»Ich zeige das Gefühl
der Machtlosigkeit«
28. Juli 2020
El Paso, Texas, USA, 2015 © Matt Black / Magnum Photos
28. Juli 2020
HALLE4: Mr Black, Sie sind für ihr Projekt mehrfach durch die USA gereist und hast Orte und Regionen besucht, die von Armut betroffen sind. Was war der Auslöser für dieses Projekt?
Matt Black: 2014 habe ich angefangen, in meiner direkten Umgebung im kalifornischen Central Valley zu fotografieren. Ich habe mein gesamtes Leben hier verbracht. Es ist eine Region, die nicht vom großen amerikanischen Mythos repräsentiert wird und dessen Alltagsrealität von den meisten Menschen nicht akzeptiert und sogar ignoriert wird. Es ist eine der ärmsten Regionen in den Vereinigten Staaten. Sehr ländlich, landwirtschaftlich geprägt und sehr heiß.
Das exakte Gegenteil von dem, was Menschen im Kopf haben, wenn sie an Kalifornien denken.
Genau. Aber wenn du von hier bist, dann fühlst du diesen Mythos sehr direkt und denkst dir: Ja, ich lebe in Kalifornien, aber das ist nicht das Kalifornien, das ich aus Fernsehserien wie Baywatch kenne. Du hast hier Disneyland, das Silicon Valley und Hollywood. Ich befinde mich buchstäblich genau in der Mitte davon, drei Autostunden in jede Richtung, doch das Leben hier hat nichts mit dem Leben dort gemeinsam. Mit diesem Kontrast bin ich aufgewachsen: Alles ist großartig – nur nicht da, wo ich bin. Gegen diesen Mythos des »Golden State« wollte ich ankämpfen.
Was hat Sie zu ihren fotografischen Reisen durch die USA motiviert?
Die erste Tour habe ich 2015 gemacht. Sie hat dreieinhalb Monate gedauert und ging von Küste zu Küste. Ich habe mir Orte ausgesucht, die eine Armutsquote von mehr als 20 Prozent haben und damit offiziell als arm gelten. Ich weiß nicht mehr, ob es 50, 60 oder 70 Orte waren, die ich besucht habe. Als ich anfing, war ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt genügend Orte finden würde. Ich hatte mir vorgenommen, einmal quer durch die USA und wieder zurück zu fahren und wollte nicht länger als ein paar Stunden zwischen diesen Orten im Auto sitzen.
Warum haben Sie sich für diese Distanz entschieden?
Ich wollte, dass die Reise eine sinnvolle Route ergibt, auf der man bei jedem Stopp in einem von Armut betroffenen Gebiet aussteigt. Ich wollte kein Zickzack fahren, um zu vermeiden, dass es so aussieht, als ob ich nach diesen Orten suchen würde. Ich stellte verblüfft fest, dass es möglich war, einmal komplett durch die USA und wieder zurückreisen, ohne jemals wirklich eine Armutsregion zu verlassen, weil sie alle ineinander übergehen. Ursprünglich war es mein Konzept nur eine Reise zu machen. Doch dann merkte ich, wie sehr sich diese Orte ähneln. Also habe ich noch eine Reise unternommen. Am Ende waren es fünf. Dadurch hat sich meine Wahrnehmung Amerikas stark verändert. Heute sehe ich in gewisser Weise die Verbindung zwischen dem Ort, aus dem ich komme, und all den anderen Orten in den USA, in denen Armut herrscht.
Wie haben Sie ihre Bildsprache für dieses Projekt entwickelt? Sie zeigen ja ganz bewusst keine Klischeefotos von Armut.
Ich denke nicht wirklich in solchen Kategorien und setze mich auch nicht hin und entwickle eine visuelle Strategie. Es war mir aber schnell klar, dass ich meine Erfahrung und meinen Standpunkt, an so einem Ort zu leben, kommunizieren will. Ich repräsentiere in meinen Fotografien eine bestimmte psychologische und mentale Geografie. Ich wollte auf keinen Fall die Armut versachlichen, sondern vielmehr das Gefühl der Machtlosigkeit transportieren. Deshalb zeige ich eine große Bandbreite von Aspekten des amerikanischen Lebens, die meist nicht erkannt werden. So gibt es bis heute den Mythos, dass Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei. Doch dieser Mythos wird widerlegt durch die tatsächliche Existenz der Orte, die ich fotografiert habe. Und diese Orte sind keine Ausnahmen – sie existieren überall in diesem Land!
Das überrascht mich sehr. Wenn wir in Europa über die USA sprechen, dann reden wir sehr oft über die Ungleichheit in der Gesellschaft und dass wir beispielsweise in Deutschland keine amerikanischen Verhältnisse haben wollen, unter denen die gesellschaftliche Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Offensichtlich verschließen viele Amerikaner ihre Augen davor.
Ja, diese soziale Schieflage und Chancenlosigkeit wird akzeptiert. Die amerikanische Identität bis beruht bis heute auf der Bootstraps-Idee.
Jeder ist für sich selbst verantwortlich und nicht auf die Hilfe anderer angewiesen ist, um etwas zu erreichen und erfolgreich zu sein.
Genau. Vollkommen egal, welchen Hintergrund du hast und woher du kommst: Wenn du es willst, kannst du es schaffen. Doch die Realität zeigt uns, dass dies nicht der Fall ist. Abseits dieser Vision gibt es keine andere gemeinsame Vision davon, was Amerika heute ist und welche Identität die USA eigentlich hat.
Ich habe das Gefühl, dass man sich in den USA sehr schnell unbeliebt macht, wenn man den Finger in die Wunde legt und auf Missstände hinweist. Jimmy Carter wollte 1979 in seiner Malaise Speech die Amerikaner wachrütteln und hat sie dafür kritisiert, dass sie zu sehr an Materiellem und am Konsum hingen. Viele haben ihm das Übel genommen, weil er ihnen nicht optimistisch genug war. Heute haben die USA einen Präsidenten, der genau das Gegenteil macht: Für Trump ist alles großartig. Und wenn etwas nicht großartig ist, dann sucht er dafür einen Schuldigen, am liebsten im Ausland.
Ja, das stimmt auch. Aktuell haben wir eine Politik, die gierig ist und die darauf aufbaut, dass derjenige gewinnt, der sich selbst am meisten als Opfer darstellt.
Der Däne Jacob Holdt hat in den 1970er Jahren die USA besucht und war schockiert und überwältigt von der Armut und den miserablen Lebensbedingungen, die er vorgefunden hat. Er hat alles fotografiert.
Amerika ist sehr oft und sehr gut von Außenstehenden und Fremden fotografiert worden. Ein anderer dänischer Fotograf war natürlich Jacob Riis – mit ihm hat die sozialdokumentarische Fotografie quasi begonnen. Ein anderer war Robert Frank, er kam aus der Schweiz. Außenstehende können auf eine Art und Weise auf dieses Land schauen, die Amerikanern sehr schwerfällt. Für mich ist der Kontext meines Projektes aber eine sehr amerikanische Angelegenheit.
Wie sind die Reaktionen auf Ihre Fotos? Erreichst Sie mit Ihnen nicht jene Menschen, die all das ohnehin schon wissen?
Mein Gefühl dazu ist: Du kannst es nicht wissen! Du kannst deine Arbeit auch nicht darauf aufbauen, wie viele Menschen du damit erreichst oder ob du sie sogar verändern kannst. Das wäre für mich ein gruseliges Konzept. Ich mache meine Arbeit nicht für andere, ich mache sie für mich selbst. Und ich hoffe, dass Menschen darauf reagieren werden. Alles andere würde für mich bedeuten, den Ochsen hinter den Pflug zu spannen. Ich kann nicht im Vorfeld das Ergebnis und die Wirkung bestimmen.
In den Deichtorhallen Hamburg sind ihre Fotos nun erstmals außerhalb der USA in einer Ausstellung zu sehen.
Ich habe die Fotos außerhalb der USA bislang nur in Magazinen veröffentlicht. Ich bin gespannt, wie das deutsche Publikum reagiert, denn in Amerika ist es ganz offensichtlich, wie unglaublich mächtig der Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Das gesamte Land wurde auf dieser Idee aufgebaut.
Wie hat sich die Corona-Pandemie auf Ihre Ausstellung ausgewirkt?
Das war eine der ersten Fragen, die wir diskutiert haben: Wie präsentieren wir diese Arbeit in dieser neuen Corona-Realität? Wenn ich die Medien in den USA verfolge und die Orte sehe, an denen der Corona-Virus besonders stark zuschlägt, entsteht eine Landkarte, die sich überwiegend mit meiner Landkarte der von Armut betroffenen Regionen deckt. Zu Beginn der Ausstellung werden wir klar machen, dass eben diese Orte von Corona am stärksten betroffen sind.
Eine weitere Entwicklung sind die zahlreichen Proteste der »Black-Lives Matter«-Bewegung nach dem Tod von George Floyd durch einen weißen Polizisten. Inwiefern betreffen diese Ihre Arbeit?
Mich fasziniert an der Bewegung, dass sie so weitreichend ist. Die Proteste finden nicht nur isoliert in einigen Großstädten, sondern wortwörtlich in den gesamten USA und auch in den kleinen Städten statt. Und all diese Proteste sind von der Idee der Machtlosigkeit miteinander verbunden. Wenn es um Macht geht, dreht es sich in den USA immer auch um die Frage der Rasse. In Bezug auf meine Arbeit geht es auch hier um die gleichen Themen: Wer hat Zugang zur Macht und wer ist ausgeschlossen? Deshalb fühle ich mich sehr mit dieser Bewegung verbunden. Sie hat mir gezeigt, wie schnell Dinge in Bewegung kommen können. Das hat mich ermutigt.
Damian Zimmermann (* 1976) lebt und arbeitet als Journalist, Kunstkritiker, Fotograf, Kurator und Festivalmacher in Köln.
Die Ausstellung MATT BLACK – AMERICAN GEOGRAPHY ist bis zum 3. Januar 2021 im Haus der Photographie zu sehen.