Krieg dem Klavier
12. März 2019
Foto: Thies Rätzke
12. März 2019
Die Axt gräbt sich in die Tastatur des alten Klaviers, das in seiner ornamentalen Pracht leicht erhöht und altarähnlich über der Band thront. Die Schläge treiben die Tasten aus dem Manual, katapultieren sie in den Raum, begleitet von dem Klang berstenden Holzes. Eine Frau sagt, dass sie das Brechen des Kiefers spüre, die Tasten ihr wie Zähne vorkämen. Das Vorstellungsbild ist nicht weit hergeholt, denn die metaphorische Verwandlung der Tastatur in ein mal freundliches, mal höhnisches Grinsen gehört zur Ikonografie des Instruments. Im Jargon der Straße: Das Instrument kriegt eins auf die Fresse.
Der Musiker, der so herzlos auf das wehrlose Instrument einschlägt, ist wohl nicht zufällig der Schlagzeuger der Band F.S.K bei dem Eröffnungskonzert der Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC in den Deichtorhallen: die archaische Trommel der Rockband gegen das bürgerliche Musikmöbel, der leidenschaftliche Lärm gegen den kunstfertigen Konzertbetrieb, die Wut gegen den Triebverzicht.
Als Sinnbild des Aufrührerischen, der Anti-Attitüde oder als Kritik an der Ehrfurcht vor dem Virtuosen trägt die Klavierzerstörung im Jahr 2019 nicht mehr. Sie ruft vielmehr Assoziationen sowohl zur Geschichte der frühen Popkultur als auch zur Avantgarde-Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Das Bild der herausgesprengten Klaviertasten führt geradewegs in die Zeit um 1930.
Es war Walt Disney, der seine Mickey Mouse, damals noch ein anarchistischer Frechling, in mehreren Vaudeville-Performances zur Karikatur des Liszt’schen Klavierhelden gestaltete. Mickey ist im Kampf mit dem Instrument, schlägt es mit Fäusten, tritt es mit Füßen, bespuckt es, springt darauf herum, sodass es sich biegt und schließlich die Tasten herausschleudert und zusammenbricht.
Die Maus war nur einer unter mehreren Akteuren in jener Epoche, die
in unsublimierter Unverschämtheit das Klavier misshandelten. Weitere
Comicfiguren und vor allem Comedians wie Stan Laurel und Oliver Hardy,
Jimmy Durante und die Marx Brothers inszenierten in
Slapstick-Situationen subversive Clownerien. Die Zerstörung des Klaviers
war eine Mischung aus Radauverhalten, das gegen den bürgerlichen
Anstand gerichtet war, und showhaftem Amüsement. Ein zeittypisches
Beispiel liefert Harpo Marx in A Day at the Races (1937), der
vor erlesenem Publikum das bekannte Cis-Moll-Präludium von Sergei
Rachmaninoff anstimmt.
Harpo spielt die klischierten pathetischen
Ausdrucksposen seriöser Virtuosen derart übertrieben nach, dass sich das
gefühlvolle Anschlagen der Tasten rasch zu einem Eindreschen auf das
Klavier steigert. Der Flügel wackelt und zittert, bis unter einem
lauten Krachen der Deckel abspringt und schließlich explosionsartig die
Tasten und Hämmer herauskatapultiert werden, die auf den verdutzten
Pianisten niederprasseln. Dieser Gag wurde einige Male sowohl im
Animationsfilm als auch im Spielfilm zitiert, hat aber auch seinen Weg
in die Installationskunst gefunden.
Rebecca Horns Concert for Anarchy (1990)
besteht aus einem verkehrt herum an der Decke hängenden Flügel. Ist
das Instrument zunächst noch still, öffnet sich wie von unsichtbarer
Hand geführt unversehens der Deckel der Tastatur. In einer plötzlichen
Bewegung werden die Tasten gleichsam ausgespuckt. Dieser Moment ist
erfüllt vom rauschenden und dröhnenden Klang des schwarzen Körpers. Was
bei Horn im Titel angespielt wird, die Anarchie, hatte in den
1930er-Jahren nicht nur humorvolle Aspekte, denn dass die Tasten zum
Fliegen gebracht wurden, gibt sich unschwer als Erleichterungssymptom in
schwerer Zeit zu erkennen.
Die Weltwirtschaftskrise hatte 1929 ihren
Anfang genommen und bestimmte die gesellschaftliche Gesamtlage – in den
USA angemessen mit dem Begriff Great Depression
beschrieben. Ersparnisverluste, reale Einkommensminderung, extreme
soziale Ungleichheit und eine gravierende Arbeitslosigkeit waren die
sichtbaren Merkmale der Krise. Die Sozialgeschichtsschreibung spricht
aufgrund dieser Sachlage von einer »Demoralisierung der Bevölkerung«.
Amerikanische Werte wie Wohlstand für alle, gesellschaftliche
Durchlässigkeit und Leistungsgratifikation erodierten schlagartig. Die
Attacken auf das Klavier erweisen sich vor diesem Hintergrund als
affektiv-symptomatischer Krisenausdruck. Den Filmen ist eine Intensität
zu entnehmen, die alles Gefühlige beiseiteräumt. Die Lust an der
Zerstörung ist Reproduktion und kompensatorischer Ausdruck für die
reale Erfahrung von ökonomischen und moralischen Entwertungen. Die
Rahmung durch Slapstick-Komik gibt dem Ganzen das Gepräge des
Aushaltbaren.
Es ist kein Zufall, dass um 1960 die Klavierdestruktion nur scheinbar
unangekündigt wieder auflebte und für ungefähr ein Jahrzehnt
vielfältige Artikulationsformen hervorbrachte, dieses Mal jedoch im
Kunstkontext: In der Ausstellung HYPER! kann der Besucher ein kleines Aquarell von Radenko Milak entdecken, das den Titel The act of destroying a piano
(2018) trägt. Der Fotorealismus des kleinen Gemäldes ist wörtlich zu
nehmen, denn Milak hat ein Foto aus dem Jahr 1959 reproduziert. Es zeigt
einen Moment aus der Performance zwei welten, in der Gerhard
Rühm und Friedrich Achleitner einen Flügel zerlegten, während
gleichzeitig Oswald Wiener und Konrad Bayer in Simultanlesung
Wittgenstein und indische Freudenhäuser aufeinanderprallen ließen. Die
Performance war Teil des 2. literarischen cabarets der
Wiener Gruppe, eine post-dadaistische multimediale Veranstaltung, die
nicht zuletzt vom rüden Volkstheater und Slapstick inspiriert war.
Die
Piano-Performances jener Zeit weisen fast alle deutlich die
Doppelsignatur aus Dada und Popkultur der Vorkriegszeit auf. Ob Nam June
Paik, George Maciunas, Gerhard Rühm, Ben Vautier, Al Hansen, Alejandro
Jodorowsky und sogar der tiefernste Raphael Montañez Ortiz haben
explizit auf diese Traditionen angespielt. Was allerdings neu war: Nicht
länger wurde die Instrumentendestruktion medial vermittelt, was eine
Distanzierung zum Geschehen einschloss, sondern vor Publikum in Szene
gesetzt. Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass die brutalen
Happenings das Publikum schockierten oder doch wenigstens ratlos
zurückließen. Die Quellen zeichnen ein anderes Affektszenario. Das
Publikum war oft belustigt, teilweise euphorisiert bis hin zu
Rock'n-Roll-hafter Feierlichkeit. Mitleid mit dem Instrument gab es nur
selten, wenn es nicht nur mit Äxten, Hämmern und Sägen traktiert,
sondern auch in Brand gesetzt, im Wasser versenkt, aus großer Höhe in
die Tiefe gestürzt oder einfach mit bloßen Händen zerlegt wurde, wenn
Maschinen als Angreifer installiert oder sogar Maschinengewehrsalven
abgefeuert wurden.
Der Schusswaffengebrauch einschließlich Bombenexplosion als künstlerische Maßnahme konnte 1964 im Museum für Moderne Kunst in Stockholm erlebt werden. Der schwedische Avantgarde-Musiker Welin führte dort seine Performance »Karl-Erik Welin gibt seinen letzten Klavierabend« auf. Der Titel, der so pathetisch wie satirisch gemeint ist, deutet an, dass sich in der Welle der Destruktionshandlungen etwas Ähnliches abspielte wie um 1930. Alle Künstler hatten die Endphase des Zweiten Weltkriegs als Jugendliche erlebt, das Grauen und die globale Entmoralisierung mit kindlicher Intensität erfahren. Die Atombombe hatte zudem die Apokalypse als realisierbar zur Vorstellung gebracht. Das Spiel mit der Destruktion war Hoffnung auf Ablösung vom Todestrieb und gleichzeitig Rekapitulation des Traumas.
Konzeptuell unterschieden sich die diversen Performances erheblich: Einige Künstler beabsichtigten eine Umwertung des bürgerlichen Konzertbetriebs, verfolgten die Entwicklung einer konkreten Kunst oder richteten sich mit ihren metaphysiklosen Aktionen gegen Expressionismus und Surrealismus; für andere wiederum standen Klangforschung oder sogar therapeutische Katharsis im Vordergrund.
Für die meisten Künstler aber galt wohl, was Wolf Vostell 1965 zum Ausdruck brachte: »Wir stimmen darin überein, daß Erinnerungen aus unserer Kindheit, Träume und Wünsche die Wahl unserer Aktionen beeinflussen. […] mein dominierendes Bild aus meiner Kindheit ist der sterbende Mensch. Ich lebte meine ersten Happenings als ich acht oder neun Jahre alt war: während eines Fliegeralarms mußten wir alle einen Kilometer aus der Schule in die freie Landschaft laufen, und jedes Kind mußte sich sich selbst überlassen alleine unter einem Baum verstecken; und von da aus sah ich Flugzeug-Schlachten und Bomben auf die Erde fallen wie Vogelschwärme.«
Gunnar Schmidt ist Professor für Theorie und Praxis des Intermedialen an der Hochschule Trier und Autor des Buches »Klavierdestruktionen in Kunst und Populärkultur«
Die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC ist noch bis zum 4. August in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.