„Ich möchte experimenteller werden"
5. März 2024
FOTO: PHILIPP MEUSER
5. März 2024
Frau Henrich, Ihr Vorgänger Ingo Taubhorn hat in seinem Abschiedsinterview an dieser Stelle gesagt, dass er lieber Einzelausstellungen als Gruppenausstellungen zeigt. Teilen Sie seine Meinung?
Einzelausstellungen sind ein Format, das es Menschen sehr leicht macht, einen unmittelbaren Zugang zu finden. Über die Person und ihre Biografie hat man einen persönlicheren, menschlichen Zugang und kann so einfacher in das Werk eintauchen. Im Mittelpunkt bedeutender Biografien stehen aber häufig Austauschprozesse, Freundschaften und Netzwerke. Es wird weiterhin Einzelaustellungen geben, ich werde sie aber mit Kollektiven ergänzen und stärker in ihre Netzwerke einbetten.
Was interessiert Sie besonders an der Arbeit mit Kollektiven und Netzwerken?
Kollektive und ihre Geschichten sind besonders spannend, weil man die Wege des Mediums nachzeichnen kann. Junge Menschen kommen durch Zufall in Kontakt mit Fotografie, weil sich ein Kollektiv in seiner eigenen Gemeinschaft vor Ort engagiert hat. Ein gutes Beispiel ist der Kamoinge Workshop aus New York. Er wurde 1963 gegründet und ist das wohl am längsten aktive Kollektiv der Fotografiegeschichte. Die vierzehn festen Mitglieder haben vor allem in Harlem und in der Bronx fotografiert, aber immer auch Fotografie gelehrt und konkrete Fähigkeiten vermittelt. Es ging um die Stärkung der nächsten Generationen, mit der Kamera ihre Geschichte selbst zu erzählen.
Wie wollen Sie darüber hinaus unterschiedlichen Perspektiven zusammenbringen?
Ich bin besonders an Themenausstellungen interessiert. Man kann zum Beispiel verschiedene Fotograf*innen zeigen, die sich an einer gegenwärtigen europäischen Identität abarbeiten und die uns aber einzeln betrachtet jeweils ein komplett anderes Bild von Europa vermitteln. Gerade in den Zwischenräumen unterschiedlicher Perspektiven entstehen neue Einsichten. Auch mit Blick auf medientheoretische Themen sind Gruppenausstellungen zentral, um zum Beispiel zu fragen, was gerade mit dem fluiden fotografischen Medium und seinen dynamischen Bildkulturen passiert und wie diese Umbrüche gesellschaftlich wirksam sind.
Das klingt nach sehr viel Arbeit.
Allerdings. Ich bin in meinem Zeitmanagement sehr gefordert (lacht). Ich führe aktuell Gespräche mit Kurator*innen europäischer Institutionen, um Allianzen zu bilden, gemeinsam Themenkonzepte zu entwickeln, die dann synchron laufen.
Die klassische „Wanderausstellung“ hat ausgedient?
Unsere Idee ist es, eine aufwendige Ausstellung mit zwei, drei
Teilen zu konzipieren, die wir parallel zeigen, beispielsweise in
Hamburg, Amsterdam und Paris. Die Kapitel wechseln anschließend zwischen
den Städten. Es sind parallele Prozesse, die uns erlauben, gemeinsam
mehr Tiefe und Komplexität hineinzubringen als ein schnelllebiges
Kuratieren, bei dem jeder versucht die oder der Erste zu sein.
Nachhaltigkeit – inhaltlich sowie mit Blick auf Netzwerke und die
Produktion – ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt.
Können Sie sich vorstellen eine Ausstellung, die beispielsweise im Ruhrgebiet gezeigt wurde, auch in Hamburg zu präsentieren?
Ja,
das kann auf jeden Fall nachhaltig und sinnvoll sein. Dazu gehören
selbstverständlich Übernahmen aus ganz Deutschland, aber ich bin auch
besonders an globalen Kooperationspartnern interessiert, zum Beispiel
aus Südamerika, aus Nord- und Südafrika, Osteuropa oder aus den USA, in
denen ich über ein gutes Netzwerk aus meiner Zeit in Los Angeles
verfüge.
Wird es auch weiterhin sogenannte „Blockbuster-Ausstellungen“ mit großen Namen im Haus der Photographie geben?
Auf
jeden Fall. Ich entwickle gerade ein Programm, das sich „Legacies“
nennt. Damit sind herausragende fotografische Positionen gemeint, die
ein großes Publikum begeistern können. Dafür ist das Haus der
Photographie bekannt. Ich will aber versuchen, das Profil des Hauses
durch Themenausstellungen, längerfristige Projekte und durch
experimentellere, post-fotografische Formate und ein anspruchsvolles
Workshop- und Diskursprogramm zu schärfen.
Im September eröffnet im PHOXXI die erste von Ihnen kuratierte Ausstellung: TACTICS & MYTHOLOGIES
von Andrea Orejarena und Caleb Stein. Sie ist zugleich der Auftakt für
die Reihe „Viral Hallucinations“, die sich mit dem Spannungsfeld
dokumentarischer Strategien in einer global vernetzten
„Post-Wahrheit-Ära“ beschäftigt.
Es ist mir wichtig, mit dieser ersten Ausstellung darauf hinzuweisen, in welchem medienhistorischen Moment wir uns gerade befinden. Wir assoziieren die Fotografie für gewöhnlich mit der Wirklichkeit. Wie wird diese Aufladung fotografisch anmutender Bilder heute instrumentalisiert? Warum hegen Menschen zunehmend Zweifel gegenüber etablierten Medien, vertrauen jedoch impulsartig Bildern und Botschaften, die sie über Signal, Telegram oder TikTok erreichen? Welche Funktionen übernimmt die Fotografie aktuell mit Blick auf Desinformationsstrategien und Verschwörungstheorien? Wir wissen, dass wir fotografischen Bildern gerade in den Social Media misstrauen sollten, doch wir konsumieren sie aktiv. Erst im nächsten Schritt denken wir vielleicht darüber nach und versuchen uns zu distanzieren. Es kostet viel Mühe und Willen, ein Bild einzuordnen: Ist das Bild „echt“? Wer hat es aufgenommen? Sind die technischen Details dazu stimmig? Wem nutzt dieses Bild? Das erfordert neue Bild- und Medienkompetenzen, die ich mit dieser Ausstellungsreihe anbieten möchte.
Andrea Orejarena und
Caleb Stein sind noch sehr jung und in Europa eher unbekannt. Warum
haben Sie die beiden für ihre Ausstellungspremiere ausgewählt?
Mit ihren Projekten Long Time No See
und American Glitch beschäftigen sich beide Künstler*innen seit
gut sechs Jahren mit bildlichen und erzählerischen Taktiken von
Desinformation. Sie fragen danach, wie wir unser physisches Umfeld vor
dem Hintergrund fiktiver Erzählungen interpretieren. Was passiert in
einer Gesellschaft, in der es eine vielschichtige Dissonanz gibt, weil
wir uns zwar alle vermeintlich im selben Raum bewegen, diese Räume und
Ereignisse jedoch komplett anders interpretieren?
Es geht also um Verschwörungstheorien?
Es gibt Menschen, die davon ausgehen, dass wir nur Spielfiguren geheimer
Eliten sind. Dass wir eine Simulation bewohnen, oder absichtlich
gewisse Viren in die Welt gesetzt wurden, um unsere Freiheit
einzuschränken. Diese paranoiden Erzählungen und Fantasien sind
mittlerweile Mainstream. In den USA gibt es mehr Bereitschaft das
Problem anzuerkennen, während es im bildungsbürgerlichen Milieu als
Randphänomen von ein paar Abgehängten gesehen wird.
Eine elitäre Einschätzung?
Ja,
und das halte ich auch für riskant. Wir befinden uns in diesem
Superwahljahr gerade in einer Umformung – in Deutschland, aber auch in
Europa und global. Da dürfen wir nicht unterschätzen, wie stark
Desinformation unsere Zukunft beeinflussen wird. Andrea Orejarena und
Caleb Stein haben einen fotografisch anspruchsvollen wie humorvollen
Zugang zu dem Thema gefunden. Sie laufen nicht mit dem erhobenen
Zeigefinger umher.
Wie muss man sich ihre Arbeit vorstellen?
Orejarena und Stein haben in einem künstlerischen Archiv knapp 2.000
Bilddateien gesammelt, die im Kontext von Verschwörungstheorien
zirkulieren. Anschließend haben sie über hundert Schauplätze dieser
Sichtungen von Events wie Ufo-Sichtungen, Doppelgänger und Glitches auf
einer Karte nachvollzogen und sind an diese Orte gefahren, um sie mit
ihrer Hasselblad-Mittelformatkamera zu fotografieren. In der Ausstellung
sind ihre Aufnahmen zu sehen, aber auch ihr Archiv viraler
Halluzinationen.
Wieviel hat dieser Ansatz noch mit Fotografie im eigentlichen Sinne zu tun?
Fotografie
ist als Begriff bereits oft ein Problem. Ich spreche deshalb gerne von
Fotografie als Verbform. Das Entstehen, das Aushandeln, das gemeinsame
Produzieren macht für mich die Fotografie aus. Mich interessiert
Fotografie als sozialer Diskursraum, in dem Gesellschaft verhandelt
wird. Fotografie konfrontiert Gesellschaft immer wieder mit sich selbst.
Mit Blick auf gegenwärtige und heraufziehende Tendenzen habe ich das
Gefühl, dass es heute mehr und mehr fotografische Praktiken gibt, die
sich damit befassen, wie Fotografie ein Medium sein kann, das Zukünfte
gestaltet.
Wie beurteilen Sie den Einzug neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz in der Fotografie?
Ich gehöre nicht zu denen, die automatisch sagen, dass man jede
neue Technologie feiern und sich ihr vorbehaltlos zuwenden muss. Aber
mich interessiert schon, was allein dieser Möglichkeitsraum wiederum mit
dem gewachsenen Verständnis der Fotografie macht. In dem ohnehin
pluralen Gefüge fotografischer Handlungen beteiligen sich zunehmend
nicht-menschliche Akteur*innen, wie Algorithmen oder KI, die Teil
unserer Smartphones und digitalen Kameras sind. Mich interessiert,
welche Rolle technologische Bedingungen und die Verfügbarkeiten neuer
Bildtechnologien für gesellschaftliche Umbrüche spielen. Diese Fragen
werden sich auch im kommenden Programm des Hauses der Photographie
widerspiegeln.
Die Besucher*innen müssen sich unter Ihnen also auf eine andere Art der Fotografie einstellen?
Ich
habe die Fotografie immer in Wechselwirkung mit Film und Medienkunst
betrachtet. Es gibt eine Tendenz zur Hermetik des Fotografischen in
einer Szene, die sich durch Abgrenzung definiert, was ich nie ganz
verstanden habe, weil die Fotografie als membranartiges Medium so
spannend und einzigartig ist. Sie ist per se kontextabhängig, dynamisch
und durchlässig.
Gibt es Pläne das Programm, auch in den digitalen Raum zu erweitern?
Ausstellungen
sind ein zentrales Element neben anderen Veranstaltungsformen und digitalen
Formaten. Für mich ist es eine Grundvoraussetzung, dass eine Institution
wie das Haus der Photographie auch eine digitale Identität und
Plattform besitzt. Das Programm war bislang vor allem an klassischen
Ausstellungen im physischen Raum ausgerichtet, während andere
europäische Institutionen sich vielmehr auch als eine Art Inkubator
verstehen, um Fotograf*innen Sichtbarkeit zu verschaffen, die über den
physischen Raum der Ausstellungen hinausführt. Dafür möchte ich neue
Infrastrukturen schaffen, durch die auch digitale Formate, Workshops und
Symposien ermöglicht werden. Nicht für jedes Projekt ist eine Ausstellung der
beste Output. Es kann also sein, dass ein Projekt nur online
stattfindet, weil es sich an eine globale Zielgruppe in einem bestimmten
Alter richtet, das sich für das Thema besonders interessiert.
Sie sind noch neu in Hamburg. Wie wollen Sie auf die Fotoszene vor Ort zugehen?
Ich
will viel Arbeit und Zeit damit verbringen, die Menschen und
Akteur*innen in Hamburg kennenzulernen. Kuratieren bezieht sich auf das
wissenschaftliche Arbeiten, auf das Entwickeln von Ausstellungskonzepten
und den sorgsamen Umgang mit Bildwerken. Für mich beinhaltet die
kuratorische Praxis aber auch das Aufbauen und Pflegen sozialer
Beziehungen und Netzwerke, die den institutionellen Raum als Plattform
der kulturschaffenden und interessierten Stadtgesellschaft begreifen und
beleben, so wie es auch schon F.C. Gundlach bei Gründung des Hauses der Photographie getan hat. Gerade die Fotografie erlaubt das Partizipative und
Niedrigschwellige, es ist im Medium angelegt. Jeder kann fotografieren
und tut es täglich. Darin sehe ich die Chance, immer auch eine Einladung
auszusprechen.
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Nadine Isabelle Henrich (*1990) hat Kunst- und Bildgeschichte in
Berlin studiert und unter anderem im Deutschen Pavillon auf der Venedig
Biennale, Heiner Bastian Fine Arts und bei Daimler Contemporary in
Berlin gearbeitet bevor sie das Programm „Museumskurator:innen für
Fotografie“ an das Museum Folkwang in Essen, an das Fotomuseum
Winterthur, die Fotografische Sammlung in München und an das Getty
Research Institute in Los Angeles brachte. Seit Februar 2024 ist sie
Kuratorin am Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg.
Damian Zimmermann (*1976) lebt und arbeitet als Journalist, Kunstkritiker, Fotograf, Kurator und Festivalmacher in Köln.