Hinter dem Spiegel
6. Januar 2022
OMER FAST, STILL AUS DEM FILM AUGUST, 2016 © FILMGALERIE 451/ STEFAN CIUPEK / JULIA M. MÜLLER
6. Januar 2022
August – wer? Dass sich hinter dem schlichten Titel des Kurzfilms des israelischen Künstlers Omer Fast zur Zeit einer der wichtigsten und renommiertesten deutschen Fotografen verbirgt, wird dem Betrachter schnell deutlich, spätestens, wenn einige seiner berühmten Aufnahmen im Film auftauchen.
August Sanders Porträtwerk Menschen des 20. Jahrhunderts zählt zu den eindrücklichsten und international bekanntesten Serien und gilt als Vorbild für viele konzeptionelle Fotoserien der Folgezeit, insbesondere im Kontext der Bildenden Kunst. Hinter den hunderten von Porträtaufnahmen, die der Fotograf realisierte, ist das Leben und die Person Sanders zwar nicht unerforscht geblieben, doch selten war seine Biografie selbst Grundlage einer künstlerischen Interpretation.
Längst haben sich zahlreiche der von August Sander (1876-1964) aufgenommenen Porträts in das kollektive Gedächtnis unserer Tage eingeschrieben: Konditor, Hirte, Handlanger, Architekt, Boxer sind nur einige Titel von Sanders bekannten Fotografien, wobei das Porträt der drei Jungbauern, die im Film von Omer Fast vorkommen, ganz sicher seine bekannteste Aufnahme ist. Alle genannten Fotografien waren in seinem Bildband Antlitz der Zeit von 1929 enthalten und gehören zu seiner ambitionierten Porträtserie Menschen des 20. Jahrhunderts, an der er seit Mitte der Zwanzigerjahre arbeitete. Sanders Ziel war es, nichts weniger als die gesamte Gesellschaft der Weimarer Republik im Porträt festzuhalten.
Was für ein ambitioniertes Projekt! »Mit Hilfe der reinen
Photographie ist es uns möglich, Bildnisse zu schaffen, die die
Betreffenden unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie
wiedergeben,« schreibt Sander 1925 in einem Brief an den Fotohistoriker
Erich Stenger. »Von diesem Grundsatz ging ich aus nachdem ich mir sagte,
daß wenn wir wahre Bildnisse von Menschen schaffen können, wir damit
einen Spiegel der Zeit schaffen.«
Dieser Spiegel der Zeit sollte über eine Art Index der Gesellschaft
geschaffen werden. Hierfür hatte sich Sander zunächst ein Ordnungssystem
aus sieben Gruppen überlegt (Der Bauer, Der Handwerker, Die Frau, Die Stände, Die Künstler, Die Großstadt sowie Die letzten
Menschen), doch diese Hauptmappen mussten schnell fortwährend erweitert
und angepasst werden, je weiter er die Gesellschafts- und Berufsgruppen
differenzierte, die er wiederum in 45 Mappen untergliederte. Alle
Porträts sollten möglichst vergleichbar und neutral erscheinen, daher
wurden die Personen zumeist im Ganzkörperporträt, als Halbfigur oder
Kniestück in berufstypischer Umgebung oder vor neutralem Hintergrund mit
wenigen Accessoires aufgenommen.
Doch konsequent war Sander nie: schon die erste Mappe mit
Bauernporträts, die zum Teil schon vor dem 1. Weltkrieg in Dörfern des
Westerwalds entstanden, unterscheidet sich von den später bevorzugten
Aufnahmesituationen. Die Aufnahmen der Bauernfamilien zeigen selten den
berufstypischen Umraum oder die Arbeitskleidung, denn die Porträtierten
wünschten sich eine möglichst repräsentative Darstellung in
Sonntagsanzug, Tracht und mit unverzichtbaren Accessoires wie Buch,
Brille oder Pfeife für das Familienalbum.
Dieser Wunsch der
Selbstinszenierung entsprach weit weniger dem Wunsch einer
dokumentierenden Fotografie, so wie sie der Fotograf immer verstanden
wissen wollte.
Auch das Bild der Jungbauern, heute eine Inkunabel der
Fotografie, entstand vor Beginn des eigentlichen Projektes: wie zufällig
scheinen die drei jungen Männer dem Fotografen 1914 vor die Kamera
gelaufen zu sein, denn Sander bemühte sich um einen möglichst spontanen
Eindruck. Die drei halten im Laufen inne, schauen direkt in die Kamera,
doch alles ist genau geplant und inszeniert. Die vermeintliche
Momentaufnahme ist arrangiert und erscheint so wie eine versöhnliche
Brücke zwischen genauer Atelierpose und zufälliger Freiluftaufnahme.
Omer Fast gibt in seinem Film dieser Szene der
Inszenierung breiten Raum, verweist umso mehr auf die Regie des
Fotografen. Durch Kleidung und Haltung und Gesten stellt Fast mit den
Schauspielern das berühmte Vorbild nach, doch durchbricht er die
Perfektion spielerisch, beispielsweise, wenn im Hintergrund auf dem
gemähten Feld moderne runde Strohballen zu sehen sind, die es 1914 in
dieser Form noch nicht gegeben hat.
Dem Filmemacher geht es auch nicht
um die perfekte historische Rekonstruktion, sondern er verwebt
assoziativ das Werk des Fotografen mit einer dramatischen, filmischen
Erzählung, die zwischen verschiedenen Zeitebenen springt und durch
Klang, Musik, Farbe und nicht zuletzt den 3D-Effekt des Films ganz neue
Aspekte in das Erleben des Publikums einbringt.
Im Zentrum des Films steht der Schmerz Sanders über den Verlust
seines Sohnes. Erich Sander (1903-1944) war ebenfalls Fotograf, wurde
1935 aufgrund seiner Widerstandstätigkeit für die SAPD zu langer Haft
verurteilt, in der er 1944 in Siegburg verstarb. Nicht nur ist er selbst
mit einem Porträt in der Sammlung seines Vaters vertreten, sondern – so
suggeriert es auch Fast in seinem Film – assistierte er bei den
Aufnahmen. Dass er nun ausgerechnet bei dem Jungbauern-Porträt dabei
gewesen sein soll, ist allerdings eine freie Erfindung des Filmemachers,
denn Ernst Sander war erst elf Jahre alt, als das Motiv von seinem
Vater fotografiert wurde. Hier wie auch an weiteren Beispielen aus dem
Film wird deutlich, dass Fast frei assoziativ mit den Fakten zum Leben
des Fotografen umgeht. Ihm geht es – anders als Sander in seiner Zeit –
nicht um authentische Dokumentation, sondern er hinterfragt ganz bewusst
den vermeintlichen Wahrheitsgehalt historischer Fotografien.
Für Sander war diese Frage noch eindeutig zu beantworten. Wie so
viele seiner Zeitgenossen glaubte er an die dokumentarische Bedeutung
der Fotografie – für ihn galt: »Das Wesen der gesamten Photographie ist
dokumentarischer Art.« So einfach und schlicht sein Anspruch auch war,
so ist dieser Ansatz auch schon damals zu hinterfragen gewesen. Aus der
Distanz von über 100 Jahren Fotografiegeschichte ist er es umso mehr.
Die Porträtfotografie war in den Zwanzigerjahren en vogue,
zahlreiche Fotografen und Fotografinnen widmeten sich dem
zeitgenössischen Abbild via Kameraauge, präsentiert in Ausstellungen und
Büchern, vor allem aber in dem rasant wachsenden Markt populärer
Illustrierter. Hier wurden nicht nur prominente Schauspieler, Sportler,
Künstler oder Politiker porträtiert, sondern man zeigte auch
Alltagsmenschen, beliebige Mitbürger der Zeit. Die Physiognomik, der
Versuch aus dem Äußeren auf das Innere eines Menschen zu schließen,
hatte Hochkonjunktur. Insbesondere Bildnisse von unbekannten
Zeitgenossen sollten dem Publikum ermöglichen, der Zeit und der
Gesellschaft, in der man lebte und die enormen Veränderungen unterworfen
war, direkt ins Gesicht zu sehen.
Typenfotografie war gefragt: Nicht
die Prominenz war mehr entscheidend, sondern die Identität der Person
als Vertreter einer bestimmten Klasse, eines Milieus oder eines
Berufsstandes. Unbestechlichkeit und Respekt sollten auch die Serie von
Sander bestimmen, allerdings sollten eben Individualporträts zu
Typenbildnissen erhoben werden. Sander befeuerte eine virulente
Diskussion der Zeit, die bisweilen auch heute noch geführt wird.
Eine erste Auswahl der Porträts wurde 1927 im Kölnischen Kunstverein
gezeigt, im gleichen Jahr erfolgte die Publikation einer Auswahl von 60
Motiven im Kurt Wolff-Verlag. Die
Einleitung verfasste Alfred Döblin, der damals mit seinem Roman Berlin
Alexanderplatz seinen größten Erfolg feierte. Auch Kurt Tucholsky oder
Walter Benjamin waren voll der Anerkennung und hoben eine aufklärerische
Wirkung hervor. Dies war durchaus auch als Warnung vor der
gesellschaftlichen Gleichschaltung der Nationalsozialisten wenige Jahre
später zu verstehen.
Nach 1933 wurde Sanders Arbeit durch die Nazis
behindert, nicht zuletzt durch das politische Engagement seines Sohnes.
Die Druckstöcke des Buchs wurden zerstört, der weitere Vertrieb
unterbunden. Sander nahm zwar weiterhin Porträts auf, doch widmete er
sich offiziell mehr der Landschaftsfotografie. Auch nach der NS-Zeit
dauerte es noch Jahrzehnte, bis die Potenz der Sanderschen
Porträtsammlung anerkannt wurde, eine Wiederentdeckung erlebte er selbst
nicht mehr.
Heute stellt sich aber neben der Wertschätzung der Gesamtheit der
Bilder als Kulturgeschichte umso mehr die Frage nach dem Wesen der
Fotografien Sanders. Sind sie wirklich so neutral dokumentierend, wie
behauptet? Schafft der Fotograf nicht viel mehr erst durch seine Auswahl
und Inszenierung Idealtypen? Entstehen nicht erst in der Wiederholung
berufstypischer Physiognomien, Haltungen, Gesten und Mimik die Muster
einer klar gegliederten Gesellschaft? Und wie viel Weltanschaulichkeit
steckt in dem Projekt?
Die bestimmende Grundidee, dass jedem Menschen
angesehen werden kann, wer er ist, erscheint zweifelhaft. Wobei die
physiognomische Klassifizierung heute eher mit der so genannten
Rassenlehre der Nazis verbunden ist und Sanders Werkausrichtung eher
einer Hoffnung linker Kulturtheoretiker entsprach. Der Glaube an die
Fähigkeit einer sachgerecht eingesetzten Fotografie, um Wahrheit und
Authentizität allein durch die Grundlage eines technisch präzisen
Aufzeichnungssystems zu erzeugen, ist heute überholt. Nicht zu vergessen
ist jedoch bei Sanders Porträts – trotz der behaupteten Sachlichkeit –
die emotionale Wucht, mit der uns noch heute viele der Bilder treffen.
Gerade in ihrer Brüchigkeit und Sensibilität laden die Porträts ein,
genauer hinzuschauen.
Letztendlich kann auch anhand des Films August der komplexen Frage
nachgegangen werden, ob die Fotografie als Medium die Wahrheit über
Menschen und die Gesellschaft abbilden kann. Die erzählerische Form und
die Verwischung von Dokumentation und Fiktion, wie sie Omer Fast gezielt
in seinen Werken einsetzt, ist Teil eines Genres in der
zeitgenössischen Kunst, der nicht ohne Grund als »Parafiktion« bezeichnet wird.
Spektakulär und einzigartig bleibt Sanders Werk auf
jeden Fall. Und vielleicht ist Omer Fasts subjektiver Zugang zum Werk
auch ein geeigneter Türöffner, um sich nochmals eingängiger mit dem Werk
Sanders zu beschäftigen. Durch die Überführung des Porträtwerkes in
Verbindung mit der dramatisierenden Erzählung vom Lebensende des
Fotografen, in dem er von den Schatten der Vergangenheit heimgesucht
wird, schafft Fast einen ungewöhnlichen Zugang zum Ausgangsmaterial der
Fotografien und lädt umso mehr zu einer Wiederentdeckung von Sanders
Werk ein.
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Ulrich Rüter ist Fotografie- und Kunsthistoriker. Als freier
Autor, Redakteur, Dozent und Kurator arbeitet er für zahlreiche Magazine
(u.a. für Leica Fotografie International) und unterschiedliche
Institutionen, so u.a. auch für die Deichtorhallen Hamburg.
Hören Sie unseren Podcast DAS IST KUNST, in dem Omer Fast ausführlich über seinen Film »August« spricht.
Die AusstellungJACK DAVISON. OMER FAST. FRIDA ORUPABO ist noch bis zum 23. Januar 2022 im PHOXXI zu sehen.