Friede in der Torte

Mal lustig, mal ernst, mal böse – in seinen Kinderbüchern wollte Tomi Ungerer seinen jungen Leser*innen einen Vorgeschmack auf das echte Leben geben. Warum sie bis heute zurecht ihren Platz im Regal haben. VON MARTIN VERG

1. Februar 2022

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Die Szenerie ist gespenstisch: Vasco irrt durch einsame, kahle Straßen, blind seinem Schatten folgend, der ihm den Weg weist und ihn dabei vor Schlimmerem bewahrt – wenn Gebäude haarscharf hinter ihm einstürzen, Fluten steigen, Schiffe sinken.

»GERADE NOCH RECHTZEITIG«, wie es jedes Mal in Versalien zu schreien scheint.

Irgendwann landet Vasco in einem verlassenen Krankenhaus. Ein trostloser Ort. Kein Personal weit und breit, ein einziges Bett ist noch belegt. Darin eine sterbenskranke Mutter, die ihn bittet, sich ihres Kindes anzunehmen: Poco, ein grünliches, insektenartiges aber durchaus niedliches Wesen. Ab hier stolpern die beiden gemeinsam durch diese ebenso surreale wie ängstigende Welt.

Erstaunlicherweise endet das Ganze gut. Vasco und Poco finden ein neues Zuhause, wiederum reichlich surreal, in einer riesigen, begehbaren Torte. Vasco geht ab und an seinen Schatten besuchen, der vor der Tür geblieben ist. Poco wächst zu einem begnadeten vegetarischen Pianisten heran. »Soweit ich weiß, sind sie nach wie vor dort und werden in Frieden immer älter«, schließt der Erzähler die Geschichte.

Sie lässt mich mit einem schwer beschreibbaren Gefühl zurück. Verstört, fasziniert, getröstet durch den überraschend versöhnlichen Ausgang. Aber vor allem erstaunt: Das ist Tomi Ungerer?

Tomi Ungerer Non Stop, Aus dem Englischen von Peter Torberg und Sophie Torberg, © 2019 Diogenes Verlag, Zürich

Non Stop heißt das Buch. Es ist Ungerers letztes, erschienen 2019 kurz nach seinem Tod. Und so ganz anders – zumindest als alles, was ich kannte und wie ich Tomi Ungerers Werk bis jetzt wahrgenommen hatte. Für mich heißt Ungerer Die Drei Räuber, aus dem Großen Liederbuch mit den vielen bunten und liebevollen Illustrationen, eine Hommage an seine Heimat im Elsass, habe ich meinen Kindern vorgesungen. Eine apokalyptische Endzeitgeschichte, die damit beginnt, dass die gesamte Menschheit auf den Mond ausgewandert ist? Wäre ich im Traum nicht draufgekommen.

Wahrscheinlich ist genau das der Grund, warum Aria Ungerer, Tomis Tochter, Nachlassverwalterin und Kuratorin der Ausstellung TOMI UNGERER – IT'S ALL ABOUT FREEDOM in der Sammlung Falckenberg, zu mir gesagt hatte: »Lies das!« Es sei ein besonderes Werk, wirklich anders als die übrigen der mehr als 150 Kinderbücher, die ihr Vater im Laufe seines Lebens geschrieben und illustriert hat. Viele davon inzwischen regelrechte Klassiker. Wirklich anders, das stimmt – und dann wiederum nicht, und das stimmt auch. Denn, so lerne ich schnell, das gehört eben zu dem, was Tomi Ungerers Kinderbücher ausmacht: Immer wieder etwas Neues zu versuchen, mal lustig, mal ernst, mal böse zu sein. Und doch den immer gleichen roten Faden durchzuziehen. »Stets engagiert, stets politisch«, sagt Aria Ungerer. Und mehr noch: »Ungerers Geschichten haben den Blick auf Gut und Böse verändert. Damit hat er die Türen weit aufgemacht zu einer neuen Art der Kinderliteratur«, benennt es Dirk Luckow, Chef der Deichtorhallen, zu denen die Sammlung Falckenberg gehört. Türen aufgemacht und andere inspiriert, wie etwa den Amerikaner Maurice Sendak, dem die Welt Wo die wilden Kerle wohnen verdankt.

Allerdings haben diese Türen anfangs durchaus mal geklemmt. Aber von vorn.

Tomi Ungerer Die drei Räuber, Aus dem Amerikanischen von Tilde Michels
© 1967 Diogenes Verlag, Zürich

Als Ungerer 1956 Europa verlässt, um in New York neu zu starten, tut er das vor allem auf zwei Feldern, Werbung und Kinderliteratur. Warum? »Es war die Aussicht aufs schnelle Geld«, sagt Thérèse Willer, Leiterin des Tomi-Ungerer-Museums in Straßburg und neben Aria Ungerer und Dirk Luckow Kuratorin der Ausstellung in Hamburg.

Werbung, okay. Aber Kinderbücher? Als jemand, der selbst für junge Zielgruppen schreibt, bin ich etwas erstaunt.

Willers Erklärung leuchtet ein: »Damals war der Markt eben lange nicht so gesättigt wie heute.« Das wirtschaftliche Motiv wäre im Übrigen noch bis zum Schluss ein treibendes gewesen. Auch wenn natürlich längst keine so große Notwendigkeit mehr bestand wie zu Anfang. Das Honorar für Das große Liederbuch beispielsweise, hätte Ungerer sein Grundstück in Irland bezahlt, wohin er Mitter der 1970er Jahre übersiedelte.

Ein Auslöser für diesen Treiber und die daraus resultierende Produktivität – wie gesagt: mehr als 150 Titel! – mag Tomi Ungerers Armutserfahrung aus der eigenen Kindheit gewesen sei, spekuliert Willer, nachdem sein Vater früh gestorben war und die Mutter alleinerziehend vier Kinder großziehen musste.

Aria Ungerer stimmt dem Befund zu. »Aber das ist natürlich nicht alles«, ergänzt sie. »Es hängt auch damit zusammen, dass Tomi zeitlebens in seinem Herzen ein Kind geblieben ist, das sich vollkommen von seiner Fantasie einnehmen lassen konnte. Das sich aber auch gern ganz bewusst in seine Fantasiewelten zurückgezogen hat.«

Eine Art mentale Überlebenstechnik, wenn die Realität zu stressig ist?

Tomi Ungerer Die Abenteuer der Familie Mellops, Aus dem Amerikanischen von Anna Cramer-Klett
© 2006 Diogenes Verlag, Zürich

Das passt auf eine Art gut zusammen mit dem wirtschaftlichen Antrieb aus der Armutserfahrung. »Das führte aber auch dazu«, ergänzt Aria Ungerer und verrät damit vielleicht den anderen Teil von Tomi Ungerers Erfolgsrezept, »dass mein Vater stets überzeugt war: Wenn mir etwas gefällt, gefällt es auch Kindern.«

Fest steht: Viele der Geschichten, die er für ein junges Publikum schrieb, wurden extrem erfolgreich. Gleich der Erstling, Die Mellops fliegen, erschienen 1957, wurde preisgekrönt. Viele werden bis heute aufgelegt und gehören quasi zur Standardausstattung eines Kinderzimmer-Bücherregals – siehe oben.

Allerdings gab es auch früh Kritik. Die Themen zu hart, die Figuren zu befremdlich. Eine Schlange wie »Crictor«, ein Tintenfisch wie »Emil« oder die Schweinefamilie Mellops als Helden? Unsere armen Kinder! Und als Ungerer Ursula Nordstrom, seiner amerikanischen Verlegerin, Die drei Räuber vorlegte, war das zu viel. Ein Waisenmädchen, das sich mit Verbrechern anfreundet? Laut Ungerer hat seine Verlegerin nie erklärt, was sie zu ihrer Absage bewog. War das Buch zu ­– anders? Kinderbücher hatten vorzugsweise harmlos zu sein, eine heile Welt zu präsentieren, das Einschlafen zu erleichtern und sollten bitte kein Risiko darstellen, düstere Träume heraufzubeschwören. Schwierig, wenn sich jemand nicht daran orientieren will, sondern Wilhelm Busch und den Struwwelpeter als Vorbild nennt. Wenn jemand, wie Thérèse Willer es sagt, Moral über Moralismus stellt: »Tun die drei am Ende nicht das richtige, obwohl sie das Gesetz brechen, indem sie wie Robin Hood mit ihrer Beute denen helfen, die es einfach am nötigsten brauchen?«

Tomi Ungerer Emil, der hilfreiche Tintenfisch, Aus dem Englischen von Anna Cramer-Klett, © 1980, 2018 Diogenes Verlag, Zürich

»Kinder sollten traumatisiert werden«, hat Tomi Ungerer später selbst einmal seine Haltung dazu formuliert. »Ein Kinderbuch sollte Kindern einen Vorgeschmack auf das echte Leben geben – auch wenn der kein guter ist.« Und »Kinder sollen ruhig Angst haben, wenn es ihnen dabei hilft, zu lernen, wie man seine Angst überwindet.«

Trotzdem lehnt Nordstrom ab. Was in dem Moment ein Schock für Ungerer gewesen sein mag, stellte sich bald als Glücksfall heraus. Denn statt in den USA wurden Die drei Räuber nun zunächst von Georg Lenz in Deutschland veröffentlicht – ein erster Brückenkopf zurück nach Europa, wo bisher keines von Ungerers Bücher erschienen war, wo sie nun aber fortan auf Deutsch und auch Französisch herauskamen. Ein wichtiger Schritt in die Internationalität.

Dass man sich aus moralischen Gründen scheuen könnte, eine Geschichte wie die von den Räubern und dem Waisenmädchen zu veröffentlichen, ist heute unvorstellbar. Oder? »Naja, es gibt immer noch Menschen, die halten die Geschichte für zu gruselig, um sie Kindern zuzumuten«, weiß Aria Ungerer. Gleichzeitig fällt es ihr schwer, das zu verstehen: »Man spürt doch von Anfang an, dass diese Räuber nicht halb so wild sind, wie sie tun. Allein die Art und Weise, wie sie zärtlich, beinahe mit mütterlicher Fürsorge das kleine Mädchen mit sich tragen.«

Und so ist es! Bei allem Vorgeschmack auf das echte Leben spricht doch aus jeder Geschichte an irgendeiner Stelle Wärme, Liebe und Hoffnung. »Das Kind im Herzen«, wie Aria Ungerer es genannt hatte. Das sorgenfreie und selbstgenügsame Leben in der begehbaren Torte.

Wenn man sie fragt, welches das wichtigste Kinderbuch ihres Vaters ist, hat sie deshalb zwei Antworten: »Literarisch und vielleicht auch literaturgeschichtlich sind es auf jeden Fall Die drei Räuber. Für mich persönlich ist es sein letztes Buch. An Non Stop haben wir bis zum Schluss gemeinsam gearbeitet. Es ist so ganz anders. Lies das!«

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Martin Verg ist Journalist und Autor. Er schreibt seit vielen Jahren Bücher für junge Leserinnen und Leser.

Die Ausstellung TOMI UNGERER – IT'S ALL ABOUT FREEDOM ist bis zum 24. April 2022 in der Sammlung Falckenberg zu sehen. Am Samstag und Sonntag, 5. und 6. März 2022 ist der Eintritt frei.


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