Fotografieren heisst denken
1. Juni 2021
KATHARINA SIEVERDING, O.T. II/2019 (SACHSENHAUSEN) © KATHARINA SIEVERDING / VG BILD-KUNST BONN, 2021
1. Juni 2021
Gleich rechts im Erdgeschoss der Sammlung Falckenberg, dort, wo Katharina Sieverding auf einer Länge von 20 Metern 1.740 Fotos aus ihrem privatberuflichen Leben als Testcuts I-IV deckenhoch tapezieren ließ, taucht er gleich mehrfach auf. Ebenso schräg gegenüber, als Teil einer Collage aus SPIEGEL-Titelbildern. »Weltruhm für einen Scharlatan?« fragte das Magazin damals. 50 Jahre, nachdem Sieverding ihr Studium bei ihm als Meisterschülerin abgeschlossen hat, ist Beuys' Gegenwart in der Ausstellung immer noch zu spüren.
Wie prägend sein Einfluss auf ihr Werk ist, hat Sieverding unlängst selbst noch einmal betont. »Zu meiner Zeit an der Kunstakademie Düsseldorf war Joseph Beuys der einzige Lehrende, der mich interessierte. In seine Emanzipation von alt-traditionellem Kunstverständnis würde ich meine Arbeit von Beginn an einreihen«, sagt Sieverding und ergänzt: »Ich mache keine Fotokunst. Ich benutze die Kamera gesellschaftlich-human. Die Entscheidung, nicht klassisch zu plastizieren oder zu malen, fiel ja sozusagen zum Wohl der sozialen Skulptur.«
Die Erschießung Benno Ohnesorgs im Sommer 1967 bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schahs trifft Sieverding, die vorher als Bühnenbildnerin am Theater arbeitet, tief: »Ich wollte nicht länger die high culture bedienen.« Sie wechselt in die Beuys-Klasse zu Sigmar Polke, Blinky Palermo, Jörg Immendorf und den beiden Imis, Knoebel und Giese. »Ich wollte künstlerische Statements zu solchen Ereignissen verfassen. Das war das, was mich wirklich beschäftigte.«
Es ist später Vormittag. Eine gute Stunde lang war die Künstlerin mit
dem Sammler Harald Falckenberg in ihrer Ausstellung in der ehemaligen
Fabrikhalle der Harburger Phoenix-Werke unterwegs. Jetzt sitzt sie in
einem Seitentrakt des Gebäudes an einem langen Konferenztisch und
erinnert sich: »Damals machte niemand über solche Zusammenhänge Kunst,
und schon gar nicht so, wie ich es vorhatte, nämlich großformatig. Das
entsprach meiner Erfahrung mit dem Bühnenraum, die wollte ich life size
in meiner Arbeit übersetzen. All diese Erfahrungen, die ich gemacht
habe – im Medizinstudium, im Theaterstudium, in der Praxis – sind so
zusammengekommen: Befund, Bildgröße, Inhalte.«
Ende der
1960er-Jahre – das ist die Zeit der Proteste, der Aktionen, der Sit-ins.
Und Sieverding will dabei sein, mitmischen. Also leiht sie sich von Imi
Giese eine Kamera, fotografiert tagsüber die Ereignisse, entwickelt
nachts die Filme und plakatiert am nächsten Tag mit den Abzügen die
Wände der Akademie. Ihr Debüt als Künstlerin und Fotografin im
öffentlichen Raum ist mit Eigenbewegung aus den Jahren 1967 bis 1972 zugleich
ein gesellschaftspolitisches Dokument über den Zustand
West-Deutschlands. »Es war eine erste fotografische Arbeit, die Sinn
ergab und die für mich zu einem Beleg für den »Erweiterten Kunstbegriff«
wurde. Das war eine entscheidende Erfahrung«, so Sieverding.
1969 entsteht auch der Stauffenberg-Block I-XVI.
Mit 16 glutroten Close-ups gelingt Sieverding die geradezu
malerische Transformation einer Fotoreihe, die an Andy Warhols
Porträt-Serien erinnert. Eine Arbeit, die bereits wesentliche Elemente
künftiger Werke enthält. Da ist zum einen die Verwendung von
Schwarzweißaufnahmen aus einem Passbildautomaten, die Sieverding
reproduziert, kopiert, spiegelt und solarisiert und schließlich von ihr
als Negativ rot über die gesamte Papierbahnbreite belichtet werden.
Dadurch ergibt sich ein weiteres wichtiges Merkmal: das monumentale Maß
von 190 x 125 Zentimetern – von nun an Sieverdings Standardformat für
Porträtarbeiten.
Und da ist zum dritten der Inhalt: die
Verschmelzung ihrer persönlichen Bildnisse mit der politischen Botschaft
– in diesem Fall die Verbindung ihres durch die extreme Nahaufnahme
nahezu entindividualisierten Gesichts mit dem Namen eines
Widerstandkämpfers gegen den Nationalsozialismus: »Ich bin selber noch
während dieser Zeit geboren, deswegen habe ich das auch zum Anliegen
meiner Kunst gemacht.«
Das eigene Gesicht erscheint Sieverding
als das ideale Medium zur Reflexion. Während des
forschend-experimentellen Umgangs mit dem Projekt beginnt sie sich mit
dem zu beschäftigen, was sie in den Selbstbildnissen eingeschrieben sah:
die Auseinandersetzung der Elterngeneration mit dem
Nationalsozialismus, die Frage nach Moral, nach politischer
Verantwortung und nach dem, was Widerstand bedeutet. Denn in der
Beuys-Klasse wird häufig über individuelle Verantwortung diskutiert und
darüber, ob Kunst gesellschaftliche Konventionen und Normen zu
durchbrechen vermag.
1978, knapp zehn Jahre später, thematisiert Sieverding mit Schlachtfeld Deutschland
ein anderes deutsches Trauma: die Terrorakte der Roten Armee Fraktion
und die Gewalt des Staates als Antwort. Eine Gruppe schussbereiter
Männer des Polizei-Spezialkommandos GSG9 ist zu sehen, abgezogen als
magenta eingefärbtes und mehrfach übereinander geschichtetes Negativ
einer Schwarzweißaufnahme. Das Foto aus dem SPIEGEL, von Sieverding als
Found Footage genutzt, zeigt den Moment der Erstürmung der
Lufthansa-Maschine Landshut am 18. Oktober 1977, die fünf Tage
zuvor entführt worden war, um die in Stuttgart-Stammheim inhaftierte
RAF-Spitze freizupressen.
Durch die Vergrößerung ins Monumentale,
die grelle Farbe und das Motiv selbst entwickelt das Werk eine
aggressive, bedrohliche Wucht. »Ich halte dieses Bild in Verbindung mit
dem Schriftzug, der Farbe, der Montagedynamik für ein wichtiges
Statement«, so Sieverding. Sie selbst hatte Jahre vor den Ereignissen
mit dem späteren RAF-Mitglied Holger Meins in Hamburg an der HfbK
studiert; das Thema interessierte sie deshalb auch persönlich.
Überhaupt
will Sieverding mit ihren Arbeiten immer wieder zu aktuellen
gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen künstlerisch Stellung
beziehen. So auch mit der Plakataktion Deutschland wird deutscher,
die 1992 in 18 Städten der Kulturregion Stuttgart öffentlich gezeigt
werden sollte. Doch mit Ausnahme von Leonberg weigerten sich alle, das
Werk zu präsentieren. »Es hieß, die Arbeit riefe zu Rechtsradikalismus
auf. Was für ein gewaltiges Missverständnis.« Auf 2,75 x 3,75 Metern ist
ihr mit einem Schleier bedecktes Gesicht zu sehen, umgeben von
heiligenscheinartig angeordneten Messern. Über die Aufnahme legt
Sieverding die Titelzeile eines ZEIT-Textes, der das nachlassende
Interesse der wiedervereinigten Deutschen an der europäischen
Gemeinschaft kritisierte.
Einige Monate zuvor, im Herbst 1991,
hatten Neonazis in der sächsischen Stadt Hoyerswerda tagelang ein
Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen und ein
Flüchtlingsheim attackiert. »Plötzlich wurde deutsch sein wieder mit
Faschismus und Rechtsradikalismus verbunden«, erinnert sich Sieverding.
»Dass meine Arbeit damals abgelehnt wurde, war bezeichnend dafür, wie
Kunst im Kulturbetrieb hier verstanden wird. Ich setze in meinen
künstlerischen Statements ja bewusst auf Widersprüchlichkeiten.« Schließlich hätte die Aussage von Deutschland wird deutscher
auch positiv aufgefasst werden können, ergänzt sie, als »Deutschland
ist wiedervereinigt«. Vor Kurzem zeigten die Kunst-Werke Berlin das Motiv
auf mehr als 500 Plakatflächen in Berlin, in Hamburg ist es als Teil
der Slide-Show Metroboards zu sehen.
1992 – das ist auch das Jahr, in dem Sieverding ein weiteres eindrückliches Werk gelingt: Kontinentalkern VI,
ein fünfteiliges Fotogemälde, das im Reichstagsgebäude an die
verfolgten Abgeordneten der Weimarer Republik erinnert. Im Zentrum der
großen Installation steht die Röntgenaufnahme einer menschlichen
Wirbelsäule, überlagert von einem Tumor der Bauchspeicheldrüse sowie den
gelb-rot lodernden Flammen einer Sonneneruption. Damit setzt Sieverding
ihre Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit fort, die sie
mit dem Stauffenberg-Block 1969 begann – und mit Deutschland wird deutscher um das Wiederaufleben völkischen Gedankenguts in der Gegenwart erweitert.
»Fotografieren
heißt für mich denken«, hat Sieverding einmal gesagt – und als
Beuys-Schülerin bedeutet das für sie, nach Antworten auf die Frage zu
suchen, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander
zusammenhängen. »Wenn ich etwas fotografiere, erkenne ich dahinter
weitere Ebenen, zum Beispiel die historische Ebene des
Nationalsozialismus.« 2006 überblendet sie für Encode VII die
Aufnahme vom Berliner Holocaust-Mahnmal, Eisenmans Stelenfeld, mit einer
Fotografie vom Bronzemodell es Konzentrationslagers Sachsenhausen. 13
Jahre später nutzt Sieverding dieses Foto erneut, diesmal jedoch
kombiniert mit einer Aufnahme von der Reichstagskuppel, betitelt als O.T. II/2019 (Sachsenhausen).
Für
ihre neuen Arbeiten hat sich Sieverding viel mit der Pandemie
beschäftigt. »Plötzlich ist alles zum Stillstand gekommen, in
Deutschland und in der Welt«, sagt sie. »Wir befinden uns in einem
Krieg, und das Feindbild, das ist das Coronavirus.« Sie werde weiter über
die Zusammenhänge nachdenken, sagt Sieverding zum Abschied – »und nach
Antworten in der Kunst suchen.«
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Gunthild Kupitz ist Kunsthistorikerin und arbeitet als freie Journalistin und Textchefin in Hamburg.
Die Ausstellung KATHARINA SIEVERDING – FOTOGRAFIEN, PROJEKTIONEN, INSTALLATIONEN 2020–1966 ist noch bis zum 25. Juli 2021 in der Sammlung Falckenberg zu sehen.