Lost & Found (or maybe stolen):
BANKSY – GEBEN UND NEHMEN

Das ARCHIV REPRODUCTS sammelt Objekte, die ganz ungeahnte Geschichten in sich tragen. In dieser Kolumne schweigt die Künstlergruppe reproducts einmal im Monat – bis wir die Stimmen der Dinge hören, um festzuhalten, was sie zu sagen haben.

7. Juni 2022

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Inventarnummer D17483-200112

Beschreibung: Deckenhängelampe, Mattglas, Messing, mit Kabel und Kette, Maße 31 x 20,5 x 20,5 cm (HBT)

Fundzeitpunkt: 4. Dezember 2001, abends

Fundort: St Lawrence Lane, Norwich, Großbritannien (Google Maps: 52.630480, 1.290082)

Umstand: Sperrmüll, Gehsteig

Quelle: Google Maps

Dinge sind ungern allein – denn welch verborgener Antrieb sollte sie sonst dazu drängen, sich gegen die allgegenwärtigen Kräfte der Entropie, des Auseinanderdriftens zu stemmen und eine größtmögliche Anhäufung von Ihresgleichen anzustreben? Was zu der Frage führt, wie es ihnen gelingt, über obskurste Kommunikationskanäle und ausgeklügeltste Verführungsstrategien Kontakt zu uns aufzubauen, uns anzusprechen und sich uns anzubiedern, sodass wir nicht umhinkönnen, ein Ding zu wollen. Es zu berühren, zu nehmen, zu haben, zu sammeln, zu kaufen, zu stehlen, zu rauben. Zu besitzen. Warum?

Wir haben keine Antwort auf diese Frage. Aber wie sich zeigt, finden Menschen manchmal eine Lösung, sich aus dem Sog der Dinge zu befreien.

Nehmen wir zum Beispiel dieses Ding – eine Lampe: tetraedrische Form, Messing, Mattglas, ein textilumwickeltes Kabel, leicht angestaubt. Vielleicht schon viele Jahre nicht mehr im Einsatz. Wir jedenfalls können diesem Dingesdrang nicht widerstehen, sich uns zu zeigen und uns zu berichten, welch unwahrscheinliche Begebenheiten sie im Laufe ihrer Lampenexistenz in ihr schummriges Licht gehüllt hat.

Foto einer Banksy-Arbeit in London, 2004

Die Geschichte der Lampe handelt von niemand anderem als »Banksy«. Mit bürgerlichem Namen übrigens Malcolm Cedric Cole, geboren in Leicester. Und nicht Robin Gunnigham aus Yate bei Bristol, wie das offizielle Narrativ lautet. Aber wen wundert es, dass Banksy diese Legende so fest etablieren konnte, wenn es ihm sogar gelungen ist, einen so offensichtlichen Fake zu inszenieren, wie sein »völlig unerwartet« geschreddertes Bild bei der Auktion von Girl with Balloon bei Sotheby’s? (Das 2018 dennoch ganz reale 1,2 Millionen Euro einbrachte und 2021 für 18,9 Millionen Euro erneut versteigert wurde.)

Einblick in die Angebotspalette von »Ron’s Fish and Chips«

Noch weit entfernt von diesen Sphären des Kunstmarktes feierte Cole in den späten Neunzigern gerade sein mit Erfolg absolviertes vierzehntes Semester an der Norwich University of the Arts, als ihm plötzlich der Ernst des Lebens in Gestalt einer dem dickens’schen »Bleak House«-Kosmos entstiegen zu sein scheinende Karikatur eines Anwalts gegenüberstand. Dieser versicherte sich ohne Umschweife der Identität Malcolm Cedric Coles, stellte ihm offiziell einen versiegelten Umschlag zu und löste sich anschließend in Luft, oder zumindest in Fettnebel und Alkoholdunst der rauschenden Party in Ron’s Fish and Chips auf.

Egbert »Ebby« Sousé musste lange in seiner Wohnung gelegen haben...

Ein paar Tage später stellte sich Mr. M. C. Cole dann an dem im Schreiben genannten Ort ein, um sich des Nachlasses seines jüngst verstorbenen Großcousins Egbert »Ebby« Sousé anzunehmen, dessen Alleinerbe der Kunststudent nun war. Wie sich herausstellte, hatte Sousé 43 Jahre in dieser bescheidenen Wohnstatt verbracht, bis er freiwillig aus dem Leben schied. Die bereits wärmende Aprilsonne drang durch die staubblinden Fenster und hüllte die süßlich-muffigen Räume in ein entkräftet-weiches Licht. Coles Blick schweifte umher. Die Wohnung war spärlich, aber stilvoll möbliert. Die wenigen Utensilien und Kleidungsstücke wirkten wertig gearbeitet, offensichtlich keine Massenware. Die Wände ohne Tapeten, doch sorgfältig verputzt. Stattdessen drapiert auf den Tischchen, Kommoden und Sitzgelegenheiten auffallend viele textile Kreuzstich-Arbeiten: Bilder, Kissen, Decken, Untersetzer, Hauben, Fußbänkchenüberwürfe, Armlehnenschoner und Teppiche unterschiedlicher Größe, teils sogar mehrere übereinander. Und alle gleich gestaltet: eine Umrahmung und darin Worte, Sinnsprüche oder vielleicht Zitate, in den verschiedensten Sprachen verfasst, auch in Deutsch. Die Lesbarkeit allerdings stark beeinträchtigt, da die Arbeiten nicht mit der nötigen handwerklichen Präzision ausgeführt worden waren, die Worte auch jeweils dort getrennt, wo sie an den Rahmen stießen. Hinzu kam noch das schummrige Licht. Um die Objekte näher zu inspizieren, drehte Cole den Bakelitlichtschalter neben der Eingangstür.

Reflexhaft – doch zu spät – riss er die Hände vor die Augen, denn alles war auf einen Schlag unerträglich hell erleuchtet. An den für die kleine Wohnung viel zu hohen Zimmerdecken prangten aberhunderte von Lampen unterschiedlichster Bauweise und Provenienz, und jede einzelne trug frisch elektrifiziert dazu bei, in einem gewaltigen synästhetischen Zusammenklang Coles Augen und Nervensystem an den Rand des verarbeitbaren Spektrums zu katapultieren, und sogar noch einen entscheidenden Schritt darüber hinaus, denn Mr. Cole fand sich nunmehr wieder in freiem Fall ins Bodenlose. Denn inmitten all der unentwirrbaren Kabelknäuel und lichtaussendenden Körper, genau im Zentrum dieses grellen Akkords nämlich meinte er, nein, war er sich sicher, absolut sicher, die Eine wiedererkannt zu haben, jene Lampe, welche bereits, weit zurück in der Vergangenheit, über ihm geschwebt und für immer ihr Schattenlicht in seine dunkelsten Hirnwindungen eingebrannt hatte.

Die Nähe zu Coventry macht Rushton zu einem beliebten Ausflugsziel für viele Besucher vom Festland

Der augenblicklich auf die Größe eines Kindes geschrumpfte Malcolm findet sich auf einer Landpartie wieder, die er mit seinen Eltern Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts unternommen hatte. Unterwegs auf der A6003 durch Northamptonshire, biegen sie mit ihrem Kleinwagen nördlich von Kettering ab in Richtung des Dorfes Rushton und erreichen schließlich ihr vorläufiges Ziel, die Rushton Triangular Lodge. Hier haben sie sich telefonisch für eine Führung durch das 1593 von Sir Thomas Tresham erbaute seltsame Haus angemeldet.

Eindrucksvoll wie schon vor 500 Jahren: Rushton Triangular Lodge

An und in diesem Gemäuer (jeder halbwegs in der Kunst des Feng Shui Bewanderte stöhnt nun auf) ist nämlich fast alles dreieckig. Und das deshalb, weil »…there are three that bear record in heaven, the Father, the Word and the Holy Ghost: and these three are one«, wie die Führerin, dem Namen nach sogar blaublütig, eine gewisse Dame O’Kles, der kleinen Gruppe von interessierten Besuchern erläutert: Thomas Tresham war besessen von der Dreifaltigkeit.

Eine der drei aus je 33 Buchstaben bestehenden Fassaden-Inschriften lautet: »Consideravi opera tua, Domine, et expavi / Ich habe dein Werk betrachtet, o Herr, und hatte Angst.«

Und während sie fortfährt, über die komplexen Symbolismen dieses Hauses zu referieren, bemerkt der umherschweifende Blick des kleinen Malcolm...

…dass er direkt unter einer sehr spitzen, sehr dreieckigen Lampe steht, die mit der spitzesten ihrer Spitzen direkt über seiner Schädelkalotte schwebt, noch schwebt, denn jeden Moment wird diese Lampe von der Decke fallen, denn die Kette, an der die Lampe hängt, hängt dort ja schon 400 Jahre, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht jetzt, in diesem Augenblick, reißen sollte und die Lampe direkt auf seinen Kopf zustürzen und sich ihre Spitze zielgenau ihren Weg durch Haar und Schädelknochen in sein Gehirn bahnen sollte, und dann…

Mentales Photogramm / West Edge Farm Park

…dann müssten seine Eltern ohne ihn weiter in den West Edge Farm Park fahren und dort auf den Ponys reiten und die Tiere füttern und überhaupt alles andere für immer auch ohne ihn tun.

Und während der kleine Malcolm – unfähig, nur einen Schritt zur Seite zu machen – unter der Damokles-Lampe steht, und die Gruppe sich bereits in den nächsten Raum bewegt hat, beginnt er in Lichtgeschwindigkeit größer und größer zu werden, so groß wie ein Erwachsener.

Und da steht der Student immer noch unter derselben Lampe, ja, ohne Zweifel, es handelt sich um dieselbe Lampe, nur dass sie nun an einem anderen Ort, in der Wohnung seines verstorbenen Großcousins nämlich, hängt. Und ihm wird klar: Diese Lampe hat sich nicht von selbst hier materialisiert. Ebby, sein Großcousin, hat sie schlicht und ergreifend mitgenommen, geklaut bei einem Besuch der Triangular Lodge. Und nicht nur diese spezielle, sondern vermutlich auch die meisten der Hunderte von anderen umfassenden Sammlung von Badezimmerlampen, Gartenstrahlern, Sitzbeleuchtungen aus Zugabteilen oder Straßenlaternen. Abmontiert an all den Orten, die seinen Lebensweg säumten, um sie zusammenzufügen zu einer einzigen großen Sammlung, einer Lichtinstallation, einem maximal verdichteten Lichtfanal. Ganz für sich, für Ebby ganz allein, damit er für sich sichtbar bleibt.

Malcolm jedoch, noch ganz im Stile der ausgesprochen diskursiven, antithetischen Denkweise aus dem letzten Seminar über Konzeptkunst an der Norwich University, wo ihn besonders ein Gastvortrag von Yoko Ono beeindruckt hatte, die der Studentenschar 90 Minuten schweigend gegenübersaß und dann den Raum verließ – woraufhin sie später von Marina Abramović verklagt wurde, was sich aber ohne großes Medienaufhebens durch einen vergoldeten Vergleich regeln ließ – Malcolm bewegte spontan nur eine Frage: Ob Ebby all diesen Orten, denen er das Licht raubte, damit gleichzeitig Dunkelheit vermachte? Welche Hybris, alle Hellsicht an sich zu raffen und die anderen damit in die Fährnisse der Unsicht zu stoßen!

Die 1980er: Keine Zeit für Zwischentöne

Malcolm ist zutiefst entsetzt und angewidert von dem guten alten Ebby, den er nun aus tiefstem Herzen dorthin wünscht »where the sun don’t shine«. Malcolm, dessen Vater bei den großen Unruhen unter Thatcher von den Gummiknüppeln dreier Bobbys blind geprügelt worden war, weil er um seinen Arbeitsplatz kämpfte, kann solche Ungerechtigkeit nicht ertragen. Wie viele Leute mögen wohl durch Ebby dunkle Treppen hinabgestürzt sein oder haben Fahrpläne nicht lesen können, was sie dann irrtümlicherweise in genau jenen Zug steigen ließ, mit dem sie tödlich verunglückten?

Sperrmüll: Symbolischer Tausch oder bourgeoises Beschwichtigungsritual?

Malcolm weiß nun genau, dass er dieses Erbe annehmen muss – aber nicht im üblichen Sinne. Die Dinge interessieren ihn nicht, sie werden alle auf dem Sperrmüll vorn an der Straße landen, aber er muss sich seiner Verantwortung als Erbe stellen! Er muss dafür sorgen, dass dieser Flickenteppich aus Finsternissen, der sich über das Land zieht, endlich wieder aufgehellt wird! Er muss den Ausgleich schaffen zwischen Präsenz und Abwesenheit, Konzentration und Vakuum! Mit anderen Worten: Malcolm muss die Welt wieder ins Gleichgewicht bringen! Aber wie?

Ganz einfach, denkt sich der Kunstschüler Malcolm Cedric Cole: Wie wäre es denn, wenn ich, ganz hypothetisch gesprochen, meine eigenen Kunstwerke da einschmuggle, wo eigentlich gar nichts fehlt? Ich also außerhalb des uralten Denksystems der Balance, der Einheit von Geben und Nehmen, agiere? Indem ich einfach nur gebe? Mal sehen, was passiert!

Tja, und das war der magische Moment, in dem sich Malcolm Cedric Cole verwandelte und jener gefeierte Streetartkünstler Banksy das Licht der Welt erblickte, wie wir alle ihn heute kennen und lieben.

Die Initialen WL konnten bisher nicht zugeordnet werden

Epilog: Das ist übrigens die einzige Stickarbeit, mit den seltsamen Umbrüchen jeweils am rechten Rand des Rahmens, die Malcolm als Erinnerung an Großcousin Ebby aufgehoben hat. Die Arbeit, die ihn auf die Idee zu seinem Pseudonym brachte, ließ Banksy natürlich verschwinden. Es war eine Stickarbeit zu einem unveröffentlichten Stück von Joy Division (Ebby war eng befreundet gewesen mit Ian Curtis, der sich bereits 1980 das Leben genommen hatte), die Malcolm auf die Idee brachte. Die Textzeile lautete: »… sold all my love to the bank, syringes in my eyes they put in there as interest«.

Auch den Hauseingang von Margaret Thatcher in no. 73 Chester Square ziert eine – allerdings gekappte – Tetraeder-Lampe.
Bildquelle: Google Street View

Post-Epilog: Ebbys Urne übrigens hat Malcolm später an Margaret Thatchers Privatadresse am Chester Square in London geschickt, auf dass sie der größten aller britischen Lichträuberinnen etwas Dunkelheit ins Haus bringe – ohne Absender, aber mit einer kleinen Notiz: »To the Queen of Hearts of Darkness«.


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reproducts: Auf externe Anforderung oder als interne Investition forscht und produziert die Gruppe seit dem vorigen Jahrtausend.
Herzkammer aller Unternehmungen ist das ARCHIV REPRODUCTS – ein Generator für Momentaufnahmen im Spiegeltunnel der Wechselwirkung von Bild und Abbild,
von Medium und Welt im Auge des Betrachters.


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