*innen, die Sozialdokumentation betreiben, deren Praxis aber nicht an einem klassischen Ort der Sozialdokumentation angesiedelt ist.

Rasha Salti, Gabriella Beckhurst Feijoo, Koyo Kouoh (v.l.), Kuratorinnen der Ausstellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE. Nicht im Bild: Oluremi Onabanjo. Foto: Philipp Meuser

Im Titel der Ausstellung nehmen Sie Bezug auf die Sprache, in der sich unsere Vorstellung von Fotografie manifestiert. Beyond Capture, also jenseits vom Einfangen eines Fotos. Dann ist da das Wort Schnappschuss. Einfangen, Schnappschuss – das sind Begriffe, die Aneignung implizieren oder sogar Gewaltausübung. Stellen Sie Künstler*innen aus, die diese Vorstellungen überwinden wollen?
Die Ausstellung kreist um vier Motive, die uns geholfen haben, die Auswahl der Künstler*innen und die Anordnung der Exponate im Raum zu organisieren. Ein Motiv ist gegen Medienstereotypen gerichtet und für die Schaffung eines Gegenkanons. Bei diesem Motiv gibt es also Künstler*innen , die blinde Flecken in den Medien anprangern. Alfredo Jaar hat sich beispielsweise anhand der Titelseiten des LIFE-Magazins, das die Vorstellungskraft der Amerikaner*innen jahrzehntelang geprägt hat, untersucht, wie oft Afrikaner*innen, Afrika oder schwarze Amerikaner*innen im Laufe der Jahrzehnte auf dem Cover des Magazins abgebildet waren. Die leeren Stellen im Leuchtkasten zeigen, wie wenig diese Realität thematisiert wurde.

Auch dem Film geben Sie in der Ausstellung Raum.
Neben dem Journalismus produziert auch der Film Stereotypen und nährt das Imaginäre. Die nigerianische Künstlerin Oroma Elewa setzt sich mit den Stereotypen innerhalb des nigerianischen Populärkino, bekannt als Nollywood, auseinander. Der russische Künstler Aleksey Vasilyew dokumentiert das komplett unabhängige Underground-Kino in Sibirien, in einer entlegenen Region Russlands, in Jakutien. Er zeigt, wie sich die Menschen nach Film sehnen, nach Filmen dürsten. Sie schaffen sich ihr eigenes Kino in ihrer Gemeinde. Die Menschen dort spielen in ihren eigenen Filmen, strahlen diese auf ihrem eigenen Fernsehkanal aus und sehen sie sich an. Es ist, als würden sie sich selbst zusehen.

Alexey Vasilyev, Sakhawood, 2018–19 © Alexey Vasilyev

Als weiteres Ausstellungsmotiv nennen Sie tenderness, Zärtlichkeit...
Das Wort tender ist zweideutig. Tenderness bedeutet zunächst Zärtlichkeit, also Zuneigung, Nähe, Empathie, Sympathie. Im Englischen hat das Verb to tender aber noch eine Bedeutung: Man unterbreitet ein Angebot für ein Projekt. Man macht einen Vorschlag, und dieser Vorschlag wird tender genannt. Wir spielen also mit dieser Zweideutigkeit von Transaktion, um auf die Rolle der Fotografie hinzuweisen. So haben wir Künstler*innen eingeladen, die vorschlagen, den Code des Porträts zu ändern, indem sie sich innerhalb der Gemeinschaft positionieren, nicht außerhalb.

So wie Claudia Andujar, die Mitglieder der indigenen Volksgruppe der Yanomami porträtiert.
Man muss sich das so vorstellen: Claudia Andujar war Schweizerin und Rumänin, ging in den 1960er Jahren als Fotojournalistin nach Brasilien und entwickelte zu den Yanomami eine Beziehung, die so weit ging, dass sie aufhörte, eine Außenseiterin zu sein. Sie wurde zur Insiderin. Sie lebte mit ihnen, aß ihr Essen, lernte ihre Sprache. Und mit ihren Porträts versucht Claudia Anujar, die inneren Träume der Menschen darzustellen.

Das führt zu einem generellen Aspekt der Fotografie. Ihr scheint der Dualismus zwischen der oder dem Fotografierenden und den Fotografierten eingeschrieben. Wir haben stets eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Kann der Begriff Tenderness da etwas aufbrechen?
Genauso ist es. Es geht darum, dass der Fotograf oder die Fotografin sich in Empathie, in Zärtlichkeit, in einem gemeinsamen Kampf engagiert. Wenn die Fotografierenden Teil jener Gruppe sind, die sie fotografieren, schaffen die Fotos auch eine Gemeinschaft. Man denke an die Kämpfe der LGBTQi. Wenn da der oder die Fotograf*in das Gefühl hat, eine der Personen zu sein, die fotografiert werden, ist das Ergebnis ein völlig anderes. Da ist Intimität und Vertrauen, und es entsteht eine andere Form der Darstellung vor der Kamera.

Claudia Andujar, Xirixana Xaxanapi thëri mixes banana porridge in a suspended trough capable of storing up to 200 liters of food for the holidays, Catrimani, aus der Serie The House, 1974–1976. Courtesy Galeria Vermelho

Haben sozialdokumentarische Fotografen*innen nicht schon immer versucht, sich ihren Objekten mit Empathie zu nähern? Und gibt es einen Unterschied zwischen Zärtlichkeit und Empathie?
Da gibt es sicher einen Unterschied. Die Position der Fotograf*innen ist nicht: »Oh, was ihnen passiert, ist ungerecht, und ich werde es festhalten, um es dem Rest der Welt zu zeigen«. Die Position ist: »So sind wir. Das sind wir.« Es ist nicht immer negativ, ein Außenseiter zu sein. Ich will damit sagen, dass die Fotografie uns geholfen hat die Lebensrealität bestimmter Gruppen von Menschen zu verstehen, die abseits der Norm leben. Wir sollten nicht nur akzeptieren, dass es sie gibt, sondern ihnen auch Raum geben. Claudia Andujars Darstellung der Yanomami macht sie nicht zu Exoten.

Koyo Kouoh hat darauf hingewiesen, dass die koloniale Dokumentarfotografie ein Instrument der Machtausübung war.
Allerdings sind die Machtverhältnisse hier völlig anders. Das ist also das zweite Motiv. Das dritte Motiv, die Landschaftsfotografie, knüpft nahtlos daran an. Auf diese Weise bekommt man einen Eindruck von der Prägung durch das Anthropozän. Davon, was wir mit unserer Erde gemacht haben. Wir haben zwei Fotograf*innen, die die Landschaft von oben fotografieren. Die ausgewählten Landschaftsfotografien zeigen nicht nur den Abdruck des Menschen, sondern auch von Menschen gemachte Landschaften, das heißt Grenzen, die Kontrolle über ein Territorium und die Bewegung von Körpern in diesem Territorium. Die Bäume werden entfernt, man setzt Stacheldraht. Fazal Sheikh hat die Wüste Negev aus der Vogelperspektive fotografiert. Er zeigt, wie diese Wüste, der Lebensraum von Beduinen, vom israelischen, ägyptischen und anderen Militär eingenommen wurde. Der isländische Fotograf Ragnar Axelsson hat die Gletscher Islands fotografiert, dort, wo kein Mensch hinkommt, wo aber die Spuren des Klimawandels sehr sichtbar sind, da sie schmelzen. Und sie sind besonders schön und rätselhaft. Sie sehen aus wie Radierungen.

Fazal Sheikh, Desert Bloom, October 9, 2011, LATITUDE: 31°21‚7”N / LONGITUDE: 34°46‚27”E © Fazal Sheikh. Courtesy the artist

Die französische Fotografin Anne-Marie Filaire hat sich ebenfalls viel mit Landschaften aus einer anderen Perspektive beschäftigt.
Wir zeigen zwei Werkserien von ihr: Eine ist ein Video, eine Montage von Fotografien, die 2007 in Palästina, Israel und Eritrea entstanden ist und die sich mit Grenzen und Grenzgebieten befasst. Und wir zeigen ihre sehr überraschende neue fotografische Arbeit. Es geht im Grunde um die Peripherie des neuen Paris. Paris wird für die Olympischen Spiele erweitert. Sie graben die Erde aus, um eine neue Bahnlinie zu bauen. Und diese Erde wird abgetragen und vorübergehend aufgetürmt. Wir sprechen hier von Tausenden von Tonnen Erde, die am Rande von Paris aufgeschüttet werden. Wenn Sie die Fotos sehen, werden Sie nicht glauben, dass das Paris ist. Eher eine Wüste im Westen der USA.

Welches ist das vierte Motiv, das die Ausstellung aufgreift?

Beim vierten Motiv geht es um Materialität und Alchemie. Hier kommen wir zur konzeptionellen Fotografie. Denn im Grunde ist die Fotografie ja ein chemischer Prozess. Man hat Salz, Silber, chemische Fixiermittel. Der Video-Künstler Vartan Aviakan, der auch im Vorstand eines Archivs für Fotografie im Libanon ist, des Arab Image Archive, hat bemerkt, dass sich im Staub, der sich auf dem Filmmaterial und auf den Fotos ablagert, winzige Silberpartikel befinden. Und eine der Fragen, die er stellt, lautet: Ist dieses Silberteilchen nicht das Archiv? Aviakan nimmt ein Elektronenmikroskop, sammelt den Staub, destilliert die Silberpartikel, die er fotografiert hat, und zeigt sie auch in kleinen Petrischalen.

Vartan Avakian, Suspended Silver: Dispersion 024, 2015 © Vartan Avakian

So entsteht etwas völlig Neues.
Was ist ein Bild? Was ist ein Archiv? Die ägyptische Künstlerin rana elnemr glaubt, dass wir aus Energien bestehen. Aus Wellen. Und dass wir in jedem Moment im Einklang mit der Konfiguration der Sterne sind. Denn die Energien im Kosmos beeinflussen uns. Wenn Sie also ein Foto von einer anderen Person machen, sind Sie dann wirklich voneinander getrennt oder sind Ihre Energien miteinander verbunden? Und wenn Sie auf den Auslöser drücken – bleibt dann irgendetwas von dieser energetischen Interaktion auf dem Bild? Die Frage ist im Grunde: Können wir wirklich eine Präsenz einfangen? Und sie durch einen alchemistischen Prozess auf ein Stück Papier bringen und sagen: Das ist eine Zitrone. Dies ist ein Tisch.

All diese künstlerischen Arbeiten hinterfragen die Vorstellung von der Erfassung der Realität durch die Fotografie.
Das ist wahrscheinlich das konzeptionellste Motiv der Ausstellung. Wir haben die Ausstellung nicht in Kapitel aufgeteilt, sondern versucht, einen Fluss zu schaffen und hoffen, dass die Besucher*innen den Weg durch die Ausstellung finden, ihre eigenen Eindrücke verweben, ohne dass ihnen gesagt wird: Schau dir das an, siehst du das? Es gibt einen Ausstellungsführer, in dem unsere Ideen und Gedanken erklärt werden. Eine Ausstellung zu erleben, ist wahrscheinlich eines der schönsten Erfahrungen, weil man sich etwas ausdenken kann. Sie ist zutiefst subjektiv. Letzten Endes ist das, was man entdeckt, was zählt und bleibt.

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Rasha Salti ist Forscherin, Autorin und Kuratorin für Kunst und Film. Salti hat Filmprogramme weltweit kuratiert, vom MoMA in New York bis zum Haus der Kulturen der Welt in Berlin. 2011 war sie eine der Ko-Kurator*innen der Sharjah Biennale. Sie verantwortet zahlreiche Veröffentlichungen als Autorin und Herausgeberin, darunter mit Issam Nassar das Buch I Would Have Smiled: A Tribute to Myrtle Winter-Chaumeny, das dem Vermächtnis der britischen Fotografin und Gründerin des UNRWA-Fotoarchivs gewidmet ist. Sie lebt und arbeitet zwischen Beirut und Berlin.

Melanie von Bismarck arbeitet als freie Kulturjournalistin und Autorin, unter anderem für den NDR. Darüber hinaus produziert sie Audio-Guides für Ausstellungshäuser.

Die Ausstellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE ist bis zum 18. September 2022 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.


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