© Karla Hiraldo Voleau

»Mein Schmerz wurde Teil
der Geschichte«

In ihrer neuen Serie gibt die Fotografin Karla Hiraldo Voleau intime Einblicke in die japanische Dating-Kultur. Ein Gespräch über Liebeskummer, Enthüllungsmomente und warum sie die Reaktionen auf ihr Projekt überrascht haben. VON MAGNUS PÖLCHER

19. August 2020

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Karla, nachdem du für das Olympus-Stipendium ausgewählt wurdest, hast du dich entschieden nach Tokio zu reisen. Welche Idee steckte dahinter?
Ursprünglich wollte ich einen eher progressiven Ansatz verfolgen und Performance und Fotografie miteinander vermischen – wie ich es zuvor bereits bei meinem Fotobuch Hola mi amol gemacht habe. Dafür bin ich auf Dates mit dominikanischen Männern gegangen, da ich Fragen des weiblichen Blicks, des männlichen Blicks, der Objektifizierung und des Begehrens untersuchen wollte. Eigentlich wollte ich wieder diese Richtung einschlagen, also nach Tokio reisen und mich, meinen Körper und meine Identität einsetzen, um die Dating-Kultur in Japan zu untersuchen. Wie das Leben aber so spielt, kam ich mit Liebeskummer in Tokio an.

Keine sonderlich guten Voraussetzungen, um die japanische Dating-Kultur zu erkunden. Hast du dann deinen künstlerischen Ansatz verändert?
Ja, er veränderte sich drastisch. Aber ich war verunsichert, was meine Idee für diese Arbeit anging. Dabei habe ich weniger gedacht »Egal, dann ändere ich einfach mein Konzept!« sondern vielmehr: »Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?« Ich bin nach wie vor meinem Bauchgefühl gefolgt, aber ich wusste nicht, ob etwas Gutes dabei herauskommen würde.

Wie hat sich dein Liebeskummer dann auf das Projekt ausgewirkt?
Ich wollte mich nicht mehr mit Dating, Sex oder dem »Konsum« von anderen Menschen beschäftigen. Nach meiner Ankunft wollte ich nur Freunde finden, ihnen von meinem Kummer erzählen und von ihren Erfahrungen mit Beziehungen lernen. Als ich mich dann in den darauffolgenden Wochen mit japanischen Altersgenoss*innen traf, wurde mir klar, dass diese nie die Gelegenheit hatten, mit ihren Familien oder Freund*innen über ihr Liebesleben zu sprechen, geschweige denn mit Fremden. Letzten Endes war das aber dann genau der Grund, warum ich dorthin gereist bin: um ihre Geschichten zu sammeln.

Karla Hiraldo Voleau, Finding Rooftops, 2019 © Karla Hiraldo Voleau

Und wie hast du die Personen kennengelernt? Das war doch sicherlich eine große Herausforderung, Fremde zu treffen und sie dazu zu bringen, dir intime Erlebnisse zu erzählen.
Ich war von Beginn an sehr ehrlich. Und die meisten von ihnen wurden mir von anderen Bekannten vorgestellt. Ganz am Anfang hat mir zum Beispiel eine Freundin aus Lausanne geholfen, die Japanerin ist und Freund*innen in Tokio hat. Danach war es eine Kettenreaktion. Jedes Mal, wenn ich jemanden getroffen habe, habe ich gefragt, ob sie/er jemanden kennt, der nicht schüchtern ist, etwas Englisch sprechen kann und Zeit hat, sich mit mir für einen Kaffee zu treffen. Im Anschluss habe ich dann diese Person kontaktiert und erklärt, dass ich das Gefühlsleben in der jüngeren, japanischen Generation untersuchen möchte, und gefragt, ob sie mit mir über ihre persönlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit oder Gegenwart sprechen wollen. Fast jede*r hat ja gesagt.

Stimmt es, dass du zu Beginn der Gespräche die Frage »Kannst Du mir ein Geheimnis verraten?« gestellt hast?

Ja, ich hab das gemacht. Ich habe diese Frage jedoch eher am Ende jedes Gesprächs gestellt. Nachdem ich die Person ein bisschen besser kennen gelernt habe. Manchmal haben wir uns auch mehrmals getroffen. Wenn ich den Eindruck hatte, dass wir uns gegenseitig vertrauen, habe ich die Frage gestellt. Diese Geheimnisse waren keine Geständnisse, für die ich im Gefängnis landen werde, sondern es waren eher intime Geschichten oder emotionale Enthüllungen, die ich nachempfinden konnte.

Was hast du insgesamt über das Gefühlsleben dieser japanischen Generation gelernt?

Ich hatte die Erwartung, dass sie diese Art von Gesprächen nicht ständig führen würden, und das hat sich als richtig herausgestellt. Was mich jedoch am meisten berührt hat, war, dass ab und zu eine*r meiner Gesprächspartner*innen zu weinen angefangen hat, weil sie diese Schleusen wirklich nie öffnen. Es ist passiert, wenn wir über Trennungen gesprochen haben. Manchmal ging es aber auch um eine Eltern-Kind-Beziehung oder Zukunftsängste. Diese Themen sind irgendwie ein Super-Tabu. Eine Person erzählte mir sogar, dass es viel üblicher sei, über Sex oder Fetische zu reden als über wahre Liebe.

Karla Hiraldo Voleau, Writing Session with Chikuma, 2019 © Karla Hiraldo Voleau

Bisher klingt es so, als ob alle deine Treffen gut gelaufen sind, in dem Sinn, dass sich die Menschen dir gegenüber geöffnet haben. Gab es auch kompliziertere Begegnungen?
Ja, mit Yusuke, er ist auch in der Ausstellung zu sehen. Er ist der Typ, der auf meinen Rücken »Ich habe nichts zu sagen. Ich habe Dir nichts zu erzählen« geschrieben hat, was dann zum Titel meiner Serie wurde. Mit ihm ist kein Gesprächsfluss entstanden. Um zu vermeiden, dass das Zusammentreffen ein kompletter Fehlschlag wird, bin ich mit ihm aufs Dach gegangen in der Hoffnung eine andere Ausdrucksform zu finden, da unserem Gespräch offensichtlich die Chemie gefehlt hat. Ich habe ihm den Pinsel gegeben und er schrieb dann diesen Satz auf meinen Rücken. Und in dem Moment nahm die Begegnung eine positive Wende – wir wurden nicht beste Freunde – aber immerhin.

Wie du gerade erwähnt hast, spielen in deinen Bildern Sprache und Handschrift eine wichtige Rolle – wir sehen auf deiner Haut und der deiner Protagonist*innen handgeschriebene Botschaften. Kannst du uns das erklären?

Das hat sich aus der Notwendigkeit ergeben, die Sprachbarriere zu überwinden oder zumindest zu kompensieren, da ich mich oft mit Leuten unterhalten habe, die nur wenig Englisch konnten. Teilweise haben wir dann eine Art Zeichensprache entwickelt. Aber irgendwann wollte ich etwas Radikaleres versuchen. Mir ist bewusst, dass die japanische Kultur sehr distanziert ist; man soll keine Menschen berühren, die nicht zur Familie gehören oder enge Freunde sind. Aber ich war neugierig, wie es sein würde, wenn wir uns in einer körperlicheren Ausdrucksform miteinander beschäftigen – ohne Beachtung der japanischen Etikette. Ich kann mich nicht erinnern, wie die Idee zum ersten Mal aufkam. Aber es endete damit, dass ich Pinsel und Farben kaufte, damit wir uns gegenseitig auf die Haut schreiben konnten.

Und diese Botschaften auf der Haut sind Geheimnisse, die ihr untereinander ausgetauscht habt?

Es sollten ihre kleinen Enthüllungsmomente sein, aber auf mir, meiner Haut, so dass ich in den Prozess eingebunden war, ohne sofort zu verstehen, was sie gerade geschrieben hatten. Ich war immer ein bisschen aufgeregt, bevor sie zu schreiben begannen, weil ich mich fragte, wie ihre Handschrift wohl aussehen würde. Ich liebe Handschriften, weil sie natürlich sind; sie sind etwas sehr Persönliches. Körperlichkeit spielt eine große Rolle in meiner Arbeit, daher der Körper als Schreibfläche. Und natürlich ist die Bedeutung der Schrift in der japanischen Kultur auch wichtig.

Karla Hiraldo Voleau, Yusuke Has Nothing to Say to Anyone, 2019 © Karla Hiraldo Voleau

Das Schreiben von Botschaften auf den Körper des jeweiligen Gegenübers ist also der performative Ansatz in deiner Serie. Woher kommt diese Faszination für die performative Fotografie?
Ich denke, dass ich seit meiner Masterarbeit an der ECAL (École cantonale d'art de Lausanne) über performative Fotografie stark an diesem Ansatz interessiert bin. Damals fand ich sehr viele Bezüge zur Konzeptkunst, zu skulpturaler Fotografie und Body-Art und erfuhr noch mehr über meine Lieblingskünstler wie Ana Mendieta, Paul Mpagi Sepuya, Sophie Calle, Gillian Wearing oder Janet Cardiff. Ich mag Kunstwerke, bei denen man die Präsenz des Künstlers/der Künstlerin spüren kann, bei denen man in das Leben des Künstlers/der Künstlerin hineingelassen wird. Daher versuche ich, dies auch in meinem Werk zu verwirklichen. Den Körper und seinen eher performativen Aspekt einzusetzen, fällt mir leicht. Ich bin ziemlich manuell veranlagt; daher muss ich berühren, fühlen und an mich nehmen. Ich denke, das ist ein ziemlich instinktiver Ansatz für mich. In meinem Alltag bin ich tatsächlich ziemlich schüchtern, und dieser Ansatz hilft mir, gegenüber Fremden aus mir herauszugehen.

Du bist als Künstlerin in diesen Bildern präsent. Spiegelt sich dein Liebeskummer von damals auch darin wider?

Ja, ich kann ihn in der Melancholie in dieser Serie erkennen. Wenn man als Künstlerin arbeitet – und ein essentieller Teil meiner Kunst besteht auch darin, meine persönliche Geschichte und meine Weltsicht zu zeigen –, solltest du die Stimmung akzeptieren, in der du dich befindest. Ganz ehrlich, ich verwende mein persönliches Leben oft als Set für das Projekt, an dem ich gerade arbeite. Und lade dann andere Geschichten dazu ein und lasse sie in einen Dialog mit meinem Leben treten. Ich finde es langweilig, nur über andere zu reden, und ich finde es absolut langweilig, nur über mich selbst zu reden. Ich möchte, dass beide Aspekte in meiner Arbeit vertreten sind.

Wie hast du nach Deinem Tokio Aufenthalt die Bildauswahl getroffen, die nun in den Deichtorhallen zu sehen ist?

Nach meiner Rückkehr schaute ich meine Fotos wochenlang nicht an, weil ich Angst davor hatte, dass ich es vermasselt habe. Schließlich traf ich eine riesige Auswahl von ungefähr 1000 Bildern und druckte sie alle aus, klebte sie zuhause an die Wände, so dass ich vollständig von ihnen umgeben war. Danach begann ich mit dem Auswahlprozess, indem ich kleine Bildwolken zusammenstellte, die gut zusammenzupassen schienen. Dabei stellte ich fest, dass ich viele Serienaufnahmen gemacht hatte. Ich hatte sehr viele auf mich cineastisch wirkende Sequenzen. In jedem Bild sieht man denselben Moment, aber jeweils im Abstand von Sekundenbruchteilen. Und ich stellte fest, dass dies wirklich ausgezeichnet zu meiner damaligen Wahrnehmung passte. Und dieser Effekt zugleich den Eindruck, dass eine Geschichte erzählt wird, verstärkt.

Karla Hiraldo Voleau, The Twin Sisters, 2019 © Karla Hiraldo Voleau

Und die Geschichten, die du schließlich auf Deine Bilder geschrieben hast?
Nun, ich habe auf die Haut von Menschen geschrieben –, es hat dann einfach Sinn gemacht diesen Vorgang des Schreibens auf den finalen Bildern nochmal zu betonen.

Was für Reaktionen hast du bisher von den Besucher*innen bekommen, die deine Arbeit in der Hamburger Ausstellung gesehen haben?

Ich bin ziemlich überrascht, speziell in Zeiten von Corona. Viele Besucher*innen haben mir über Instagram private Nachrichten geschrieben - nicht nur irgendwelche Herzchen- oder Daumen-hoch-Emojis, sondern wirklich Nachrichten. Meine Arbeit hat sie berührt und sie an eigene Erlebnisse oder Trennungen erinnert. Es waren bisher mitunter die schönsten Reaktionen, die ich für eine Arbeit bekommen habe. Ein Mädchen hat mir sogar ein Bild von sich geschickt, auf dem sie mit blauer Tinte auf ihren Körper geschrieben hat, um mir so ihre Geschichte zu erzählen, so wie ich meine erzählt habe – das hat mich total überrascht!

Das fühlt sich sicherlich toll an, wenn die eigene Arbeit zur Inspiration für andere Menschen wird.

Es geht mir gar nicht um Inspiration. Es geht mir eher um die Möglichkeit, sich mit fremden Menschen auszutauschen, Erfahrungen miteinander zu teilen, was zumindest für mich der Grund ist, warum ich Kunst mache.

Aus dem Englischen von Susanne Bosch-Abele

Magnus Pölcher ist Absolvent der Bildredaktionsklasse 2017/18 an der Ostkreuz-Schule für Fotografie in Berlin. Er arbeitet für C/O Berlin und schreibt u.a. für LensCulture über Fotografie. Für das HALLE4-Magazin betreut er die Kolumne #photography2050.

Die Ausstellung recommended – Olympus Fellowship ist bis zum 30. August 2020 im Haus der Photographie zu sehen.


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