Lost & Found (or maybe stolen):
WINNETOU IN ZETTELS RAUM
7. Juni 2022
7. Juni 2022
Inventarnummer BRA05413-001-19780319
Beschreibung: ein Konvolut Filmbildbücher zu »Winnetou«-Spielfilmen der 60er Jahre mit jeweils fast 200 Stills aus dem Film, davon 30 Abbildungen in Farbe, viele Bilder teils stark übermalt, mit Lösungsmitteln behandelt, verbrannt, geätzt, mit Kuli oder Filzstift kommentiert
Fundzeitpunkt: 19. März 1978, um 14:13 Uhr
Fundort: Bücherflohmarkt des Goethe-Instituts São Paulo, Rue Lisboa, 974 - Pinheiros, 05413-001, Brasilien (Google Maps: -23.556154639163374, -46.68192724621472)
Umstand: auf dem extra Tisch mit Büchern »zum Mitnehmen«
Photogrammetrie und 3-D-Modeling: Linus Eckel
Dieses besonders frühe Fundstück (aus dem letzten Jahrtausend – genauer gesagt von 1978 !) hätte wahrscheinlich noch Ewigkeiten in den endlosen Gängen unserer neuen Archiv-Räume auf seine Inventarisierung gewartet, wäre es nicht im März dieses Jahres zufällig in genau jenem Moment zu einem der Umzugs-LKW getragen worden, als ausgerechnet Hanussen IV in der reproducts-Kantine zugegen war. Der geschätzte Freund des Hauses schaute just mal wieder rein, um uns von seinen Erlebnissen auf der letzten Biennial Spirit-Journey-Fair 2022 in Missoula, Montana, zu berichten.
Eine heitere Stimmung herrscht unter den Mitarbeitern an diesem unfassbar heißen, schwülen Vorfrühlingsabend (der den Blutdruckschwachen ohnehin schon Visionen in die Augen treibt), die sich aber absolut unvermittelt in eine opake Wolke von tödlicher Ernsthaftigkeit verwandelt. Denn urplötzlich springt die typisch Mentalisten-hagere Erscheinung Hanussens in seinem hochgeschnittenen schwarzen Anzug auf, spuckt den ungesüßten Eistee in hohem Bogen aus und brüllt mit krächzender Stimme ein ultimatives »¡¡¡ALTO!!!«.
Natürlich kennen ihn hier alle und wissen, was zu tun ist: sofort Halt machen. Die Kartons werden sorgsam abgestellt und gebeugt entfernt man sich mit kleinen Schritten rückwärts aus dem Geschehen. Hanussen IV geht aufrecht wie ein Matador zwischen den Kisten umher, die Hände beschwörend den für uns unsichtbaren Aura-Schein der kubischen Objekte abtastend. Bei der dritten, auffällig kleinen Pappschachtel wird er fündig: »¡Aquí, ábrelo, rápido!« (»Hier! Aufmachen! Schnell!«).
Und Hanussen IV fährt fort: »Ich habe extrem heftige, ambivalente und stark sexualisierte Schwingungen empfangen! Dieses Objekt muss gesondert gelagert werden, seine ektoplasmische Immanentisierungsenergie ist zu unkontrollierbar für eine normale Inventarisierung! ¡Tenga cuidado! ¡Este libro es peligroso! (Seien Sie vorsichtig! Dieses Buch ist gefährlich!)«
Nun, es scheint sich zunächst nur um ein altes – ziemlich ramponiertes – Buch zu einem noch älteren Spielfilm zu handeln. Ein Buch, das die Bibliothek des Goethe-Instituts in São Paulo außerdem nicht mehr im Regal sehen wollte …
»Ausgesondert«, die letzte Entleihung mysteriöserweise am 7. Dezember 1977 – und am selben Tag auch zurückgegeben.
Was mochte den letzten Entleiher mit Namen Stammer bewegt haben, das Buch nur einen Tag zu behalten? Ein Blick ins Buchinnere bietet schnell ein mögliches Motiv an: Wie in einem Rausch hat jemand die Bilder verändert. Übermalt, ausgekratzt, verätzt oder mit Nagellackentferner behandelt. Dazu jede Menge derber sexueller, vor allem sadomasochistischer Assoziationen und Kommentare.
Hier hat jemand, ganz offensichtlich in einem Schub, seine dunkelsten Phantasien frei entäußert. Und psychopathologisch folgerichtig muss nach einer solchen eruptiven Entladung verdrängter Sehnsüchte und Gelüste der »Schuldige«, der Auslöser der Orgie also, schnellstmöglich aus dem Blickfeld verbannt werden. Ergo: zurück damit in die Bibliothek des Goethe-Instituts. Wohl wissend im unausgesprochenen Subtext, dass die grundsätzlich katholische Prägung dieser Welt solche Botschaften von ganz unten weder thematisieren (in Form einer Schadensersatzforderung für ein beschmiertes Buch) noch überhaupt wirklich offiziell registrieren wird, sondern ihnen beiläufig, ja eher wie zufällig, den Weg auf den Mitnahme-Tisch beim nächsten Bücherflohmarkt im März weist.
Und ausgerechnet an diesem 19. März 1978 werden die Schritte eines reproducts-Gründungsmitglieds in spe bei einem Besuch der pulsierenden brasilianischen Metropole São Paulo ganz zufällig zu jenem Bücherflohmarkt gelenkt (wer jetzt noch an das Konzept »Zufall« glaubt, sollte sein Framing fundamental überdenken), das Buch inmitten tausender von Titeln ausgewählt, sofort als ausgesprochen relevantes Werk eingestuft und einer bereits im Aufbau befindlichen prä-reproductionalen Bibliothek hinzugefügt.
Aber zurück, bzw. einige Jahrzehnte vorausgespult, nämlich zu Hanussen IV und der Aufregung in der reproducts-Kantine im Hier und Jetzt. Diese Aufregung kam nämlich wahrlich nicht von ungefähr: Das hypersensible dritte Ohr Hanussens hatte die flehende Stimme Arno Schmidts aus einem der vorbeigetragenen Kartons rufen hören.
Denn Schmidt sitzt heute noch in Zettels Raum, das ist, so muss man sich vorstellen, eine Art von Einliegerwohnung im Swedenborg-Raum, die nur den verwirrtesten der verwirrten Seelen vorbehalten ist (benannt nach einer Person namens Asin Zettel, auf die auch das Sprachbild »sich verzetteln« zurückgeht; Arno Schmidt hatte Zettels Raum während einer Nahtod-Erfahrung beim Schreiben von »Schwarze Spiegel« bereits einmal betreten, nämlich als er sich mit seiner Frau durch übermäßige Mutterkorn-Einnahme mittels ihres selbst gebackenen »Lüneburger Krüstchens«, das die Schmidts gern Freunden beim Abendbrot reichten, zugezogen hatte – eine Erfahrung, die Schmidts Leben und weiteres Schaffen fürderhin geprägt hat).
Schmidt konnte es seinen Lebtag – und offenbar auch die endlosen Nächte seines Totseins – nicht verwinden, dass sein Buch von 1963 Sitara und der Weg dorthin über das Werk Karl Mays nur als skurrile literarische Posse, als manisch übersteigerte Interpretationssucht oder gar als »kritisch-hermeneutisch« getarnter Verdrängungsakt eigener sexueller Devianzen aufgenommen wurde. Die Hexer/njäger*innen der Gedankenpolizei kennen dieses Problem nur allzu gut: Man entdeckt immer nur das, was man selbst immer schon dachte. So ist die Fackel der brennenden Leiber ein Widerschein der eigenen – verbotenen – inneren Sehnsüchte.
Die Kritik an der Kritik an der Kritik – ein Spiegel-Irrgarten, der Schmidt zurecht in Zettels Raum direkt in jene Zelle führte, deren Nachbarzelle bereits damals für Derrida reserviert war.
In dem durch Hanussen wieder aufgefundenen Buch belegt nun aber an Schmidts Stelle ein gänzlich unbeleckter junger Mensch* namens Stammer all das, was Schmidt bereits vor Jahrzehnten analysiert hatte. Und mit der ganzen pubertären Gewalt malt Stammer seine – wie die Karl Mays – unterdrückte Triebenergie aus der Welt der monogamen Blutsbrüder explizit hinein in die Filmbilder. Endlich ein Beweis. Ja, er, Arno Schmidt, hatte Recht! Immer schon! Und wie ein Ertrinkender klammert er sich an dieses brüchige Schilfrohr der fremden Evidenz, in der Hoffnung endlich das Kondensat des Chaos verlassen zu dürfen. Wie schön war es doch zu Lebzeiten in der Lüneburger Heide. Auch und gerade ohne Mutterkorn.
Arno Schmidt möchte endlich heraus aus Zettels Raum, um wenigstens die Gesellschaft der nicht ganz so durchgeraschelten Entitäten des Swedenborg-Raums genießen zu dürfen – aber darüber entscheidet allein der, den dort alle nur »Das Große Eilen« nennen (ihm nachempfunden ist übrigens die Figur des Beaker aus der Sesame Street, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass an diesem Projekt niemand anderes mitgewirkt hat als ein gewisser Frank OZ).
»Das Große Eilen« ist da jedoch, was den Übertritt von Zettels Raum zu einem etwas milderen Purgatorium betrifft, ganz paritätisch. Und er wird Schmidt erst entlassen, wenn sich die Waagschale der Flüchtigkeit durch die Zahl der Wissenden zu seinen Gunsten neigt. Eine bessere Follower-Bilanz muss also her! Soll denn einer der ganz großen unter den deutschsprachig Schreibenden immer noch weiter leiden?!? Aber dazu müssen leider noch viel mehr Leute sehen und verstehen, was Karl May uns da wirklich beschert hat – nämlich das hier:
* Dass der Entleiher »Stammer« ein junger Mensch war und mit Vornamen Max hieß und einen Zwillingsbruder namens Moritz hatte, die bei ihren Eltern in Caieiras wohnten und oft Besuch von einem gewissen Wolfgang Gerhardt bekamen, den sie immer »Onkel Wolf« nennen mussten, vor dem sie aber niemals zusammen erscheinen durften, um auf keinen Fall als Zwillinge entdeckt zu werden, um für »Onkel Wolf« also scheinbar nur eine einzige Person zu sein – der kleine Muck eben, wie diese halbe Wahrheit benannt wurde –, konnte uns übrigens Hanussen IV auch aus einem eingehenden Gespräch mit Arno Schmidt über den mesmerischen Äther verraten. Aber welche Düsternis sich dahinter verbirgt, das ist eine andere Geschichte...
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reproducts: Auf externe Anforderung oder als interne Investition forscht und produziert die Gruppe seit dem vorigen Jahrtausend.
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