Hyper Diaries #2
24. Oktober 2018
Daniel Blumberg (links) und Max Dax (rechts), Zeichnung auf Papierserviette, 2018, Foto: © Max Dax, 2018
24. Oktober 2018
Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man mit über vierzig Künstler*innen einer Gruppenausstellung in ständigem Gedankenaustausch steht… Es ist bereits über ein halbes Jahr her, dass ich im März in der einsetzenden Abenddämmerung durch den Londoner Hyde Park spazierte, um dort in der Serpentine Gallery Hans Ulrich Obrist – oder HUO – zu treffen. Da es Montag war, waren die Ausstellungsräume der Galerie geschlossen. Ich war ein wenig zu früh für meinen Termin und drehte eine Runde um das allein im Park stehende Backsteingebäude. Durch die Fenster betrachtete ich die narrativen Videospiel-Designs des 1984 geborenen US-amerikanischen Künstlers Ian Cheng – freilich ohne die sie begleitenden Tonspuren vernehmen zu können.
Hans Ulrich Obrist und ich haben uns im Jahr 2009 auf Vermittlung unseres gemeinsamen Freundes Arto Lindsay persönlich kennengelernt, nachdem er mich 2005 erstmals auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Im Interview hatte ich Arto gefragt, wie wichtig der Informationsvorsprung in der künstlerischen Praxis, in seinem Falle: in der Produzententätigkeit für in Brasilien lebende Musiker wie Vinicius Cantuaria, Caetano Veloso oder Marisa Monte sei.
Seine Antwort: »Es geht immer nur darum, als Produzent zu wissen, was passiert. Dazu muss man sich an einem Ort aufhalten, an dem die Informationen zusammenlaufen – um diese dann neu zu verteilen. Der Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist hat mich kürzlich für ein sehr interessantes Buch interviewt, in welchem er unzählige Interviews mit Künstlern und Leuten aus der Kunstwelt versammelt. Zur Zeit übt er seine Arbeit im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris aus, und man kann ihn getrost als Informationsjunkie bezeichnen. Er muss alles wissen, und er muss es sofort erfahren. Egal, wo etwas passiert – jeden Trend muss Obrist wahrnehmen. China ist derzeit sein Interessengebiet, er fliegt mitunter zweimal im Monat dorthin. Er schläft nicht sonderlich viel, dafür liest er um so mehr, und er reist viel. Er lebt als Schweizer in Paris, sozusagen weit ab vom Schuss, was die meisten Entwicklungen anbetrifft. Aber er hat die richtigen Fragen, deshalb sind seine Interviewbücher auch so gut. Ich ähnele Obrist in dem Aspekt, dass auch ich alles wissen will, was mit meinem Arbeitsgebiet zu tun hat.«
Vier Jahre später interviewte ich HUO schließlich für die Spex in Berlin – es war unser erstes Treffen nach ungezählten Telefonaten. Der entsprechende Eintrag vom 27. Juli 2009 in meinem damaligen Blog Dissonanz lautete:
»Dann fuhr er mit dem Taxi nach Mitte, zu Hans Ulrich Obrist, der dort in seiner kleinen Wohnung mit Blick auf die Charité lebt, wenn er denn mal in Berlin verweilt. Bücherberge, Pappkartonmassive voller Kunstkataloge und Zeugs – die ganze Wohnung ist unausgepackt. HUO works and lives in transit.
Nur die Küche ist leer.
»In der Schweiz habe ich mir sogar den Kaffee nach Hause bringen lassen«, sagt Obrist, der die wachen Augen eines Neugierigen und die Rastlosigkeit eines Getriebenen hat: »In der Küche wurde nie je irgendetwas zubereitet.« – »Sie haben immer außer Haus gegessen?« – »Immer.« – »Stimmt es, dass Sie dreißig Espressi am Tag getrunken haben?« – »Die genaue Zahl ist ein Mythos, aber tatsächlich habe ich sehr viel Kaffee getrunken.« – »Jetzt nicht mehr?« – »Jetzt nicht mehr.« – »Stimmt es, dass Sie nur vier Stunden am Tag schlafen?« – »Jein. Ich habe jahrelang nach dem Prinzip Leonardo da Vincis gelebt: drei Stunden Wachsein, fünfzehn Minuten Schlaf, drei Stunden Wachsein, fünfzehn Minuten Schlaf. Es funktioniert! Man muss sich nur peinlichst genau an den Rhythmus halten.« – »Sie haben keine Kinder?« – »Ich habe bisher keine Kinder.«
Zerknitterter, grauer Anzug, weißes Hemd, Sneakers, teurer Füllfederhalter. Ein kleiner Tisch wird in einem Tal des Kartonmassivs freigeräumt, das digitale Aufnahmegerät der Marke Olympus legt er auf den Deckel eines herumliegenden, von Obrist herausgegebenen Interviewbuches mit Thomas Demand, Band #10 der Reihe The Conversation Series.«
Und weitere zehn Jahre später empfängt mich HUO mit schweizerischer Präzision um Punkt 18 Uhr, um mit mir in seinem winzigen, abermals mit Bücherstapeln vollgestellten Office über seine mögliche Rolle in meiner anstehenden Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND SOUND zu sprechen. Denn irgendeine Rolle muss er spielen! Schließlich betreiben wir seit dem Tag unseres Kennenlernens einen ununterbrochenen Schriften- und Musiktausch: Er schenkt mir Kataloge von Künstlern, die ich beobachten soll, ich schenke ihm Vinylschallplatten von Musikern, die er entdecken muss.
Dieses Mal empfiehlt er mir, den blutjungen »amazing« Künstler und Musiker Daniel Blumberg zu entdecken, der derzeit ganz London verzaubere. Und ehe ich mich versehen kann, hat er bereits eine Cyber-Introduction per Email an uns beide verschickt mit der Betreffzeile: »URGENT SUMMIT SOON!«. Nachdem wir uns darauf verständigt haben, dass HUO nicht nur einen Abend improvisierter Musik für die HYPER!-Ausstellung kuratieren, sondern zudem auch das Katalogvorwort in Form eines gemeinsamen Gesprächs beisteuern wird, verlasse ich sein kleines Büro und begebe mich durch die Londoner Nacht zu Fuß in Richtung des nördlich des Hyde Parks in der Nähe des Oxford Circus gelegenen Clubs The Social.
Dort steht mein nächster Termin an, eine Interview-Lesung der Aktionskünstlerin Cosey Funni Tutti mit einem anschließendem Konzert ihres Lebensgefährten Chris Carter. Beide waren in den frühen Achtzigern Gründungsmitglieder der bahnbrechenden Performance-Art-Band Throbbing Gristle. Nach dem Ende der Guppe machten beide weiter als Chris & Cosey.
Als ich nach etwa einer Stunde Spaziergang schließlich vor dem Social eintreffe, werde ich fast von einem schwarzen Taxi angefahren. Heraus steigen der Mute-Gründer und ewige Wegbegleiter von Depeche Mode, Daniel Miller, und ein junger, spindeldürrer Typ, der exakt so aussieht wie Bob Dylan im Jahr 1965. Unsere Blicke kreuzen sich, und Daniel Miller, der über seinem Anzug einen eleganten dunklen Mantel und Hut trägt, zeigt mit dem Finger auf mich: »That’s the guy Hans Ulrich wants you to meet!«. Es stellt sich sogleich heraus, dass es sich bei dem jungen Mann um Daniel Blumberg handelt. In London, so scheint es, geht man zu denselben Events und ist bestens vernetzt.
Im Keller des The Social ist es so voll und so unruhig (und die Verstärkeranlage so leise), dass man beim besten Willen kein Wort von den Antworten Cosey Fanni Tuttis versteht, als sie die Paperback-Version ihrer Autobiografie Art Sex Music im Gespräch mit der Londoner Pandemie-Forscherin Lilith Whittles vorstellt. Daniel Blumberg, der nicht stillhalten kann, zeichnet einen Stapel Papierservietten mit kleinen Portraits der umstehenden Besucher voll, darunter eben Daniel Miller, Andrew Wheatley von der Londoner Cabinet Gallery, die auch Cosey Fanni Tutti repräsentiert, und auch sich selbst und mich. Die fertigen Zeichnungen sortiert er akribisch zurück in den Serviettenhalter.
»Und ehe ich mich versehen kann, hat Hans Ulrich Obrist bereits eine Cyber-Introduction per Email an uns beide verschickt mit der Betreffzeile: »URGENT SUMMIT SOON!«
Ich frage Daniel Blumberg, der wie Ian Cheng ein Millenial, ein digital native, oder, wie Hans Ulrich Obrist es nennt, ein Teil der
Generation 89plus ist, ob er an Zufälle glaube. »I don’t know«, antwortet er und schaut mir in die Augen. Allerdings habe er sich schon
ein wenig gewundert, warum er die Mail von HUO ausgerechnet in dem
Moment gelesen habe, als er im Taxi mit Daniel Miller an der Serpentine
Gallery vorbei gefahren sei – keine fünf Minuten, bevor wir uns begegnen
sollten. Wir verabreden uns für den nächsten Tag zum Atelierbesuch in
Wolthamstow in Nordostlondon. Und was ich dort zu sehen und zu hören
bekomme ist so unglaublich und so wunderschön, dass ich ihn spontan als
Künstler in die Ausstellung einlade.
Eine Arbeit hat es mir besonders angetan: Eine riesige, querformatige Graphitzeichnung auf Papier, die aus vielen gestischen Kringel-Kritzeleien besteht. Man kann diese Arbeit als Partitur lesen, oder als Gruppe von Menschen, als besetzten und als unbesetzten Raum. Den Akt des Zeichnens hat Daniel Blumberg mit zwei Kameras filmen lassen, und dieses Making-of verwurstete er wiederum anschließend in ein Musikvideo zu seinem Song Minus, dem Titelsong seines gleichnamigen, im Sommer diesen Jahres auf Mute erschienenen Debütalbums.
Als ich Daniel Blumberg drei Monate später am 22. Juni 2018 zu einem Gespräch in die Berliner Galerie der Gespräche einlade, lässt er sich kurzerhand am Folgetag ein Konzert im ACUD Club buchen, wo er die Songs seines Debütalbums mit einem komplett über den Haufen geworfenen Line-up – er spielt mit zwei Kontrabassisten und einem Violinisten – in stark veränderten, improvisierten Versionen vorstellt. Wow, denke ich. Wann hat man das zuletzt gesehen? Einen Musiker, der es vor Publikum riskiert, dass keiner die eigenen Songs wieder erkennt?
Es bleibt spannend.
Der Autor und Journalist Max Dax vertritt genau wie der
Soziologe Klaus Theweleit die Position, dass jedes Gespräch das
Potential hat, weit mehr zu sein als die Summe seiner Bestandteile. In
seiner bisherigen Laufbahn war Max Dax Herausgeber bzw. Chefredakteur
von Magazinen wie Alert Interviews, Spex oder dem Electronic Beats
Magazine by Telekom. Als Autor schrieb er Bücher über Nick Cave,
Einstürzende Neubauten, CAN und Scooter. In Berlin kuratiert er das
Programm der Santa Lucia Galerie der Gespräche. Für die Deichtorhallen
entwickelte er das Ausstellungskonzept für die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC, die er zugleich auch kuratiert. Die Ausstellung eröffnet am 28. Februar 2019 in der Halle für aktuelle Kunst.