Lost & Found (or maybe stolen):
DAS LINKSHÄNDIGE MÄDCHEN
7. Juni 2022
7. Juni 2022
Inventarnummer D39104-210526
Beschreibung: Federtasche aus Plaste, rot bedruckt mit Herzen und Kussmund, darin Anspitzspäne eines Bleistifts und ein mundförmiger Anspitzer
Fundzeitpunkt: 25. Mai 2021, gegen 21.00 Uhr
Fundort: City Shop in Magdeburg, Breiter Weg 231 (Google Maps: 52.12128480577025, 11.62839352212903)
Umstand: auf einer der Getränkekisten liegend
Photogrammetrie und 3-D-Modeling: Linus Eckel
Warum nimmt diese öde Musikstunde kein Ende? Warum quält uns diese olle Tussi so mit altem Scheiß? Warum soll mich das irgendwie interessieren, was dieser weiße Teufel in der Nacht labert? Ich will doch nur wissen, ob Jonas am Freitag auch zu der Demo geht! Und ob er schon mit wem geht! Ich hätt so wahnsinnig gern, dass er mich fragt, ob ich mitgeh! Aber nie guckt der her! Ich könnte kotzen, weil er so stulli ist und mich einfach nicht sieht…
Das alles hat Musiklehrerin Jutta Fürneisen nicht gehört – denn es waren ja nur die Gedanken im Kopf von Maja Sombetzki, 13 Jahre, Schülerin der 8d am Ökumenischen Domgymnasium in Magdeburg.
Maja sitzt nach außen hin mit leerem Blick da und hat zwischen ihren mit Maikäfern beklebten Fingernägeln mittlerweile nur noch den Stummel eines Bleistifts, den sie völlig verbissen weiter in den Anspitzer dreht. Die ganze Federtasche ist schon voll mit Spänen, und Maja schaut erst auf, als die Musiklehrerin sie anherrscht: »Was soll denn das, Maja, hier spielt die Musik!«
Jetzt erst wird ihr klar, dass sie gerade ganz woanders, überall, aber nur nicht im Musikraum der Schule gewesen war. Und mit dieser Erkenntnis kommen die Schmerzen. Schmerzen nicht nur, weil Jonas ihr nicht einmal in diesem Moment Beachtung schenkt, sondern weil ihr rechtes Handgelenk brennt. Es brennt wie Feuer. Bei jeder noch so kleinen Bewegung. Die Sehnen glühend heiß vom spitzenden Entkleiden des doch so ewig stumpfen bleiernen Kerns der Begierde. Mit der Hand kann sie erst mal nicht mehr schreiben! In einer Mischung aus Scham und Angst legt Maja Anspitzer und Bleistiftrest verstohlen in die Federtasche, um das Aufgabenblatt der Musiklehrerin ohne aufzuschauen in Empfang zu nehmen.
Elf Stunden später, gegen 21 Uhr, verlässt Musiklehrerin Fürneisen noch einmal ihre Wohnung in der Otto-von-Guericke-Straße, um sich im praktisch immer geöffneten City Shop um die Ecke mit einem kleinen Schlummertrunk zu versorgen. Sie erkennt die markante Federtasche sofort wieder, die da auf einer der Getränkekisten liegt. Und auch ihr Aufgabenblatt von diesem Morgen. Nights in White Satin – das Stück hatte ihr Vater immer gesummt, wenn er mit ihr auf der Schaukel im Garten saß, damals. Es dauert einen Moment, bis sie entziffern kann, was dort gekrakelt steht – und sie dreht sich um, nimmt noch eine zweite Flasche Rotwein aus dem Regal und legt den 20-Euro-Schein ohne auf Wechselgeld zu warten auf den Tresen. Für Sonel Senol ist das egal, er hat noch ein paar Stunden, bis endlich Schluss ist für heute…
Nights in White Satin – frei nach Maja Sombetzki:
School is just bullshit
Und die Penne soll burn’
Geschi ist boring
Never meaning to learn
Kiffen ist immer geil
Wann kommt das Klingeln
Von lauter Kringeln
Wellt sich das Papier
Denn ich hass es!
Ja, ich hass es!
Oh, wie ich’s hasse!
Nazis geht kacken
Chillt in der Hölle, ok!
Homework kann warten
Ne Sechs gab es noch nie
»Reißt euch mal zusammen!«
Meganervig seid ihr
Dazu bin ich zu dicht
Breit und voll bequem
Doch ich hass es!
Ja, ich hass es!
Oh, wie hass ich es!
School is just bullshit
Und die Penne soll burn’
Geschi ist boring
Never meaning to learn
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