»Ich bin mit toxischer Männlichkeit aufgewachsen«
13. Mai 2020
Foto: Julia Steinigeweg
13. Mai 2020
HALLE4: Tobias, der Ausgangspunkt für dein in der Ausstellung RECOMMENDED – OLYMPUS FELLOWSHIP gezeigtes Fotoprojekt Deponie war eine Abfallentsorgungsanlage in Ihlenberg. Wofür steht dieser Ort?
Tobias Kruse: Es war von Anfang an mein Plan etwas über den Osten zu machen. Dafür war die Deponie ein Bild. Ich wollte allerdings nie eine Reportage über eine Mülldeponie fotografieren. Ich hätte ursprünglich gern das, was ich jetzt in ganz Ostdeutschland fotografiert habe, nur im Umfeld der Deponie gemacht. Mir ist aber schnell klar geworden, dass das nicht geht. Da passiert zu wenig. Deshalb habe ich den Radius erweitert, zunächst bis nach Schwerin, wo ich aufgewachsen bin. Es gab dann bald andere Orte, die sich besuchen wollte. Rostock zum Beispiel, wo 1992 in Lichtenhagen die rechtsradikalen Ausschreitungen stattfanden. Das ganze Vorhaben hat sich immer mehr ausgeweitet. Die Deponie ist als Metapher geblieben, der Osten ist das Panorama, einfach weil ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen davon erzählen kann. Aber es geht nicht nur um Ostdeutschland, sondern um das »bigger picture«: Unsicherheit, Gewalt und Angst.
Unsicherheit, Gewalt und Angst – wieso verbindest du diese Gefühle mit Ostdeutschland?
Das hat mir meiner Kindheit und Jugend zu tun. Ich war zehn Jahre alt als die Mauer fiel. Meine Eltern waren dem System nicht unbedingt wohl gesonnen. Ich habe deswegen früh gelernt, das Leben in der DDR in Frage zu stellen. Fragen wie »Warum dürfen wir nicht in den Westen?« oder »Warum dürfen wir in der Schule dies oder jenes nicht sagen?« wurden bei uns Zuhause permanent diskutiert.
»Ich habe in den letzten Jahren einen aggressiver werdenden Ton wahrgenommen. Auf einmal war da wieder dieses Gefühl, aufpassen zu müssen, wohin ich gehe oder was ich sage.«
Wie hast du diese destruktive Energie zu spüren bekommen?
Ich habe in meiner Kindheit und Jugend viele Erfahrungen mit toxischer Männlichkeit gemacht. Ich bin damit aufgewachsen. Viele Männer waren verroht und gewalttätig. Gegenbeispiele gab es wenig. Ich meine damit nicht meine Familie, sondern die Gesellschaft. Ich habe darunter gelitten, weil ich nicht so war oder mich zumindest selbst nicht so wahrgenommen habe. Wenn man in einer verrohten Gesellschaft aufwächst, färbt so etwas trotzdem auf einen ab, auch wenn man das eigentlich nicht will. Diese aggressiven Reflexe beobachte ich unangenehmerweise auch an mir selbst. Es gibt einfach Typen, die sind so böse und bescheuert, denen würde ich echt gern eine reinhauen — aber ich tue es natürlich nicht. Das geht zu weit. Aber da, wo ich herkomme, war das normal. Da wurden Leute verprügelt, weil sie die falschen Schuhe getragen haben.
Dann hast du also in Deponie ganz bewusst nach Bildern für diese toxische Männlichkeit gesucht?
Nicht ausschließlich, aber es war ein großer Teil davon. Zum Beispiel dieses eine Bild mit dem Rücken, bei dem diese Beulen rauskommen. Das hat für mich etwas Beängstigendes, da kommt etwas hervor. Ich spreche von einem Phänomen, das einfach zu einem überwältigenden Teil männlich geprägt ist — diese Angst, die zu Gewalt oder auch Alkoholismus führt.
Es geht in deiner Arbeit auf der einen Seite um diese Erfahrungen in deiner eigenen Jugend, auf der anderen Seite machst du einen visuellen Brückenschlag zur heutigen Gesellschaft in Deutschland. Welche Parallelen siehst du da?
Ich habe in den letzten Jahren einen anschwellenden und aggressiver werdenden Ton wahrgenommen. Deswegen wurde dieses Thema für mich immer wichtiger. Mir wurde klar, dass es da Parallelen gibt. Menschen fühlen sich abgehängt, beispielsweise aus Angst, Flüchtlinge könnten ihren Wohlstand in Gefahr bringen oder eine linke Kulturschickeria in Berlin das gesellschaftliche Leben steuern. Das wurde bei den PEGIDA-Demos oder durch den Aufstieg der AfD offensichtlich. Da wurde der gesellschaftliche Ton rauer. Und zwar nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch im Alltag. Auf einmal war da wieder dieses Gefühl aufpassen zu müssen, wohin ich gehe oder was ich sage. Das waren Gefühle, die ich lange nicht hatte. Da kamen auf einmal wieder meine Erinnerungen an die Situation in den Neunzigerjahren wieder hoch – dieses Gefühl, permanent eine Habachtstellung einnehmen zu müssen. Das war für mich der Moment, in dem ich dachte, das könnte ich gleichzeitig erzählen, das Vergangene und das Gegenwärtige.
Wie war deine fotografische Herangehensweise? Wie hast du deine Bildmotive gefunden und deine Bildsprache entwickelt?
Zwar war mir das Thema klar, es war allerdings erstmal alles offen. Ich wusste überhaupt nicht, was ich fotografieren sollte. Ich hatte irgendwann das Bedürfnis, einmal durch den Osten durchzufahren. Ich wollte zumindest eine grobe Bestandsaufnahme mit meinen Bildern erreichen. Es gab dann Orte, die aufgrund ihrer Geschichte gesetzt waren: Rostock, Hoyerswerda oder Jena zum Beispiel, wo der NSU entstanden ist. Ich war bei einem Heimspiel von Dynamo Dresden. Ich war an der Jauchegrube in Potzlow, in der monatelang die Leiche von Marinus Schöberl lag. Es gab also Orte, bei denen ich hoffte, da gibt es etwas zu fotografieren. Die sind so kontaminiert, das überträgt sich. Aber ich habe kein einziges Bild wirklich geplant. Und ich habe von Anfang an in Schwarzweiß fotografiert. Zum ersten Mal in meinem Leben, abgesehen von früheren Versuchen als Teenager. Das war für mich der Weg, um diese beiden Erzählebenen, Vergangenheit und Gegenwart, miteinander zu verbinden. Mir wurde sehr schnell klar, dass das wie ein Scharnier funktionieren kann.
Nach dieser künstlerischen Auseinandersetzung mit deiner eigenen Lebensgeschichte – was ist dein persönlicher Erkenntnisgewinn?
Diese Zeit, in der ich meine Jugend verbracht habe, war tatsächlich sehr speziell. Dass andere viel behüteter aufgewachsen sind, war mir vorher nicht so bewusst. Bei denen gab es diese Unsicherheit und Gewalt einfach nicht. Ich erkläre mir mittlerweile so auch einige meiner eigenen Verhaltensweisen und Gefühle. Das waren teilweise schon anarchische Zustände, die da über mehrere Jahre herrschten – und zwar nicht in der romantischen Vorstellung von Anarchie.
Deine Bilder wirken oft mutig und du schreckst nicht davor zurück Themen provokant zu fotografieren. Hat deine Herkunft deine Wahrnehmung oder deinen fotografischen Blick geprägt?
Ich musste mich überhaupt erst einmal dazu überwinden, mit diesem Thema Ost-Herkunft zu arbeiten. Ich bin eine Zeitlang damit groß geworden, ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Das war in den Neunzigerjahren total klar: die Ossis sind die Idioten. Das war eine unangenehme Zeit für uns. Das wurde einem permanent medial, manchmal eher subtil, dann wieder ganz offen, unter die Nase gerieben. Insofern habe ich manchmal das Gefühl, auch so eine Art Migrationshintergrund zu haben. Ich fühle mich Migrant*innen tatsächlich manchmal näher als »Bio-Westdeutschen«, weil ich auch nicht in dieser Gesellschaft groß geworden bin. Ich habe, wenn man so will, den Vorteil, dass man es mir nicht ansieht, aber trotzdem war ich erst einmal vorsichtig und habe versucht, mich zu assimilieren.
»Ich hatte irgendwann das Bedürfnis, einmal durch den Osten durchzufahren. Ich wollte zumindest eine grobe Bestandsaufnahme mit meinen Bildern erreichen.«
Hat sich hier etwas in der deutschen Gesellschaft verändert – also in deiner Wahrnehmung von damals und heute?
Inzwischen ist es egal. Niemand kann einem heutzutage noch damit kommen, er oder sie sei aus Bremen, ich aber nur aus Cottbus. Für uns war das damals jedoch entscheidend, weil wir das weniger geile Leben hatten. Wir hatten weniger Chancen und überhaupt kein Geld. Die Elternhäuser besaßen wenig und es konnte im Osten auch nichts vererbt werden. Aber ich nehme seit ein paar Jahren wahr, dass sich etwas ändert und man sich diesen bisher blinden Flecken in der Geschichte genauer ansieht.
Geht es dir auch um Geschichtsaufarbeitung – also im Besonderen um ostdeutsche Geschichte, die nach dem Fall der Mauer übersehen wurde?
Das spielt schon eine Rolle. Vieles von dem, was so geschrieben und gesagt wurde und wird, geht mir einfach auf den Keks. Diese Erzählung von der Herrlichkeit, Schönheit und Größe dieser gewaltlosen Revolution ist mindestens unvollständig. Der Blick darauf ist oft auch ein westdeutscher, oder zumindest einer, der über die Köpfe vieler Leute hinweggeht, weil er aus einer erhabenen Perspektive kommt. Es stimmt, als die Leute in Leipzig demonstrierten, ist kein Schuss gefallen. Aber was danach kam, war für das Leben eines Großteils von 17 Millionen Menschen eine extrem gewalttätige Situation. Ihr ganzes Leben ist zerstört worden, und sie hatten das weitestgehend nicht in der Hand.
Und wie nimmst du die Corona-Krise wahr?
Ich empfinde die derzeitige Situation schon auch ein Stück weit als bedrohlich, weil wieder diese Unsicherheit da ist. Das System ist schwer angeschlagen, das ist für alle offensichtlich. Wenn die Wirtschaft den Bach runtergeht und die Leute reale Existenzängste bekommen, kann das politisch unangenehme Folgen haben, denn wo Angst herrscht, ist auch die Gewalt nicht weit. Das fängt gerade an mit diesen total irren Verschwörungstheorien, die näher kommen, teilweise etwa auch bis in meinen Bekanntenkreis. Das kannte ich vorher so nicht. Dann haben sich die Leute irgendein wackeliges Weltbild gebastelt und versuchen, das zu verteidigen. Sie radikalisieren sich. Da muss man wirklich genau hinschauen. Es ist ja klar, dass Gefahr nicht von denen ausgeht, die solidarisch sind und versuchen, für sich und die Gesellschaft das Beste aus der Situation zu machen. Die Gefahr kommt von denen, die durchdrehen. Wenn ich momentan so auf die Welt oder dieses Land schaue, ist das für mich nicht gerade stimmungsaufhellend. Es gibt immer wieder helle Momente, klar, aber in einem Meer aus Dunkelheit.
Magnus Pölcher ist Absolvent der Bildredaktionsklasse 2017/18 an der Ostkreuz-Schule für Fotografie in Berlin. Er arbeitet für das Humboldt Forum in Berlin und schreibt u.a. für LensCulture über Fotografie. Für das HALLE4-Magazin betreut er die Kolumne #photography2050.
Die Ausstellung recommended – Olympus Fellowship ist bis zum 30. August 2020 im Haus der Photographie zu sehen.