Lost & Found (or maybe stolen):
Gerhard Richter – teurer denn je!

Das ARCHIV REPRODUCTS sammelt Objekte, die ganz ungeahnte Geschichten in sich tragen. In dieser Kolumne schweigt die Künstlergruppe reproducts einmal im Monat – bis wir die Stimmen der Dinge hören, um festzuhalten, was sie zu sagen haben.

8. Dezember 2021

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Inventarnummer D38448-200209

Beschreibung:
Faller-Modell eines Atelier-Hauses mit Glasdach aus verschieden farbigen Plastikteilen, Maße 8 x 12 x 9 cm (HBT)

Fundzeitpunkt:
9. Februar 2020 gegen 14 Uhr

Fundort:
auf dem »Flohmarkt am Allerpark« in Wolfsburg, (Google Maps: 52.43925684779863, 10.810813103508085)

Umstand:
an einem der Flohmarktstände erworben

3-D-Modeling:
Linus Eckel

QUELLE: GOOGLE MAPS

Was zunächst nur wie ein glücklicher Zufallsfund zur Vervollständigung des privaten Modellbahn-Bausatz-Archivs eines der reproducts-Mitarbeitenden schien, entpuppte sich schnell durch die Aufmerksamkeit eines kunstgeschichtlich versierten anderen Mitarbeitenden als der Topf voller Gold am Ende des Regenbogens für das ganze Unternehmen!

Die zwischen Figur und Abstraktion oszillierenden Darstellungen von weiblichen Akten auf den Bildern der im Hause eingeschlossenen Künstler – erinnern sie nicht eindeutig an den Duktus eines der ganz Großen des Informel?! Ja! Und dennoch nein! Denn unzweifelhaft ist das doch ein ganz eigener, neuer Pinselstrich. Und das ist wahrhaftig keine Täuschung, denn was sich hier findet, sind zwei der frühesten – und kleinsten! und erhaltenen!! – Arbeiten des großen Gerhard Richter aus seiner Schaffenszeit in Westdeutschland, ein Jahr nach seiner Übersiedlung aus der DDR.

1962 war ein schwieriges Jahr für Richter. Gerade eben noch vor dem Mauerbau am 30. März über Westberlin aus der DDR entkommen, hatte er zwar leidlich Fuß gefasst in der BRD und studierte bald dank eines kleinen Stipendiums an der Kunstakademie in Düsseldorf, aber von seinem Ruhm und der ökonomischen Sicherheit als »teuerster lebender Künstler der Welt« war Richter noch Lichtjahre entfernt. Als Kunsterzieher wie 1969, nach seinem Studium, konnte er ohne Abschluss noch nicht arbeiten. Und in den Rollenvorstellungen der damaligen Zeit verhaftet, hatte der allzu brotlose Maler seiner Frau »nichts zu bieten».

In seiner Not nahm Richter einen Honorar-Job als Zusammenbauer von Eisenbahnanlagen-Modellen an, was ihm pro fertigem Modell je nach Größe zwischen 6 und 25 Mark einbrachte. Ein reicher Modelleisenbahn-Freund, dem das Kleben und Basteln an Häuschen und Stellwerksanlagen zu mühselig war, ließ sich die Objekte von »Leuten mit mehr Zeit« fertigen.

Schnittstelle dabei war die Postille Der Modellbahner, die von 1949 bis 1972 in Westdeutschland erschienen ist. Ironischerweise war es Richters Ehefrau Marianne (Ema) Eufinger, die das Blatt gedankenverloren im Wartezimmer ihres Gynäkologen aufgeschlagen hatte (ja, es war eine Zeit, in der noch der Geschmack des Arztes bei der Zeitschriftenauswahl zählte, nicht die der Kundschaft).

Und als Ema Richters Blick zufällig auf ebendiese Anzeige fiel, dachte sie sofort an den verspielten Blinky Palermo, der ja auch immer nur zum Weinschnorren auf den Vernissagen erschien. Palermo jedoch lehnte diesen Vorschlag hohnlachend ab. Um ihn stockbesoffen und dicht wie später die Graubner-Kissen an seinen Kumpel Gerhard Richter weiterzugeben, der gerade mal wieder seinen »Moralischen« hatte.

Aber Kindern wie Besoffenen zeigt das Schicksal den Weg und wie sich zeigte, war das genau der richtige Nebenverdienst für Emas ewig klammen Künstler-Ehemann mit der ruhigen Hand. Und fürderhin baute Richter für einen namentlich nicht bekannten Schlotbaron-Erben aus dem Ruhrpott fleißig ein Modellbahn-Häuschen nach dem anderen im Maßstab H0 zusammen.


Aber es ist der wahren Künstlerpersönlichkeit eigen, dass sich ihr »Schaffenwollen, ganz im schopenhauerschen Sinne, immer und überall Bahn bricht. Richter konnte nicht anders, als den klischierten Staffelei-Bepinselungen der »Kunstmaler« in dem Atelierhaus seinen Stempel, seinen Namen aufzudrücken (wenngleich in verballhornter, amerikanisierter Weise). Fachleute sehen auf den ersten Blick, dass hier der Einfluss von Karl Otto Götz zu erkennen ist. Eben jenem hoch geschätzten Lehrer, bei dem Richter seine entscheidenden Studienjahre in dessen Klasse in Düsseldorf verbrachte.

Dennoch, und das macht diese beiden Miniaturen so einzigartig, deutet sich hier schon der strenge, ungegenständlich-räumliche Strich eines Richter von Birkenau und anderen Inkunabeln der Moderne an.

Dass dies in der spannenden Ambivalenz zur angedeutet figurativen Darstellung des nackten weiblichen Körpers tritt, deuten Ikonographen als Niederschlag der Sehnsucht und des Beweisdrucks des bis dato gesellschaftlich impotent erscheinenden Künstlers gegenüber seiner Frau. Das Modellbahn-Intermezzo fand jedoch ein jähes Ende, als Ema mitbekam, dass Gerhard immer öfter die Nase tief in die Klebertube versenkte und endgültig »zu nichts mehr zu gebrauchen« war.

Nun ist das alles lange Vergangenheit und Richter selbst verweigert dazu bis heute jede Stellungnahme. Darauf angesprochen deutet sein Blick jedoch (aber das ist natürlich reine Interpretation), ein stilles Bedauern aus, diese künstlerischen Wechselbälger aus Schaffenwollen und Notdurft nicht – wie seine frühen Arbeiten in Dresden –, verbrannt zu haben.

Derzeit befindet sich das Modell mit diesen kleinsten aller Richter-Gemälde in New York im Auktionshaus Sotheby’s zur Schätzung, wo es in nächster Zukunft zur Versteigerung angeboten werden wird. Der Startpreis wird höchstwahrscheinlich auf 8 Millionen Dollar festgelegt werden. Und damit werden diese Werke flächenmäßig gesehen wertvoller sein als die Blaue Mauritius. Nicht auszumalen, was das auf den Quadratmeter Richter bedeuten würde …

Ein Termin zur Betrachtung und Berührung im Archiv reproducts ist zurzeit nicht möglich.

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reproducts: Auf externe Anforderung oder als interne Investition forscht und produziert die Gruppe seit dem vorigen Jahrtausend.
Herzkammer aller Unternehmungen ist das ARCHIV REPRODUCTS – ein Generator für Momentaufnahmen im Spiegeltunnel der Wechselwirkung von Bild und Abbild,
von Medium und Welt im Auge des Betrachters.


Lösung des Preisausschreibens in der Kolumne vom Dezember 2021

Die nicht ausgemalten bzw. roten Viertelkreise auf den Postkarten-Rückseiten bedeuten, dass ein Viertel des Tages die Sonne schien. Die gesamte Anzahl der leeren bzw. roten Viertel ergibt eine Zahl, die durch die Anzahl der Urlaubstage zu teilen ist – das Ergebnis daraus ist der Punktwert, der dem Urlaub zugeordnet wird (wobei der maximale Punktwert 4.0 betragen würde, der aber in keinem Urlaub erreicht wurde).

Beispielrechnung für 1983, Bad Kissingen: 56 Sonnen-Viertel geteilt durch 28 Tage ergibt 2.0 – q.e.d.! (Die blauen Viertelkreise bedeuten übrigens »schlechtes Wetter« bzw. zumindest »keine Sonne« und werden nicht in die Rechnung einbezogen.)

1. Preis, eine original Kyberkur-CD-ROM in ungeöffneter Packung: D. Gerbode in 10115 Berlin
2. Preis, ein original Kyberkur-Teebecher: K. Purkart in 82110 Germering
3. Preis, ein Satz original Kyberkur-Postkarten: G. Steinmeyer in 51688 Wipperfürth


Wir danken allen Teilnehmenden für die Vielzahl der wirklich faszinierenden Lösungen.


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