»Fotografie war mir zu zweidimensional«
25. November 2022
FOTO: JAKOB BOERNER
25. November 2022
Frau Marie, Styx ist in der griechischen Mythologie eine Flussgöttin und zugleich ein Grenzfluss zwischen Erde und Jenseits, sie ist die Tochter der Dunkelheit und die Mutter der Stärke. Wie sind Sie auf diesen Mythos gekommen?
Meine Projekte nehmen immer auch Bezug auf eine Geschichte, dabei arbeite ich besonders gern mit Mythen und verwebe sie mit autobiographischen Gesichtspunkten – also von mir gelebte, aber zugleich universelle Erfahrungen wie Verliebtsein oder auch Trauer. Auch das Thema der Metamorphose zieht sich wie ein roter Faden durch mein Werk. Zum einen interessiert mich dabei die Metamorphose der Mythen selbst, sprich wie sich die Geschichten im Laufe der Zeit verändern, und zum anderen beschäftige ich mich mit der Metamorphose innerhalb von Mythen, wenn sich zum Beispiel eine Gottheit in einen Menschen verwandelt. Dann gibt es noch einen dritten Aspekt: In der bildenden Kunst gibt es ja die Metamorphose von Körpern in Medien oder Materialien.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn sich Fotografien zum Beispiel in eine Skulptur-Installation verwandeln oder auch in der Bildhauerei, wenn ich Materialien verwende, die ihren Zustand während meiner Arbeit verwandeln. Wachs beispielsweise ist zunächst flüssig und geht dann während des Schaffensprozesses in den festen Aggregatzustand über.
Um noch einmal auf den Ursprungsmythos Ihrer aktuellen Arbeit zurückzukommen: Warum haben Sie sich gerade für die Styx entschieden?
Letztlich habe ich den Mythos der Styx gewählt, weil das Projekt während der Pandemie entstand. Wir wurden jeden Tag mit zahlreichen Geschichten über den Tod konfrontiert – die Styx symbolisiert ja die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Es gefällt mir außerdem, dass in dem Mythos nur das Leben nach dem Tod thematisiert wird und nicht etwa der Himmel- oder-Hölle-Dualismus. Alles begann mit der Idee, die Fotografien mit dem Verfahren der Blaudrucke entwickeln zu lassen, der sogenannten Cyanotypie. Die Bilder entstehen ja gänzlich ohne Kamera und werden nur durch Sonne und Wasser entwickelt.
Das Wasser ist ein ganz wesentlicher Teil des Styx-Mythos.
Am Ende war irgendwie alles mit diesem Element verknüpft. Die Ausstellung sollte zunächst auch in Australien zu sehen sein, da lag also sehr viel Wasser zwischen mir und dem Ausstellungsort, um nicht zu sagen ein ganzer Ozean. Wegen der Pandemie konnte ich nicht hinreisen. Ich beschäftigte mich also mehr und mehr mit der Idee des Transits und der Transparenz, also des Durchgehens sowie des Durchsehens.
Ein Herzstück Ihrer Ausstellung ist eine Installation, durch
die die Besucher*innen tatsächlich hindurchsehen, aber auch
hindurchgehen können.
Ja, es handelt sich um ein
Labyrinth, das kreisförmig und begehbar ist. Das Material besteht aus
Cyanotypien von Röntgenbildern – da haben wir also die Themen des
Durchsehens (Röntgenbilder, die durch Strahlen entstehen, die den Körper
durchdringen) und des Durchgehens. Es geht mir zwar zum einen auch um
die physische Erfahrung beim Durchschreiten meines Werks, aber das
Durchgehen hat ja eine doppelsinnige Bedeutung, denn auch durch
Erfahrungen muss man hindurchgehen – durch Erfahrungen wie die Pandemie
oder auch durch Gefühle. Und dann gibt es noch, wieder bezugnehmend auf
den Mythos, das metaphorische Überqueren des Wassers.
Schon der begleitende Text zur Ausstellung klingt so mystisch
wie faszinierend. Es ist von einer Göttin die Rede, die in der
Dunkelheit des Raumes erscheint, von Betrachtungen über Tod, Licht und
Leben. Können Sie versuchen zu erklären, was die Besucher*innen der Ausstellung neben der
Labyrinth-Installation erwartet?
Es gibt eine
Video-Performance mit meiner Kollegin, der Künstlerin und Autorin Nina
Boukhrief, bei der fast nichts passiert. Sie ist mit nichts bekleidet
außer mit Kupferflügeln, und sie verkörpert die Göttin Styx.
Gegenüber der Vogue haben Sie bereits erwähnt, dass Sie am liebsten mit Menschen zusammenarbeiten, die Ihnen nah sind.
Das
hat mit Vertrauen zu tun und darum, dass die Menschen, die ich
fotografiere, oft auch das Thema meiner Arbeit sind. Meine erste
Installation handelte von meinem Partner, in meinem Werk Maman
beschäftige ich mich mit meiner Mutter. Es geht immer auch um Intimität
zwischen Menschen und natürlich habe ich mich auch mit den vergangenen
und heutigen Machtdynamiken zwischen Model und Fotograf
auseinandergesetzt. Ein vertrauensvolles Verhältnis ist mir bei meiner
stark autobiographisch geprägten Arbeit sehr wichtig.
Auch der Körper scheint ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Kunst zu sein.
Der
Körper steht sogar im Mittelpunkt meiner Arbeit. Im Grunde gibt es vier
Ebenen: Es gibt zum einen das Bild, das ich fotografiere; dann geht es
darum, dem Foto einen Körper zu geben; und schließlich gibt es noch zwei
andere Körper, die für mich wichtig sind: mein eigener Körper, das
heißt meine teils sehr intensive körperliche Erfahrung beim
Schaffensprozess, und um den Körper der Betrachterin oder des
Betrachters sowie ihre Reaktionen auf das Kunstwerk.
Sie experimentieren gern mit den erweiterten Möglichkeiten
der Fotografie. Was fasziniert Sie an Themen wie Dreidimensionalität und
Stofflichkeit?
Ich habe zunächst Bildhauerei und dann
Fotografie studiert und konnte mich nicht wirklich entscheiden. Ein
Motivator für meine Arbeit war meine Frustration darüber, dass
Fotografie flach und zweidimensional ist. Ich wollte sie in ein
physischeres Material überführen. Hinzu kommt, dass ich mit vielen
Filmen aufgewachsen bin, daraus entstand später meine Faszination für
Filmsets und Installationen. Ich interessiere mich seit jeher sehr für
Materialien und ihre Wirkung. Daher rührt wohl auch meine Neigung zum
Experimentellen.
Apropos Materialien: Was genau hat es mit den Rohren auf
sich, die die Flügel der von Ihrer Kollegin verkörperten Göttin
darstellen?
Es sind Kupferrohre, ganz einfach aus zwei
Gründen: Ich wollte, dass die Flügel aus Metall sind und kriegerisch
aussehen. Außerdem ist Kupfer mit der Farbe Blau verbunden, was wiederum
zum Motiv des Wassers und der Farbe der Cyanotypien passt. Die alten
Ägypter haben uns ja die Farbe Blau beschert und sie unter anderem aus
Kupfer gewonnen. Das Einfärben mit Ägyptischem Blau sollte auf der Reise
ins Jenseits vor dem Auge des Bösen schützen.
Ihr Werk wird zusammen mit dem US-amerikanischen Fotografen Paul Mpagi Sepuya gezeigt. Was verbindet Ihre Arbeit miteinander?
Wir
sind einander bisher noch nicht begegnet, bei uns beiden steht aber der
Körper im Mittelpunkt unserer Arbeit. Ich schätze sein Werk sehr und
bin schon gespannt darauf, es in der Ausstellung zu sehen.
Arbeiten Sie schon an einer neuen Serie oder an einem neuen Thema?
Ich
habe bereits mit der Recherche für eine Arbeit begonnen und lasse mich
dabei von der US-amerikanischen Tänzerin und Choreographin Isadora
Duncan inspirieren. Sie war Feministin und Wegbereiterin des modernen
Ausdruckstanzes und orientierte sich dabei am Schönheitsideal der Antike
als Antipode zum klassischen Ballett. Auch hier arbeite ich wieder mit
dem Medium der Fotografie und mit besonderen Materialien, diesmal zum
ersten Mal nach zehn Jahren wieder mit Keramik. Und wieder werde ich
auch in der neuen Arbeit Geschichten neu erzählen und dabei Stereotypen
infrage stellen.
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Jana Kühle (*1983) lebt und arbeitet als Journalistin, Fotografin und Fotoredakteurin in Hamburg.
Die Ausstellung ALIX MARIE – STYX ist bis zum 26. Februar 2023 im PHOXXI der Deichtorhallen Hamburg zu sehen.