Hyper Diaries #7
30. Juli 2019
Foto: Luci Lux
30. Juli 2019
Lass uns nicht über den Tod reden. Aber warum eigentlich nicht? All things must pass, all things must pass away, sang George Harrison 1970, der Mann, der die Rolle der Leadgitarre in der Popmusik neu erfunden hat. All things can’t last. An diesem Sonntag geht die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC in den Deichtorhallen zu Ende – eine Ausstellung, die auf dem Dialog basiert; dem Dialog zwischen der bildenden Kunst und der Musik, aber auch auf dem Dialog nicht nur zwischen bildenden Künstlern und Musikern, sondern auch mit Vertretern der anderen Diszipinen, der Literatur, dem Theater, dem Kino, der Architektur.
Vor zehn Jahren hatte ich das Vergnügen, mit dem Literaturnobelpreisträger Imre Kertész (Roman eines Schicksallosen) und mit dem Regisseur Claude Lanzmann (Shoah) in Berlin zu Abend zu essen. Es handelte sich um Kertész’ Lieblingsrestaurant am Ku’damm, einer schäbigen aber teuren Touristenfalle, und Lanzmann knurrte anschließend über die Qualität der dargereichten Speisen: »Der Koch wollte uns umbringen.« Kurze Zeit später veröffentlicht Imre Kertész einen Band mit Tagebuchaufzeichnungen unter dem Titel Der Betrachter, in welchem er über das Leben und den Tod sinniert. Die für ihn schlüssigste Erklärung: Die Welt ist ein Gedankenstrom, und das Leben entspricht der Dauer des menschlichen Bewusstseins, an diesem Gedankenstrom teilzunehmen.
In London treffe ich Hans Ulrich Obrist in einem gediegenen, altmodischen Hotel am Hydepark zum Frühstück. Er fragt mich im Rahmen unseres Gesprächs für den HYPER!-Katalog, weshalb ich am Leben und Werk Bob Dylans so interessiert sei. Ich antworte: »Dylan (beschreibt) den conscious artist als Figur, die imstande ist, die Zeit anzuhalten, indem Ideen fixiert werden – auf Schallplatte, auf Zelluloid oder auf Papier. Er wird von Allen Ginsberg gefragt, ob er unsterblich sein wolle. Und Dylan antwortet: Ich möchte, dass mein Werk überlebt. Und das täte es, wenn er imstande sei, mit seiner Musik die Zeit anzuhalten.«
Das letzte Interview vor seinem Tod habe Christoph Schlingensief ausgerechnet mir gegeben, eröffnet mir seine Witwe und Nachlassverwalterin Aino Laberenz, als wir uns im Café Hackbarth's im Frühjahr des vergangenen Jahres trafen, um die Inklusion von Filmen zu besprechen, die Schlingensief für die Opernhäuser in Bayreuth und im brasilianischen Manaus entwickelt hat. In Bayreuth inszenierte Christoph Schlingensief Wagners Parsifal, in Manaus dessen Fliegenden Holländer. In beiden Opern geht es um Tod und um Wiederauferstehung.
In meinem Online-Tagebuch Dissonanz notierte ich am 21. Mai 2010: »Wundersame Koinzidenzen. Am Nachmittag hatte V2 Schneider in einem längeren Telefonat mit Christoph Schlingensief über das weitverbreitete Missverständnis der Authentizität gesprochen, demzufolge Romanautoren im weitesten Sinne Autobiografisches zu thematisieren hätten und nicht immer neue Patchworks aus Gefundenem und Aufgelesenem knüpfen dürften. Schlingensief nennt das Beispiel Helene Hegemann, und dass er die ganze Gehässigkeit in der Diskussion um ihre Person nicht nachvollziehen könne, schließlich arbeite man auf der Theaterbühne fast ausschließlich mit Fremdmaterial — von zufällig Aufgeschnapptem bis hin zu gezielt Gesuchtem. Und wenn alle Stränge reißen, riefe er dann nächtens, das sei wichtig, denn nur in der Nacht schliefen die meisten Menschen, und umso stiller seien die Städte in diesen Stunden, Peymann oder Castorf an und frage diese um Rat oder gleich nach passenden Passagen, die er, Schlingensief, dann nach dem Prinzip Copy-and-Paste in seinem eigenen Patchwork aufgehen lassen könne.«
Zwei Wochen später glüht Aino Laberenz vor Glück: Sie sei soeben aus New York zurück gekehrt und habe von Klaus Biesenbach Christoph Schlingensiefs innig geliebten Fellhasen ausgehändigt bekommen, der dort in den Kellern unter dem MoMA viel zu lange im Dunklen gelebt habe. Wenn wir ihn in der HYPER!-Ausstellung zeigen wollten, so Aino, dann bitte mit einer 20-Watt-Glühbirne über seiner Vitrine, damit er tags wie nachts sehen könne.
Denn wie Imre Kertész sind auch Aino Laberenz und vermutlich auch der Fellhase der Überzeugung, dass das Bewusstsein des Menschen ein Gedankenstrom ist, und demzufolge müsse es Mittel und vor allem Wege geben, wie man an diesen Code anknüpfen könne.
Ich rufe Alexander Kluge in München an und frage ihn, ob er bereit wäre, für das Schlingensief-Kabinett in der HYPER!-Ausstellung eine Minutenoper beizusteuern. Noch im Telefonat sagt er zu. Schließlich habe er, Alexander Kluge, sich mit ihm, Christoph Schlingensief, lange und ausführlich darüber unterhalten, dass bei Schlingensief alles Musik sei. Kurze Zeit später liefert er wie versprochen sein Filmtriptychon, zusammen montiert aus allerlei Beweisszenen aus Schlingensief-Inszenierungen für die Berliner Volksbühne und sonstigen Performances.
Alles ist in diesem sich überlagernden Geschrei Musik. Schließlich telefonieren wir uns abermals zusammen, um für den HYPER!-Katalog unser Interview zu führen. In diesem erklärt Kluge, dass Christoph Schlingensief zwar physisch tot sein mag, seine Seele aber nach wie vor aktiv herumspuke: »Gelegentlich, nachts, flüstert er mir etwas ins Ohr. Auch in Opernhäusern passieren nachts viele Dinge, die wir Menschen nicht mitbekommen. Eben all das, was die Roboter als Deep Learning praktizieren: Während wir schlafen, lernen die. Das gibt es beiden Seelen auch. Seine Seele ist irgendwo zwischen Island und hier und Tibet unterwegs.«
Um das zu glauben, muss man glauben können. Aino Laberenz erzählt im Kataloggespräch: »Christoph hat sich als Katholik [mit dem Thema Identität] natürlich sehr stark auseinandergesetzt, sich geradezu reingegraben in das Thema von Schuld, Mitleid, Erlösung, Wiedergeburt, Identität … Parallel dazu ist der Hase in der Kunst ein wiederkehrender Topos. Er ist oft Jagdmotiv, es gibt den Hasen von Albrecht Dürer. Und dann gibt es den Hasen bei Joseph Beuys als Symbol für die Inkarnation.«
Seit dem 28. Februar 2019 hängt über Christoph Schlingensiefs Fellhasen, der tagsüber Wagners Fliegenden Holländer hört und nachts mit seinen großen Ohren in die Stille im Museum lauscht, ununterbrochen eine brennende Glühbirne. Sie gibt dem Hasen Ruhe und Sicherheit, und wer an Seelenwanderung glaubt, der mag sich vorstellen, dass der Hase und sein Herr in stillen Momenten, wenn die Stadt schläft und keiner zuschaut, Gedanken austauschen. Und wer nicht an die Seelenwanderung glaubt, der wird im Schlingensief-Kabinett zumindest noch einmal daran erinnert, dass Kunst, die imstande ist, die Zeit anzuhalten, nicht nur das Werk selbst, sondern auch ihren Schöpfer unsterblich macht.
Am 5. August wird die Glühbirne über dem Fellhasen in dem Raum, den ich auf Führungen durch die Ausstellung stets als das Energiezentrum, als das Schloss, an dem sich Schicksale kreuzen, bezeichnet habe, ausgeschaltet. Ruhet in Frieden, Christoph, Imre und Claude.
Max Dax
Der Autor und Journalist Max Dax vertritt genau wie der Soziologe Klaus Theweleit die Position, dass jedes Gespräch das Potential hat, weit mehr zu sein als die Summe seiner Bestandteile. In seiner bisherigen Laufbahn war Max Dax Herausgeber bzw. Chefredakteur von Magazinen wie Alert Interviews, Spex oder dem Electronic Beats Magazine by Telekom. Als Autor schrieb er Bücher über Nick Cave, Einstürzende Neubauten, CAN und Scooter. In Berlin kuratiert er das Programm der Santa Lucia Galerie der Gespräche. Für die Deichtorhallen entwickelte er das Ausstellungskonzept für die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC, die er zugleich auch kuratiert.
Finissage am Sonntag, 4. August 2019, mit zwei Konzerten des Duos GUO (Daniel Blumberg & Seymour Wright) in der Ausstellung um 17 und 19 Uhr.