Lost & Found (or maybe stolen):
Höhere Gewalt
1. September 2021
1. September 2021
Inventarnummer D51688-190118
Beschreibung: Schlagring aus Fichtenholz, holzsichtig und teilweise betuscht, 7,5 x 11 x 1,7 cm (HBT)
Fundzeitpunkt: 18. Januar 2019, gegen 17.00 Uhr
Fundort: Wipperfürth, Nähe Werner-Gross-Realschule, Im Mühlengrund in Richtung Gotlandstraße (Google Maps: 51.11698096688098, 7.40342394808948)
Umstand: auf dem Weg liegend
Photogrammetrie und 3-D-Modeling: Linus Eckel
An der Werner-Gross-Realschule wird 2018 aus gegebenem Anlass durch die Schulleitung ein fächerübergreifendes Halbjahresthema verordnet: »WIR gegen Gewalt und Terror!«. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema und dessen Insignien führt in einem Fach zu ganz außerordentlichen Ergebnissen.
Malte Wuschak, Kunsterzieher an der Werner-Gross-Realschule, versucht sich mit seiner Klasse im »DIY meets Homeskillz«-Workshop (ehemals »Werken und Hauswirtschaft«) ganz praktisch an einer popkulturellen Umdeutung und Verwandlung von Symbolen des Terrors. Brieföffner oder Kerzenhalter aus Fichtenkanthölzern zu beiteln und zu schleifen ist oldschool. Und kommt beides nicht mehr infrage, denn der Bedarf an Brieföffnern ist asymptotisch gegen Null geschrumpft und Kerzenhalter sind, wie die Kerzen selbst, längst den verschärften Feuerschutzbestimmungen zum Opfer gefallen. Also fordert Wuschak die Schüler auf, Objekte zu schaffen, die das Phänomen Gewalt qua ihres gegenständlichen Seins ad absurdum führen.
Anregung für dieses Projekt findet Wuschak u.A. in den Werken eines Claes Oldenburg. Insbesondere die überdimensionierte Darstellung einer Pistole aus buntem und angenehm weichem Material war eine Initialzündung für seine »DIY meets Homeskillz«-Aufgabe.
Nach anfänglichen Irritationen und einer aufflammenden, doch schnell abgebrochenen Diskussion machen sich vornehmlich die männlichen Geschulten begeistert an die Arbeit. Aber Wuschaks Favorit ist schon bald die Arbeit von Leonie Pawelka, die in ihm sofort einen ganz persönlichen Bezug triggert. Pawelkas Objekt verbindet in sich harmonisch die Heimeligkeit der Ikea-Hyggeness mit dem Terror der Straße. In seiner schlichten Brutalität, die durch die grün-bläuliche Tuschfärbung der Oberfläche nur vage gemindert wird, bringt dieser Holz-Schlagring von Leonie alles auf den Punkt. Wuschak ist geradezu mesmerisiert durch Anblick und Haptik des hölzernen Handschmeichlers.
Und als er die frisch geschliffenen Rundungen seiner Nase nähert, orakelt ihm der harzige Duft von einer ganz anderen Welt. Für einen Moment sogar verflüchtigt sich Wuschaks heftiger Tinnitus, und der Kunsterzieher driftet zurück in eine Zeit, als er, ganz angry young man, voller Tatendrang in den Schuldienst eintrat, um eine neue und bessere Generation von Menschen zu formen, eine, die ihm gleicht und alle Autoritäten verachtet.
Wuschak driftet weiter, er treibt unaufhaltsam zurück im Zeitenstrom, so verbissen er sich auch dagegenstemmt. Die Knöchel seiner Fäuste treten weiß hervor, so fest umfasst er die Ruder (oder ist es nur der Schlagring?). Der Strom teilt sich, teilt sich erneut, und dann schießt er den Katarakt hinab, direkt darauf zu, auf eine großformatige Fotoarbeit von Astrid Klein.
Und dann steht alles deutlich vor Wuschaks geistigem Auge: Kleins Bild hatte »einen Schalter umgelegt«, wie er seiner Therapeutin später einmal sagen wird. Und er fuhr damals doch nicht von Marseille weiter nach Aubagne, sondern ließ »Ehre und Treue« zusammen mit der schmutzigen Wäsche in seinem Backpackgestell zurück und trampte wieder nach Deutschland. Ja, so war es.
»Das hier, liebe Klasse, ist eindeutig – eine Eins plus!«. Mental wieder im Werkraum angekommen, hält Wuschak mit leicht zittrigen Fingern Leonie Pawelkas Schlagring-Artefakt wie einen Lorbeerkranz vor seinem DIY-Kurs in die Höhe. Und dann hebt er zu einer Lobrede über die Zartheit in aller Rohheit, das Weiche in aller Härte an, die gerade durch ihr überbordendes Pathos die Saat der Leidenschaft in die gedämpften Seelen der ihm Anvertrauten ausbringen soll.
Doch damit erreicht er nur das Gegenteil: Längst haben sich wieder alle ihren eigenen Werkstücken und handwerklichen Unzulänglichkeiten zugewandt, ohne Hoffnung auf eine ebensolche Hervorhebung, wie sie gerade Leonie Pawelka erfahren hat.
Niklas Mayerhöfer beispielsweise kann seine Enttäuschung kaum verbergen, alle Wut fließt in seinen rechten Daumen und statt »Teilen« fährt er wie ein Fallbeil auf »Löschen« nieder. Seine Nunchakus aus Blätterteig und Zwiebelringen werden definitiv nicht die mega Story, denn Leonie verlässt das Utility-Lab an diesem letzten Schultag vor Weihnachten als
Kursbeste.
Noch ahnt sie nicht, dass dies bereits den Höhepunkt ihrer gerade erst eingeschlagenen künstlerischen Laufbahn darstellt und sie nie wieder an einen solchen Erfolg anschließen wird. Aber als Leonie in diesem erhabenen Moment die Schule verlässt, ist ihre Freude noch ungetrübt. Allein – nur für kurze Zeit. Auf dem Nachhauseweg nimmt der zwei Jahre ältere Leonhard Pawelka, kurz Leo, seiner kleinen Schwester den »Ironie-Verstärker« (wie Wuschak ihn in seiner Dithyrambe titulierte) ab und treibt seine deutlich dickeren, pubertierenden Jungs-Finger durch die Bohrungen in dem samtweich geschliffenen Holz.
Die Löcher sind eindeutig zu klein und schon bald fangen Leos Fingerkuppen an zu pochen. Er versucht, den Schlagring abzustreifen, aber seine Finger hängen fest wie in einem Schraubstock. Leo reißt und dreht an dem Holzstück und gerät durch die ungestüme Wildheit des eigenen Zerrens auf der eisglatten Straße Im Mühlengrund ins Straucheln. Fängt sich fast wieder, rutscht aber dann mit einem Fuß nach hinten weg, sein Schwerpunkt verschiebt sich nach vorn und er fällt, fällt kopfüber, reißt zur Stabilisierung seine Arme hoch und schlägt sich im Fallen selbst einen Zahn mit seiner holzbeschlagringten Hand aus, zwei weitere dann noch bei der Landung. Und auch dem Schlagring gehen zwei der Stoßbögen verloren, so heftig ist der Aufprall in seinem jugendlichen Gesicht.
Von einem Versuch, die Schuldfrage juristisch klären zu lassen, riet der von den Pawelkas nach dem Kieferchirurgen konsultierte Anwalt dringend ab. Dies wäre zwecklos, handelt es sich hier doch ohne jeden Zweifel ganz klassisch um – höhere Gewalt...
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