»Ich wollte nie nur Bilder an die Wand hängen«
29. November 2023
FOTO: PHILIPP MEUSER
29. November 2023
Ingo Taubhorn, Sie wollten ursprünglich Schauspielregisseur werden, jetzt waren Sie 17 Jahre lang Kurator am Haus der Photographie in den Deichtorhallen Hamburg. Ist Ausstellungsmacher auch ein bisschen so wie Regisseur oder Schauspieler sein?
Rückblickend kann man das sicher so sehen. Schon in meiner freiberuflichen Zeit vor den Deichtorhallen habe ich mich nicht als Kurator, sondern als Ausstellungsmacher bezeichnet. Das begann, als ich an der Fachhochschule Dortmund zusammen mit Wolfgang Zurborn und Susanne Brügger studiert habe. Wir haben damals schon Konzepte entwickelt und Ausstellungen realisiert. Bei dieser Beschäftigung mit der eigenen Arbeit habe ich festgestellt, dass es für mich sehr wichtig war, nicht nur Fotografien zu machen, sondern auch über Fotografien nachzudenken.
Der Blick über den Tellerrand war Ihnen wichtig.
Ich habe mich nicht nur auf meine eigene Arbeit konzentriert, sondern immer auch schon geschaut, was andere machen. Nicht, weil ich etwas kopieren wollte, sondern weil wir in den 80er-Jahren dazu angehalten wurden, über Einflüsse und alle möglichen Dinge zu sprechen. Ich wollte nie nur Bilder an die Wand hängen, sondern den Betrachter*innen die Möglichkeit geben, innerhalb des Ausstellungsraumes ein Erlebnisgefühl zu haben und über das visuelle Material zu der Idee der Künstler*innen zu kommen, ohne sie vorher mit Texten zuzuschütten.
»Ich habe mir immer den Luxus gegönnt, dass ich mit der jeweiligen Ausstellung gewachsen bin«
Wird genau das nicht immer schwieriger, vielleicht auch
besonders in Deutschland? Ich habe das Gefühl, dass Ausstellungen vor
allem vom Eingangstext leben und die Fotografien dann oft nur noch die
Illustrationen zu diesen Konzepten sind.
Sie sprechen da
etwas Interessantes an. Mit jungen Fotograf*innen habe ich oft die
Erfahrung gemacht, dass sie sich ein wenig zurücklehnen und sagen: »Wenn
der Betrachter das nicht versteht, ist das nicht mein Problem.« Das ist
eine Arroganz, die es damals nicht gegeben hat. Vielleicht haben wir
uns damals auch ein bisschen zu viel damit gestresst, dass wir immer
einen Weg finden wollten, wie sich die Arbeit möglichst von allein
formuliert. Oft konnte ich Arbeiten nicht zeigen, weil ich das Gefühl
hatte, dass sie noch nicht zu Ende gedacht waren. Heute hauen Leute ihre
Arbeit mit einer Selbstverständlichkeit und einer Offenheit raus, die
ich auch sehr interessant finde. Auf der anderen Seite leben wir in
einer Welt, in der die Dinge, die wir sagen und machen immer mehr auf
den Prüfstand gestellt werden. Beim Ausstellungmachen findet ein
Paradigmenwechsel statt. Es gibt eine Gruppe von sehr jungen
Kurator*innen, die einen sehr anderen Blick auf die Fotografie hat,
indem sie ganz viele verschiedene Bereiche bis hin zu den Wissenschaften
in ihre Auswahl mit einbeziehen. Das ist nicht mein Stil und vielleicht
bin ich dafür auch zu alt, aber es fasziniert mich und das ist auch die
Zukunft. Aber Ausstellungen, die nur dafür da sind, Thesen zu
bestätigen, die ich mir vorher ausgedacht habe, sind die langweiligsten
Ausstellungen überhaupt.
Eine gute Ausstellung ist eine Ausstellung, in der ich etwas erfahre, was ich nicht schon durch den Eingangstext erfahren habe.
Oft
wird man dann noch auf den Ausstellungskatalog verwiesen, der
unheimlich wichtig ist. Eine coole Ausstellung, in der die Bilder für
sich sprechen, finde ich genauso toll wie eine Ausstellung, in der die
Inszenierung dazu beiträgt, dass die Besucher*innen zu einer neuen
Erkenntnis kommen, ohne sich vorher stundenlang durch Wandtexte
durchzuarbeiten, damit sie am Ende nur noch in jedem Blick, der dort
beschrieben wird, die Bilder rezipieren. Das gilt aber auch für mich als
Kurator: Ich habe mir immer den Luxus gegönnt, dass ich mit der
jeweiligen Ausstellung gewachsen bin und am Ende der Ausstellung war ich
viel klüger als zu Beginn der Planung. Wenn Ausstellungsmacher*innen
schon am Anfang zu klug sind und schon alles wissen, verpassen sie die
Chance, tiefer in die Materie einzusteigen und selbst etwas Neues zu
erfahren. Diesen kleinen Punkt – nennen wir es Neugierde oder Intuition –
muss man sich erhalten, damit man auch Arbeiten, die man am Anfang
vielleicht nicht versteht und bei denen man sagt »Das muss weg«, aushält
und diese zeigt. Selbst dann, wenn man damit scheitert.
Gerhard
Richter wird der Satz zugeschrieben »Meine Bilder sind schlauer als
ich.« Und vielleicht trifft das ja auch auf Kurator*innen und
Ausstellungen zu.
Auf jeden Fall! Das unterschreibe ich sofort. Aber die meisten Kurator*innen wollen schlauer als ihre Ausstellungen sein.
Warum ist es wichtig einen speziellen Ort für Fotografie zu haben?
Die Frage wurde damals auch in Hamburg gestellt.
Die Frage wird immer und überall gestellt, wenn es darum geht, ein Haus oder ein Museum für Fotografie zu gründen.
Die
Argumentation gegen eine eigene Institution lautet eigentlich immer:
Die Fotografie ist doch längst in den Kunstmuseen angekommen und dort
akzeptiert. Und das ist auch absolut richtig. Aber es geht eben nicht
nur um Fotografie als Kunstform, sondern eben um die Vielschichtigkeit
des Mediums in den unterschiedlichsten Bereichen. Und das alles
abzubilden war immer die Aufgabe des Hauses der Photographie. The Medium
is the Message! Deshalb haben wir auch viele Jahre die Reihe
VISUALLEADER mit dem Besten, was in den letzten 12 Monaten in deutschen
Print- und Online-Medien erschienen ist, befürwortet. Das war die größte
Schau ihrer Art in ganz Europa.
Ein Kunstmuseum hätte so etwas nicht gemacht.
Nein,
weil da die Grenze zum angewandten Design
überschritten wird. Auch bei der Aufnahme des Deutschen Fotorats in den
Kulturrat in diesem Jahr wurden solche Diskussionen geführt. Aber wir
beim Fotorat haben gesagt: »Nein, Fotografie geht weder in die eine noch
in die andere Sektion, denn die Fotografie ist eigenständig und
vielfältig.«
Aber wie wird darüber entschieden, ob eine
Fotoausstellung in den Deichtorhallen im Haus der Photographie oder in
der Halle für aktuelle Kunst gezeigt wird?
Das ist letztlich
eine Entscheidung der Direktion und da kann es durchaus zu strittigen
Situationen kommen. Nach ihrer Ansicht gehört die aktuelle Ausstellung
von Cindy Sherman nicht in das Haus der Photographie, sondern in die
Sammlung Falckenberg. Das hat natürlich einen Grund: Ich wurde gefragt,
ob ich die Ausstellung übernehmen würde, aber aktuell haben wir gar
nicht die Kapazitäten in unserem Übergangshaus PHOXXI für eine so umfangreiche Ausstellung.
»Die meisten Kurator*innen wollen schlauer als ihre Ausstellungen sein«
»Für das Haus der Photographie war es immer wichtig über den Tellerrand hinauszuschauen«
Aber wenn das Haus der Photographie zu dem Zeitpunkt nicht wegen Sanierung geschlossen
gewesen wäre: Hätten Sie Cindy Sherman dann dort gezeigt?
Ja,
das hätte ich gemacht. Aber es gibt auch umgekehrte Fälle wie
beispielsweise die Saul-Leiter-Retrospektive im Jahr 2012. Seine Malerei
wird üblicherweise getrennt von seinem fotografischen Werk gezeigt,
aber ich wollte das unbedingt gemeinsam präsentieren. Auch zusammen mit
seiner Modefotografie übrigens, die ja genauso ein Teil seines
Lebensunterhalts war. Bei Guy Bourdin war es 2013 ähnlich: Er wollte
ursprünglich Maler werden und ist daran gescheitert. Aber genau diese
Versuche wollte ich in die Ausstellung integrieren. Und zwei Jahre später
bei Sarah Moon wollte ich eben auch einen großen Bereich ihren
Foto-Filmen widmen.
Diese Fotografen werden vor allem in der Fotografiewelt wahrgenommen und vielleicht ist es deshalb kein Problem.
Mag
sein. Aber in seiner Retrospektive hat Michael Wolf seine
dokumentarische Fotografie um Installationen und Objekte erweitert, zum
Beispiel seine Stühle, die er gesammelt hat, und seine Wandinstallation The Real Toy Story mit 40.000 Billigspielzeugen aus China. Und es gibt
Kunsthistoriker*innen, die haben ganz klare Vorstellungen und die
schauen sich Fotografien nicht frisch und ohne Kontextualisierung an,
sondern ordnen sie sofort in Schubladen ein. Meine Haltung unterscheidet
sich dahingehend, dass ich versuche, unvoreingenommen auf das Werk
einzugehen und zu fragen: Ist das Werk in sich schlüssig? Für das
Haus der Photographie war es immer wichtig über den Tellerrand
hinauszuschauen und das Medium in seiner Gesamtheit zu betrachten. Das
bedeutet aber umgekehrt auch, Positionen neu zu kontextualisieren und
nicht nur die Fotografie als Kunst zu zeigen.
Es gibt
auch an deutschen Kunsthochschulen noch immer die Denkweise, dass Kunst
ist, was von Künstler*innen gemacht wird, und einige Studierende und
auch Lehrende haben regelrecht Angst davor, dass ihnen der Platz an der
Museumswand strittig gemacht wird.
Aber darum geht es doch
gar nicht. Es kann nicht sein, dass wir sagen »Die Museumswand ist nur
für Künstler*innen«. Es geht darum, dass wir das Medium als solches verhandeln
und dass wir Ebenen schaffen, in dem sich die Besucher*innen fern der
üblichen Kontexte darauf konzentrieren können.
Gab es denn umgekehrt Künstler*innen, die gesagt haben, dass sie nicht in einem Haus für Photographie ausstellen wollen?
Ich habe jeden Künstler und jede Künstlerin gewinnen können, den oder die ich angefragt habe. Möglicherweise aber auch, weil das Haus der Photographie ein Teil der Deichtorhallen ist und die Institution natürlich für etwas steht.
Das Haus der Photographie ist
mit seiner 1.300 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche, der fast 20 Meter hohen Decke
und den fünf Meter hohen Wänden geradezu riesig. Das ist eine
wunderbare Fläche, aber die muss man auch füllen. Wie geht man mit
solchen Herausforderungen um?
Die Halle ist großartig und
auch ein Luxus. Es gibt Künstler*innen, denen das ohne Probleme gelingt.
Ich habe eine Reihe von Ausstellungen mit Dokumentarfotograf*innen
gemacht, die über das eigentliche fotografische Medium hinaus mit
Erweiterungen gearbeitet haben, also zum Beispiel mit Text, mit Objekten
oder mit Installationen. Dazu gehörten Paolo Pellegrin, Lauren
Greenfield und Michael Wolf. Für die war die Größe der Halle überhaupt
kein Thema. Aber es gibt eben auch Künstler*innen, die ganz reflektiert
sagen, dass sie die Halle allein nicht bewältigen können. Matt Black
beschäftigt sich in seiner Arbeit mit der Armut in den Vereinigten
Staaten. Und obwohl er installativ und raumgreifend gearbeitet
hat, war die Halle für ihn allein zu groß. Aber ich wollte auch nicht
einfach eine zweite Ausstellung zeigen, die mit Black nichts zu tun hat.
Stattdessen hat meine Kollegin Sabine Schnakenberg mit Jerry Berndt
eine historische Position aus den 1960er- bis 1980er-Jahren dazu genommen,
die sich ebenfalls mit der sozialen Verfassung
Amerikas beschäftigt hat. Und dazu haben wir dann auch noch eine Wand
aus Monitoren gebaut, auf denen permanent aktuelle Instagram-Bilder mit
unterschiedlichen Hashtags wie #blacklivesmatter und
#makeamericagreatagain gezeigt hat. Damit haben wir das Thema aus
verschiedenen Perspektiven und aus verschiedenen Zeiten reflektiert.
Sie haben im Haus der Photographie fast 80 Ausstellungen gemacht. Welche Ausstellungen waren, gemessen an den
Publikumszahlen, die erfolgreichsten?
Das war die
Retrospektive LIFE IN CITIES von Michael Wolf. Wir hatte mehr als 50.000 Besucher, das
war unglaublich. Die zweiterfolgreichste war die AUGEN AUF!-Ausstellung zum 100. Geburtstag von Leica und der damit
verbundenen Geburt der Kleinbildfotografie. Diese Ausstellungen waren
vom Inhalt her eher anspruchsvoll. Aber es gab auch Event-Ausstellungen,
die einfach mal für's Herz waren. Dazu gehörten die beiden Ausstellungen TRAUMFRAUEN und TRAUMMÄNNER, dessen Konzept recht einfach war: 50
Top-Fotograf*innen, die die Medienlandschaft bestimmt haben, wurden nach
ihren drei bis fünf schönsten Fotografien von Frauen beziehungsweise
von Männern gefragt. Sie können es sich nicht vorstellen, wie gut besucht
die Ausstellungen und wie begeistert die Besucher*innen waren. Deswegen
habe ich mit diesen beiden Ausstellungen auch meinen Frieden
geschlossen.
Das klingt, als wären Sie ursprünglich nicht ganz glücklich gewesen.
Bei
der Pressekonferenz zu den TRAUMFRAUEN war ein sehr kritischer
Journalist, der nur den Kopf geschüttelt hat und meinte »Ingo, ich kann
hier nur einen Verriss schreiben.« Ich meinte zu ihm, dass er das dann
auch tun solle, wenn es ihm wichtig sei. Ich hatte keinen inhaltlichen
Anspruch bei dieser Ausstellung und werde sie gewiss nicht auf den Thron
heben. Ich behaupte auch nicht, dass das Kunst sei. Es ist das, was es
ist. Aber – und das war mir wichtig: Auch das ist eben Fotografie und
diese Bilder beeinflussen die Wahrnehmung des Publikums, wenn wir sie in
Hochglanzmagazinen und in der Werbung sehen. Diese Bilder bestimmen
unsere Vorstellung von Schönheit mit.
»Ich habe jeden Künstler und jede Künstlerin gewinnen können, den oder die ich angefragt habe«
»Ich muss keine Sekunde darüber diskutieren, ob Dokumentarfotografie auch Kunst ist. Das ist Kunst. Fertig und Aus«
Welche Ausstellungen sind rückblickend Ihre wichtigsten oder liebsten gewesen?
Da
gibt es mehrere. Die Ausstellung von Lillian Bassman und Paul Himmel
war wichtig für mich, denn sie entsprach eigentlich genau meinem Stil,
nämlich etwas zu entdecken, was zu dem Zeitpunkt nicht mehr im Fokus der
Allgemeinheit war. Saul Leiter war wichtig, weil ich sofort gespürt
habe, dass seine Arbeit durch die Decke gehen wird.
Und ich glaube, es war ganz wichtig, dass ich mich entschieden habe, Ute
und Werner Mahler auszustellen – obwohl mir einige Kolleg*innen im
Vorfeld dazu geraten haben, die Ausstellung sehr klein zu machen, habe
ich genau das Gegenteil gemacht und sie sehr groß ausgestellt. Die
Ausstellung war für die Begrifflichkeit des Dokumentarischen wichtig.
Ich muss da keine Sekunde darüber diskutieren, ob Dokumentarfotografie
auch Kunst ist. Das ist Kunst. Fertig und Aus.
Aber Sie
müssen sich in einem Haus der Photographie doch nicht dafür
rechtfertigen, ob das, was Sie zeigen, Kunst oder »bloß« Fotografie ist.
Das
ist richtig. Aber es gibt auch Fotograf*innen und Künstler*innen, die
nicht in der Fotografieszene rezipiert werden möchten, sondern in der
Bildenden Kunst. Ich sage dann »Leute, ihr dürft euch nicht selbst
hassen. Ihr müsst ein Selbstverständnis haben. Und es spielt doch keine
Rolle, ob ihr in der Fotogalerie oder in einer Kunstgalerie, ob ihr auf
der Art Basel oder auf der Paris Photo ausgestellt werdet: Es geht um
das Werk und wenn das besteht, dann ist es gut.« Außerdem gibt es
Menschen, die sagen, dass etwas »nur« Dokumentarfotografie sei und eben
nicht Kunstfotografie und deshalb sei es für sie nicht relevant. Da muss
in der Szene noch viel über solche Begrifflichkeiten nachgedacht
werden.
Welche Ausstellungen sind Ihnen noch in Erinnerung geblieben?
Neben
den großen gab es auch kleinere Ausstellungen, die ich ganz wichtig
finde. Zusammen mit der Stichting Fotografie Noorderlicht in Groningen
habe ich zum Beispiel eine tolle Ausstellung mit Kiyoshi Suzuki gemacht.
Er steht nicht so im Fokus wie andere japanische Fotografen. Hier am
Haus der Photographie hatten wir 2008 die Möglichkeit, nicht nur seine
Fotografien selbst zu zeigen, sondern auch seine Fotobücher. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass der Stellenwert des Fotobuches in Japan
ungleich höher ist als in Europa und dass es für japanische
Fotograf*innen viel interessanter ist ein Fotobuch zu machen als eine
Ausstellung. Suzuki hat sieben herausragende Fotobücher gemacht, die
alle ausverkauft sind und die es im Antiquariat für zum Teil
vierstellige Summen zu kaufen gibt. Seine Töchter haben mir diese sieben
Original-Bücher zur Verfügung gestellt. Und zwar nicht, damit ich sie
in eine schützende Vitrine lege und die Besucher*innen demütig auf eine
Doppelseite schauen.
Die Bücher durften ausgelegt und von den
Besucher*innen durchgeblättert werden.
Dafür haben wir in der Mitte der
Ausstellung sieben Tische mit 14 Hockern installiert. Die Besucher*innen
konnten sich komplett auf die Dramaturgie konzentrieren, weil um sie
herum an den Wänden kein einziges Foto hing – die Barytabzüge aus allen
Serien waren außerhalb des zentralen Raumes zu sehen. Die Leute sind mit
einer Hochachtung an die Bücher herangegangen, das war wunderbar, denn
normalerweise sind Bücher, die man auslegt, nach zwei Wochen
zerfleddert. Kein einziges Buch ist kaputt gegangen. Eine andere
Ausstellung, die ich wegen ihrer absoluten Radikalität wahnsinnig
mochte, war die von Ken Schles, Jeffrey Silverthorne und Miron Zownir im
Jahr 2016. Das waren zwar drei Einzelausstellungen, aber sie liefen
gleichzeitig und jede bekam ihr eigenes Plakat. Bereits über die
Einladungskarte haben sich wahnsinnig viele Leute beschwert und der
Freundeskreis des Hauses der Photographie war schockiert, weil er sich
plötzlich mit Sex und Tod konfrontiert sah. Die Ausstellung selbst war
so radikal, dass die Hamburger Presse geschockt darüber berichtete.
Wieso geschockt?
Es
war eine düstere Ausstellung, überwiegend Schwarzweiß-Aufnahmen. Es
ging um sehr persönliche Geschichten, Exzesse, Tod und Prostitution.
Jeffrey Silverthorne hat im Leichenschauhaus fotografiert und Miron
Zownir hat Homosexuelle, Transvestiten und andere Randgruppen in den
1980er Jahren festgehalten. Sie haben das fotografiert, von dem andere
den Blick abwenden. Journalist*innen kamen auf mich zu und sagten, dass sie
die Ausstellung großartig fanden, aber die Redaktion ließe nicht zu,
dass darüber berichtet würde. Die Boulevardpresse hat etwas gemacht –
und die Ausstellung skandalisiert.
Gibt es eine Ausstellung, die Sie gerne gemacht hätten, die Sie aber nicht umsetzen konnten?
Ja,
aber dafür muss ich kurz ausholen. Ich habe meine Zeit hier schon
genutzt und ich bin in dem Bewusstsein im Haus der Photographie eingestiegen, dass ich mich
bestimmten Bereichen anders öffnen möchte als ich es als junger Fotograf
bei anderen Kurator*innen erlebt habe. Deshalb habe ich gleich zu
Beginn einen starken Fokus auf den Bereich der jungen Fotografie
gerichtet. Das war auch vom Hause aus so gewollt, denn alle Häuser
möchten das Durchschnittsalter ihrer Besucher*innen senken. Dafür muss
man aber auch junge und dynamische Positionen zeigen. Dafür war der
Kontakt zu Josefine Raab und Stefan Becht, Organisatoren des Wettbewerbs gute
aussichten, ein Geschenk. Ohne nur ein Bild gesehen zu haben, wusste
ich, dass das etwas ist, was genau auf meiner Wellenlänge liegt, nämlich
unbekannten Fotograf*innen, die gerade ihren Hochschulabschluss gemacht
haben, ein Forum zu bieten, genau wie ich es für prominente
Fotograf*innen tun würde. Ich habe am Anfang relativ viel Gegenwind
bekommen, denn natürlich weiß man nicht, was aus all diesen jungen
Leuten einmal wird. Aber die Ausstellungen waren immer wahnsinnig
erfolgreich und wir hatten bis zu 5.000 Besucher*innen allein bei den
Ausstellungseröffnungen im Haus.
Aber darum ging es Ihnen ja nicht.
Ich
wollte diesen Positionen nicht nur einen Projektraum irgendwo am Rand
auf dem Weg zu den Toiletten zur Verfügung stellen, sondern sie mittendrin und mit ausreichend Platz präsentieren, damit sie ihre Geschichten
auserzählen können. Das habe ich geschafft.
»Alle Häuser möchten das Durchschnittsalter ihrer Besucher*innen senken. Dafür muss man aber auch junge und dynamische Positionen zeigen«
Aber?
Ich
bekomme die gesamte Diskussion um fotografische Vor- und Nachlässe mit.
Einige Fotograf*innen sind mit ihrem Lebenswerk durch die typischen
Raster der Museumslandschaft gerasselt. Diese Künstler*innen haben
einfach kein Forum und werden auch nicht gesammelt. Ich könnte Ihnen
sofort ein Dutzend Beispiele nennen. Ich habe lange darüber
nachgedacht, ob es nicht ein ähnliches Modul geben könnte wie bei den
jungen Fotograf*innen, nur eben für Fotograf*innen, die bereits ein
gewisses Alter überschritten haben und für die es üblicherweise keine
Förderprogramme und Stipendien mehr gibt.
Würden Sie sich dabei auf deutsche Positionen beschränken?
Nein,
nicht unbedingt. Das könnte auch international besetzt sein. Allein in
Deutschland gäbe es genug. Selbst Walter Schels, den ich als Teil der »Hamburger Helden« ausgestellt habe, würde ich dazu rechnen. Aber immer,
wenn es bei Gesprächen mit potentiellen Sponsoren um das Thema ging,
wurde schnell gesagt, dass sie lieber junge, neue Positionen
unterstützen wollen.
Wie sind Ihre Pläne für den Ruhestand? Bleiben Sie der Fotografieszene erhalten?
Ich
kann es Ihnen nicht mit 100-prozentiger Sicherheit sagen, aber ich
glaube, dass ich wieder zu dem zurückkehren werde, was ich vor meiner
Arbeit an den Deichtorhallen gemacht habe. Ich weiß nicht, ob ich als
Fotograf noch eine Rolle in der Fotografiewelt spiele. Aber das Machen
von Fotografie ist mir unheimlich wichtig und ich finde darin auch ein
Seelenheil. Ich werde mich mit meinem Vorlass beschäftigen, Ordnung
schaffen und meine eigene Arbeit rezipieren. Ich werde also auch
weiterhin Fotos machen, außerdem bin ich auch noch Präsident der
Deutschen Fotografischen Akademie und stellvertretender Sprecher des
Deutschen Fotorats. Ich bleibe der Fotografie also erhalten.
__________
Ingo Taubhorn (*1957) stellte als Künstler international
aus (Mensch Mann, VaterMutterIch und Die Kleider meiner Mutter).
Seit 1988 arbeitete er als freier Ausstellungsmacher für das Museum
Folkwang in Essen, die Pat Hearn Gallery in New York und die Neue
Gesellschaft für Bildende Kunst (nGbK) in Berlin. Von 2006–2023 war er
Kurator des Hauses der Photographie, Deichtorhallen Hamburg. Er ist
Präsident der Deutschen Fotografischen Akademie (DFA) und unterrichtet
an der Fachhochschule Bielefeld sowie an der Ostkreuzschule in Berlin.
Seit 2023 ist er ein Sprecher des Deutschen Fotorats. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Damian Zimmermann (*1976) lebt und arbeitet als Journalist, Kunstkritiker, Fotograf, Kurator und Festivalmacher in Köln.