Hyper Diaries #3
9. November 2018
9. November 2018
Ein Nachmittag im August in der Paris Bar. Die Wände des von Michel Würthle betriebenen Restaurants in der Berliner Kantstraße sind bis auf den letzten Quadratzentimeter mit Bildern zugehängt, darunter ein großformatiger Kippenberger aus der Serie »Lieber Maler, male mir…«, der genau das abbildet, was wir in der Bar sehen: nämlich die Bar selbst mit ihrem schönen, schwarz-weiß gekachelten Fußboden. Es ist, was es ist: Ein Abbild des Raums, in dem wir uns befinden, eine Art Vergewisserung, dass wir existieren, und als Medium dient die Kunst eines Malers, der gerne auch gesungen hat.
Die Stadt ist vom Jahrhundertsommer aufgehitzt. Auf der Terrasse vor dem Lokal sitzt der britische Künstler und einstige Art Director des iD-Magazins, Scott King. Sein Buch Art Works, aber auch sein anarchistisches Crash!-Magazin, dessen Herbstausgabe 1999 der Slogan »Prada Meinhof« zierte, machten King zum Star. Heute ist er zu Gast in Berlin, weil er für das Berliner Pop-Kultur-Festival in der Kulturbrauerei die CI gestaltet hat – romantische, deutsch anmutende Naturidylle, die an die Bildwelten Caspar David Friedrichs erinnern.
Seit Wochen sind wir in Email-Kontakt, da mir vorschwebt, dass Scott King eine Art Meeting Point in der Architektur der HYPER!-Ausstellung baut. Für das Haus der Kulturen der Welt hatte King im vergangenen Jahr 21 Parkbänke in den Farben des Regenbogens anfertigen lassen, die allesamt mit kleinen Plaketten versehen waren, die an verstorbene Berliner Musiker erinnerten, darunter Rio Reiser (Ton, Steine, Scherben), Nikolaus Utermöhlen (Die Tödliche Doris) und Chrislo Haas (DAF/Liaisons Dangereuses). Meine Idee war, ihn um eine Variante dieser Arbeit zu bitten – alte, lederne Ohrensessel, wie man sie gelegentlich in den Kaminzimmern hanseatischer Reedereien finden kann. Ebenfalls hätten diese Ohrensessel als Symbol alten Geldes mit Bronze-Plaketten versehen werden sollen, in die wiederum Namen verstorbener Hamburger Musiker hätten eingraviert werden sollen – nicht zuletzt als Hommage, aber auch als Kommentar zur kulturellen Praxis des Sponsorings und des Stiftens von Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum wie auch zur Vereinnahmung von Kunst und Musik durch die Industrie.
Wenn Parkbänke heute die Namen von Banken oder Investment-Fonds tragen, um daran zu erinnern, wer wirklich der Herr über den öffentlichen Raum ist, nicht die Öffentlichkeit, sondern die Konzerne, ist Scott Kings Arbeit eine empathische Geste. Ich hatte mir eine kleine Liste vorbereitet, die ich mit Scott King diskutieren wollte. In dieser Liste standen unter anderem die Namen von Tobias Gruben, dem 1996 verstorbenen Sänger der Hamburger Band Die Erde, deren Name sich auf die gleichnamige 1919 bis 1920 existierende expressionistische Literaturzeitschrift bezog, Conrad Schnitzler, der als Beuys-Schüler in den Achtzigerjahren an der HFBK lehrte, und Nils Koppruch, ein Maler und Musiker aus Hamburg, der bis zu seinem Tod gemeinsam mit dem in diesem Jahr verstorbenen Maler Karlo Kanibalo im Art Store in der Hamburger Wohlwillstraße regelmäßig ausstellte.
»Scott Kings gigantische Hommage an den Sänger Ian Curtis schlägt tatsächlich alles an Hysterie, und doch ist sie im Kern empathisch.«
Als ich in der Paris Bar eintreffe, befindet sich Scott King in angeheiterter Gesellschaft – mit einem Handstreich wischt er die vorangegangenen Wochen des Austauschs und unseren gesamten Briefwechsel beiseite, wirft dabei fast seinen Weißwein um. Er habe eine viel geilere Idee! Seine Arbeit für die Deichtorhallen werde eine gigantische Hommage an den am 18. Mai 1980 verstorbenen Sänger Ian Curtis sein, eine größenwahnsinnige Meditation darüber, wie weit Fanverehrung und Heldenvergötterung gehen können. Die Arbeit, die King vorschlägt, schlägt tatsächlich alles an Hysterie, und doch ist sie im Kern empathisch. Ich gebe grünes Licht und bestelle mir einen Weißwein, um mit ihm anstoßen zu können.
Tatsächlich ist Scott King nicht der einzige, dessen Beitrag zur HYPER!-Ausstellung das Leben, den Tod und das Werk von Ian Curtis und seiner Band Joy Division thematisiert. Der Pariser Fotograf Julien Lescoeur realisierte im Jahr 2013 eine fünf Arbeiten umfassende Serie von Fotografien, die er Aerolithiques betitelte. In diesen Fotografien versucht Lescoeur eine Klarheit im Kopf, die sich bei ihm beim Hören der Musik von Joy Division einstellt, in die Sprache der Fotografie zu übersetzen. Es handelt sich um eine Art synästhetischen Transfer, den Lescoeur wie folgt beschreibt: »Sie definierten sehr präzise ein in ihrer Musik spürbares, wenn nicht sogar greifbares Momentum einer nach innen gerichteten, fast schon auto-destruktiven Gewaltbereitschaft. Ich suche seitdem nach einer exakten Übersetzung dieses Zustands in meine Fotos. Das ist gar nicht einfach. Im Gegenteil! Selbst wenn man auf einen ganz klar ausdefinierten Sound im eigenen Kopf zurückgreifen kann…«
Julien Lescoeur schwarzweiße Mittelformat-Bilder zeigen invertierte, auf den Kopf gestellte kubische Objekte, fremde Dinge, die sich in eine Architektur gemogelt haben – eben so, wie die Lieder von Joy Division in einer Endlosschlaufe im Kopf Lescoeurs herumspuken konnten, bis sie durch den Medienwechsel beachtet, prozessiert und verscheucht wurden. In den Deichtorhallen wird der gesamte, fünf Fotografien umfassende Aerolithiques-Zyklus Lescoeur gezeigt.
Die Bedeutung und Signifikanz der Musik von Joy Division sowie ihrer Nachfolgeband New Order können nicht hoch genug eingestuft werden. Ich würde so weit gehen, sie in ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Strahlkraft als ebenbürtig zu den Beatles und Kraftwerk zu betrachten. Das liegt zum einen daran, dass jede Generation am Ende im Rückblick Bands (und Künstler*innen) hervorbringt, die klarer als alle anderen das Zeitgefühl ihrer Dekade in Musik und Kunst zu gießen imstande sind. Bei Joy Division kam alles zusammen: Die Poetik, das Charisma, die Stimme und die Bühnenpräsenz von Ian Curtis, der dystopische Sound seiner Begleitband, die, das sollte die Zeit nach seinem Tod bis heute beweisen, sich als unglaublich wandelbar erweisen sollte, und schließlich der wichtige Einfluss ihres Art Directors Peter Saville, den man ohne Zweifel zu den einflussreichsten Grafikdesignern der Welt zählen muss.
Seine Schallplattenhüllen veränderten nicht nur das Medium selbst, sondern auch, wie wir bis zum Aufkommen von Spotify alle Ausstattungen – das Cover, die Werbung, die Fotografie, das Image – rezipierten. In meiner gemeinsam mit Robert Defcon verfassten und beim Londoner Verlag Faber & Faber 2018 erschienenen Interview-Collage Hands on the Table über Irmin Schmidt und die Band CAN kommt in einem Kapitel Peter Saville ausführlich zu Wort: »Als ich zur Schule ging, war Pop wie ein Fenster zu einer anderen Welt. In Manchester gab es keine Gegenwartskunst in unserem Umfeld. Das Albumcover war für uns Kunst. Und der Schallplattenladen war unsere Kunstgalerie.«
»Peter Savilles Schallplattenhüllen veränderten nicht nur das Medium selbst, sondern auch, wie wir bis zum Aufkommen von Spotify alle Ausstattungen – das Cover, die Werbung, die Fotografie, das Image – rezipierten.«
Dass seine Plattencover für Joy Division und New Order für Generationen von Musiker*innen UND Künstler*innen so unfassbar wichtig wurden, liegt auch daran, dass sich Peter Saville nie wie ein Grafikdesigner bewegt hat, sondern immer wie ein Bildender Künstler. Weder bemühte sich Saville um Kunden, noch präsentierte er den Bands, für die er die Gestaltung übernahm, seine Covers bevor sie in Druck gingen. Er bewegte sich immer autonom – und das sieht man den Arbeiten genuin an. »Ich tat, was ich tun wollte. (…) Ich fragte niemanden. Für Blue Monday und Power, Corruption and Lies verzichtete ich auf Typografie. Niemand hinderte mich daran. Und nur dadurch konnten diese Cover den Beweis erbringen, dass ein kulturelles Objekt ein Teil des Alltags werden kann. Und für mich wurde klar: Wenn man ein Schallplattencover auf diese Art machen kann, dann kann man auch Bustickets oder Zigarettenpackungen so gestalten. Du kannst alles tun – alles ist erlaubt. Kunst ist nicht beschränkt auf den Kontext einer Galerie oder eines Museums. Ich frage mich seitdem immer: Warum kann Kunst nicht ein Teil des Alltags sein?«
In den Deichtorhallen Hamburg wird Peter Saville ein riesiges Billboard ausstellen, das ein Album von New Order aus dem Jahr 1989 bewirbt. Der Slogan auf dem Plakat lautet: »NEW ORDER advertise TECHNIQUE«. Es ist, was es ist. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Auch die Nähe zu Joseph Kosuth und seinem frühen Konzeptkunstwerk One and Three Chairs aus dem Jahr 1965 ist offensichtlich. Die Grenzen zwischen Grafikdesign, Gebrauchskunst, Kunst am Bau und Konzeptkunst verschwimmen. Warum? Weil die Klangwellen der Musik die Trennmauern zwischen den Disziplinen erodieren lassen.
Es bleibt spannend.
Der Autor und Journalist Max Dax vertritt genau wie der Soziologe Klaus Theweleit die Position, dass jedes Gespräch das Potential hat, weit mehr zu sein als die Summe seiner Bestandteile. In seiner bisherigen Laufbahn war Max Dax Herausgeber bzw. Chefredakteur von Magazinen wie Alert Interviews, Spex oder dem Electronic Beats Magazine by Telekom. Als Autor schrieb er Bücher über Nick Cave, Einstürzende Neubauten, CAN und Scooter. In Berlin kuratiert er das Programm der Santa Lucia Galerie der Gespräche. Für die Deichtorhallen entwickelte er das Ausstellungskonzept für die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC, die er zugleich auch kuratiert. Die Ausstellung eröffnet am 28. Februar 2019 in der Halle für aktuelle Kunst.