»Ich wollte die Unerhörtheit mit eigenen Augen sehen«
20. September 2022
FOTO: PHILIPP MEUSER
20. September 2022
Mila, welche Erinnerung kommt zuerst, wenn du an den 24. Februar, den ersten Tag des Angriffs auf die Ukraine, zurückdenkst?
Ich war an dem Tag in Berlin und erinnere mich noch daran, wie ich mit einer ukrainischen Freundin telefoniert habe. Viele rechneten schon mit einem Krieg, für uns aber war das eine schiere Unmöglichkeit. Krieg in Kyjiw? Ausgeschlossen. Dann aber rief mein Ehemann an: »Es geht los. Kyjiw wird bombardiert.« Es war unfassbar. Im 21. Jahrhundert wird eine europäische Millionenstadt angegriffen – allein die Möglichkeit erschien mir so abwegig, dass ich kurz innehalten musste, um die Nachricht zu realisieren. Schlagartig wurde mir klar: Ich muss in die Ukraine fahren.
Als du in deiner Heimatstadt angekommen bist, von der du schreibst, dass fast jeder Stein der Stadt eingeschrieben sei in dein Leben, gab es von heute auf morgen keinen Alltag mehr. Menschen haben ihre Häuser verloren, ihre Angehörigen, ihre Geschichte. Was motivierte dich, dennoch dort zu bleiben?
Ich bin nicht in erster Linie nach Kyjiw gefahren, um zu fotografieren, sondern um diesen historischen Moment zu erleben, der sich da abspielte. Das ist meine Heimat, die dort bombardiert wurde. Ich wollte diese Unerhörtheit mit meinen eigenen Augen sehen, ich wollte den Krieg riechen und hören, ich wollte bei den Menschen sein, statt nur in den Medien und sozialen Netzwerken darüber zu lesen. Das Fotografieren war von Anfang an zweitrangig. Als ich die ersten Leichen sah und eine weinende Mutter, da habe ich nicht direkt zur Kamera gegriffen, sondern mir zunächst Zeit genommen, mit ihr gesprochen, sie umarmt.
»Doch als ich den letzten Kontrollpunkt vor der Straße von Kyjiw nach Shytomyr überquere, erwartet mich der Tod an jeder Ecke und flüstert mir zu: Schau her, wende deinen Blick nicht ab.« – Tagebucheintrag von Mila Teshaieva
»Der Tod schaut mir vom Straßenrand aus zu, wo noch vor einer Stunde die Leiche einer Frau mit rot lackierten Fingernägeln lag, die Reste der Immobilienwerbung knarren im Wind.« – Tagebucheintrag von Mila Teshaieva
Ein humanistischer Ansatz, der auch aus deinen Fotos spricht.
Sie sind nah am Menschen und auf eine nahezu unheimliche Weise sehr
leise. Es gibt da zum Beispiel dieses Bild von einem Hund, der in einem
Teich feststeckt.
Das Foto ist Anfang April entstanden.
Nachdem einige Journalisten, Fotografen und Filmemacher bei der Arbeit
getötet worden waren, durften wir uns zuvor wochenlang nicht außerhalb
von Kyjiw bewegen. Gemeinsam mit einem Freund, der beim Militär ist, kam
ich in ein leeres und komplett zerbombtes Dorf, kein Mensch war weit
und breit zu sehen. Noch am 1. April war unklar, ob sich Russen dort
aufhalten oder nicht. Überall lag der Geruch von verbrannten Häusern und
Autos in den Höfen. Plötzlich war da dieser Hund. Es war das erste
lebende Wesen, das ich in der verlassenen Landschaft sah, einer
Landschaft des Todes. Der Hund saß im Wasser, gab keinen Laut von sich,
sah mich einfach nur an. Ganz sanft versuchte er dann, sich
aufzurichten, es gelang ihm nicht. Für mich war das ein erschreckender
Moment, ein schockierendes Symbolbild für den Krieg.
Du hast die Kriegszeit nicht nur mit der Kamera festgehalten, sondern in den ersten Monaten auch Tagebuch geschrieben. Was war schwerer, den Krieg in Worte zu fassen oder in Bilder?
Für
mich war es schwer, das Geschehen in Worte zu fassen. Ich habe all
meinen Schmerz, meine Wut und alles, was tief aus dem Herzen kam, in
diesen Text gesteckt. Ich wollte, dass die Menschen fühlen, was ich
fühle. Aber ich bin keine Literatin. Bei der Fotografie gibt es eine
ganz andere Herausforderung, nämlich die, dass Fotos nicht das ganze
Bild dessen wiedergeben, was man erlebt. Diese Kombination aus
Geräuschen, Gerüchen und dem, was man mit den Augen sieht ist ja mehr,
als meine Kamera sehen kann. Diese Komplexität einzufangen ist sehr
herausfordernd.
Wie begegnest du diesen Grenzen der Fotografie, mit denen du unweigerlich konfrontiert wirst?
Diese Grenzen sind einer der Gründe, warum ich später auch angefangen habe zu filmen, ich habe unter anderem meinen ersten Dokumentarfilm
für die ARD gemacht. Wenn man auf einem Foto eine Leiche liegen sieht,
dann ist das ist immer nur ein Ausschnitt dessen, was ich sehe, wenn ich
vor Ort bin. Dort liegt nicht nur diese eine Leiche, sondern eine ganze
Straße voller toter Körper. Letztlich ergab es für mich mehr Sinn, mich
einer Kombination aus Schreiben, Filmen, Fotografieren und Beobachten
zu widmen und in den Kontakt zu den Menschen zu gehen.
Warst
du auch im Austausch mit anderen Fotografinnen und Fotografen? Immerhin
bist du von einem Tag auf dem anderen zur Kriegsfotografin geworden.
Am
Anfang habe ich mich auch mit anderen Fotografen ausgetauscht, ja. Da
ging es schlicht um Informationen: Wer ist wo? Wohin kann man gehen? Wo
ist es gefährlich? Im Grunde aber arbeite ich aus einem Bauchgefühl
heraus, vertraue auf meine Intuition. In Krisensituationen funktioniere
ich erstaunlich gut, arbeite konzentriert und gerate nicht in Panik,
weil ich darauf vertraue, dass mir nichts Schlimmes passieren wird. Aber
ich würde mich nicht als Kriegsfotografin bezeichnen. Ich bin
vielleicht Beobachterin, Zeugin. Ich war im Krieg und ich habe
fotografiert, aber ich komme eher aus der Kunstfotografie und möchte
meine Handschrift auch behalten.
THE NEW ABNORMAL lautet der Titel der Ausstellung im PHOXXI,
in denen deine Arbeit derzeit gemeinsam mit elf anderen ukrainischen
Fotograf*innen ausgestellt wird. Wie sieht sie aus, die neue
Abnormalität in der Ukraine?
Der Titel trifft die Situation
auf den Punkt. Zu Beginn des Krieges gab es ständig neue, ungewöhnliche
Situationen. Da geht man durch eine Stadt, die vier Millionen
Einwohner*innen zählt, spaziert über einen der zentralen Plätze und kein
einziger Mensch ist mit dir auf der Straße. Oder du siehst einen jungen
Hipster, der zusammen mit einer alten Frau einen Molotow-Cocktail
herstellt. Nach und nach aber gewöhnt man sich an alles: an die Leichen
in den Gärten, an Menschen in Trauer, an Ruinen, an Mut.
»Die Überlebenden der Stadt kommen aus ihren Verstecken, viele lächeln fröhlich, als ob das neue Leben schon da wäre und alle Schrecken hinter ihnen lägen. Sie nehmen unsere Hände und bedanken sich dafür, dass wir gekommen sind, dass wir hinsehen, dass wir uns kümmern. Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges fehlen mir die Worte, hier habe ich nichts zu sagen.« – Tagebucheintrag von Mila Teshaieva
»Ich setze die Teile wieder zusammen und sichte meine Fotos von toten Körpern auf den Straßen. Ich bin mit einer komplexen Frage konfrontiert: Ich muss sie zeigen und ich muss dabei auf die Gefühle derer achten, die sie anschauen.« – Tagebucheintrag von Mila Teshaieva
Das ist sie
dann vielleicht, die neue Abnormalität?
Es ist in gewisser Weise »normal« geworden, mit dem Krieg zu leben, zu trauern und zu feiern,
während aus der Luft die Sirenen ertönen. Natürlich ist es eine
unglaublich schmerzhafte Zeit für uns, wir alle haben Freunde oder
Verwandte, die uns verlassen haben oder gestorben sind. Aber wir haben
uns auch daran gewöhnt, weiterzuleben. »Alles wird gut« ist zu unserem
Mantra geworden, an das wir uns gegenseitig immer wieder erinnern. Was
kann man einer 70-jährigen Frau sagen, deren Haus bombardiert und deren
Ehemann vor ihren Augen getötet wurde? Man will irgendetwas sagen, also
sagt man, dass alles gut wird, obgleich es völlig absurd klingt.
Wie viel Tod darf man der Welt deiner Meinung nach zumuten? Darf man Leichen zeigen, Schwerverletzte? Gibt es Grenzen?
Ich
habe einige Diskussionen darüber geführt. Als ich am 2. April nach
Butscha gefahren bin und dort Leichen auf der Straße liegen sah, habe
ich sie fotografiert und in den sozialen Medien veröffentlicht. In der
Ausstellung tauchen die Fotos nicht auf. Hier in Deutschland sagten mir
einige, man wolle keine Leichen sehen, es sei falsch, sie zu zeigen. Ich
bin da anderer Meinung. Man muss die Toten zeigen, das ist eine
wesentliche Information. Ich denke schon, dass es eine Grenze gibt, bis
zu der wir Menschen damit umgehen können. Wenn es uns zu viel wird,
schließen wir die Augen, richten unsere Aufmerksamkeit auf etwas
anderes. Im Falle eines Krieges und der Wiederholung des Todes müssen
Fotograf*innen und Medien sensibel dafür werden, wann sie etwas zeigen
und wann nicht. Wenn man Dinge immer und immer wieder zeigt, hat es
keinen Einfluss mehr auf die Öffentlichkeit. Es braucht mehr Metaphern,
starke Symbole, Verbindungen.
Die berühmte und viel zu früh verstorbene Kriegsfotografin Anja Niedringhaus hat mal gesagt »Wenn ich es nicht zeige, dann wird es nicht bekannt.« Woher nimmst du den Mut für deine Arbeit?
Ich
bin ein Mensch, der keine großen Ängste in sich trägt. Im März gab es
ein paar Situationen, in denen ich mich unwohl fühlte, in Irpin zum
Beispiel, als es um mich herum Explosionen gab. Aber wenn Menschen von
Mut sprechen, weiß ich in dem Zusammenhang nicht, was sie meinen. Wir
haben Angst, wenn wir etwas nicht verstehen oder etwas für uns völlig
unbekannt ist. Ich hatte auch kurz Angst davor, zurück nach Kyjiw zu
gehen. Aber sobald ich dort war, war die Angst verflogen. Wie kann man
in einer Stadt, in der man sein ganzes Leben verbracht hat, Angst haben?
Es ist mein Zuhause und zu Hause kann ich keine Angst haben. Ich stimme
Anja zu. Was mich in den ersten drei Monaten motiviert und mir Kraft
gegeben hat, war dieses Gefühl: Ich muss es zeigen. Wie sollen die Leute
sonst davon erfahren? Ich fühlte mich ein bisschen wie eine Soldatin im
Dienst, sah es als meine Pflicht an, jeden Tag zu filmen, zu
fotografieren, mit den Menschen zu sprechen, alles festzuhalten.
Was hat sich seit dem Krieg für dich verändert?
Auf
persönlicher Ebene bin innerlich gewachsen, stärker geworden, kann mehr
tragen und ertragen. Als Fotografin habe ich mich natürlich in den
letzten Monaten auf die Ukraine konzentriert anstatt auf andere geplante
Projekte. Aber ich bin weiterhin dieselbe Fotografin und wenn ich noch
in diesem Monat in die Ukraine zurückkehre, dann möchte ich mich wieder
mehr auf meinen Stil konzentrieren, mir mehr Zeit nehmen für langsame,
experimentelle Arbeit. In Schweden habe ich letztes Jahr damit begonnen,
Teenager zu porträtieren. Ich mag es, mich auf ihre verletzliche Seite
einzulassen, ihre Sensibilität zu zeigen. Mit dem Projekt möchte ich
gern in der Ukraine weitermachen.
Mit welchen Gefühlen kehrst du zurück?
Ich
vermisse die Ukraine sehr. Es ist viel schwieriger, hier in Berlin zu
sein, wenn in meiner Heimat Krieg herrscht. Während ich hier in
verschiedene emotionale, bisweilen posttraumatische Situationen gerate,
habe ich in Kyjiw das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.
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Jana Kühle (*1983) lebt und arbeitet als Journalistin, Fotografin und Fotoredakteurin in Hamburg.
Mila Teshaieva
ist in Kyjiw geboren und aufgewachsen. Seit 2004 arbeitet Teshaieva an Langzeitprojekten auf den
Gebieten der ehemaligen UdSSR, insbesondere widmete sie die letzten
Jahre dem Kaukasus und der Region um das Kaspische Meer. Für ihre
fotografische Arbeit hat Mila Teshaieva bereits zahlreiche
internationale Auszeichnungen erhalten. Seit 2010 lebt sie auch in
Berlin.
Die Ausstellung THE NEW ABNORMAL ist bis zum 6. November 2022 im PHOXXI der Deichtorhallen Hamburg zu sehen.
»Jeden Tag zur Mittagszeit erklingt aus den Lautsprechern auf dem Maidan ein altes Lied über die Liebe zu Kyjiw. Manchmal mischen sich die Klänge des Liedes mit dem Heulen des Luftalarms. Ich schaue mir die Menschen an, die vorbeigehen, wenn das Lied erklingt, das alle kennen, und in diesem Moment lächeln sie. Und die Sonne durchflutet die Stadt, die unbesiegbar ist.« – Tagebucheintrag von Mila Teshaieva