Lost & Found (or maybe stolen):
Dance me through the dark

Das ARCHIV REPRODUCTS sammelt Objekte, die ganz ungeahnte Geschichten in sich tragen. In dieser Kolumne schweigt die Künstlergruppe reproducts einmal im Monat – bis wir die Stimmen der Dinge hören, um festzuhalten, was sie zu sagen haben.

5. April 2022

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Inventarnummer D56468-201711

Beschreibung: Drahtgittermodell eines stilisierten Teddybären, verzinkter Draht gefüllt mit Kokosfasern, Maße 18 x 12 x 10 cm (HBT)

Fundzeitpunkt:
11. November 2017, 19.30 Uhr (EST)

Fundort: Cabaret »Valeska’s«, Provincetown, Massachusetts, USA (Google Maps: 42.046200, -70.193408)

Umstand:
gekauft, an der Abendkasse

Photogrammetrie und 3-D-Modelling:
Linus Eckel

Quelle: Google Maps

Wenn nicht als freche Fördermittelerschleichung, dann aber als ein echter Affront muss die Abgabe dieses Gegenstands bei der durch die Kulturförderung des Bundes reichlich bedachten Tanzperformancereihe rAUm & iCH im Rahmen der Ruhrtriennale betrachtet werden. Dabei hatte das sechs Monate zuvor vom Auswahlgremium des Festivals einstimmig angenommene Konzept der bislang noch nie öffentlich in Erscheinung getretenen Tanzformation »W.A.S.?« die Erwartungen hoch gesteckt:

Dreimal der Gasometer Oberhausen nach dem Brand, wie ihn Bernd und Hilla Becher nicht fotografiert hätten.

Als achtstündige Aufführung ohne Pause, von neunzehn Tanzenden in aufwändigen Kostümen unter dem Titel My Body Is a Cage im Oberhausener Gasometer geplant, mündet die dann schließlich gerade eben noch termingerecht abgegebene Arbeit in eine herbe Enttäuschung bei den Veranstaltenden des Festivals. Die Monate des Wartens auf die im Konzept versprochene »völlig neue Dimension des ,E-Motional Theatre‘« materialisieren sich in einem alten Schuhkarton.

Dem Original nachempfundener Schuhkarton

Darin nichts weiter als ein mit Kokosfasern gefüllter stilisierter Teddybär aus verzinktem Draht und eine auf einem kleinen, unsauberen Zettel handschriftlich vermerkte Regieanweisung:

23 Minuten Schwarz.
Bühnenbeleuchtung Aufblende über 58 Minuten.
Auftritt zwei Haustechniker in entsprechender Kluft. Sie platzieren das BÄR in einem markierten Bereich im linken vorderen Bühnenquadranten.
Abgang Haustechniker.
Das BÄR verbleibt regungslos bis Vorhang.
Nach 94 Minuten Bühnenbeleuchtung blendet ab über 110 Minuten.
195 Minuten Schwarz.
Vorhang.

Da in der kurzen verbleibenden Zeit bis zum Aufführungsabend kein Ersatz mehr für die »W.A.S.?«-Aufführung gefunden werden konnte und die rührigen Social-Media-Aktivitäten das Ereignis schon vollmundig angekündigt hatten, mussten die Festivalmachenden zähneknirschend das Stück wie abgegeben auf die Tanzbühne bringen. Das Publikum reagierte unterschiedlich, aber besonnen. Nur etwa ein Drittel der Besucher hatte keine Geduld und verließ recht bald den Saal, die Übrigen harrten bis zum Schluss aus, in nicht versiegender Hoffnung auf ein wenig Bewegung, ein wenig Aktion, ein wenig Tanz.

Aufführung von My Body Is a Cage auf dem Los Danzantes Festival, Oaxaca, Mexiko.

Stumm, benommen, teils beklommen, verließ man schließlich nach den acht Stunden den Gasometer und nahm, so die Vermutung der Festivalleitung, direkten Kurs auf die nächstbeste Absinthkneipe, um rasches und nachhaltiges Vergessen zu suchen. Oder zumindest etwas anderes als eine »Tanzperformance der Superlative«, wie My Body Is a Cage im Programmheft in gutem Glauben angekündigt worden war.

Die ersten Online-Reaktionen auf das Stück ließen nicht lang auf sich warten, fielen aber anders aus, als vermutet, hielten sich doch positive und negative Artikel und Posts die Waage.

Hier ausgewählte Stimmen von Besuchern und Kritikern:

»Der sich verweigernde Tanzbär – herrlich anarchisch!«

»
Mein Körper ist ein Gefängnis – ganz offensichtlich gefüllt mit Stroh! Der Gipfel der Einfallslosigkeit!!!«

»Das Materielle des Immateriellen des Materiellen – Ein nacktes 3D-Drahtgittermodell und seine alles überziehenden Non-Sense-Texturen.«

»Wir schweben nur befangen im Zwischenreich. Zu Beginn ist der Bär nicht. Dann ist er. Und dann ist er nicht mehr. Und alles andere mit ihm.«

»Man nehme ein paar alte Zahnspangen, etwas Lötblei und Tatarataaa: fertig ist das Tanzereignis. Da lob ich mir doch Pia Basch oder den Ball Paradox im Café Keese.«

»Mir fiel während der Aufführung ganz nebenbei auf, dass die Musikstücke meines Lebens, also die wirklich wichtigen, eigentlich alle nicht im herkömmlichen Sinne tanzbar sind.«

»Wir gingen wieder zu einer weiteren Kulturveranstaltung und wir nahmen unsere Plätze ein und erwarteten nichts mehr und dann eröffnete sich ganz allmählich und unerwartet ein neuer Denkraum. Und wir erhoben uns und betraten ihn voll Ehrfurcht und Schauder.«

»Adorno meinte ja, dass Kunst aus Leiden entsteht, aber muss Kunst einen deswegen zwangsläufig so leiden lassen?«

»Es stellte sich mir im Verlauf der Aufführung immer dringender, ja drängender, die Frage danach, was denn überhaupt relevante Information ist und ob wir sie wirklich benötigen. Und ich wage hier zu behaupten: nicht unbedingt!«

»Dass dieses sogenannte Stück einen Anfang hat, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es auch ein Ende hat.«

»Bravo, bravo, bravo! Genau das ist das Ergebnis einer Politik, die die Kultur in diesem Land seit Jahren kaputtspart!«


»Mega geil weil megainklusif – da können sogar Komapazienten mittanzen.«

Billige Nachahmung eines »das Bär«-Objektes.

Mittlerweile fehlt die Tanzperformance My Body Is a Cage auf keinem internationalen Festival und die Gruppe »W.A.S.?« avancierte zu den einflussreichsten Impulsgebern der etablierten Avantgardebühnen. Ebenso wurden die Mitglieder des Auswahlgremiums der Ruhrtriennale zu äußerst gefragten Kurator*, Juror* und Intendant*innen, die sich durch die Weitsicht ihrer Entscheidung für »W.A.S.?« weltweite Reputation erworben haben.

Und »das BÄR« wurde zu einem der meistverkauften Merchandisingprodukte an den Theaterkassen zwischen Suhl und Soho.

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reproducts: Auf externe Anforderung oder als interne Investition forscht und produziert die Gruppe seit dem vorigen Jahrtausend.
Herzkammer aller Unternehmungen ist das ARCHIV REPRODUCTS – ein Generator für Momentaufnahmen im Spiegeltunnel der Wechselwirkung von Bild und Abbild,
von Medium und Welt im Auge des Betrachters.


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