FOTO: PHILIPP MEUSER

»Mineralien sind wie Zeitkapseln«

Die lettische Künstlerin Liva Dudareva lässt sich von mineralischen Formationen inspirieren, die durch Atomtests in den USA entstanden sind. Ein Gespräch über bedrohte Ökosysteme, Umweltbewusstsein und was sie an der Legende vom Trinitit fasziniert. VON CAROLINE HUZEL

22. Dezember 2022

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Liva, dein Projekt für THEHOST.IS/HYPHEN-LABS heißt I(will) destroy(ed) you...to protect you, was darauf hindeutet, dass es um verschiedene Zeiten geht. Kannst du den Titel ein wenig erläutern?
Das hat mit den historischen Recherchen zu tun, die ich für das Projekt durchgeführt habe. Es geht um unsere Beziehung zwischen Mensch und Natur, um die Idee, das Nicht-Menschliche zu schützen und die Umwelt vor der Ausbeutung ihrer Ressourcen zu bewahren. In gewisser Weise verweist der Titel auf bestimmte Ereignisse in der Vergangenheit, gleichzeitig aber auch auf die Zukunft.

Von welchen vergangenen Ereignissen sprichst du genau?
Meine Recherchen für das Projekt befassen sich mit der Entwicklung der Atomkraft in den USA und der Ökologie-Abteilung, die dort gegründet wurde, um die atmosphärischen Atomtests durchzuführen. Diese ökologische Abteilung hatte die Aufgabe, die Auswirkungen und Folgen der Atomtests auf die Umwelt zu untersuchen. Eine der Schlussfolgerungen war, dass das Ökosystem eine kollektive Einheit ist, die im Gleichgewicht sein muss. Die gewonnenen Erkenntnisse bildeten letztlich die Basis für die Theorie der Ökosystemökologie.

Archivbilder aus Alamogordo, New Mexico (1945), nach der Zündung der ersten Atombombe der Welt. Courtesy Liva Dudareva

Bezogen auf den Titel: Was wird zerstört, wer oder was wird geschützt - und wie?
Was die Zerstörung anbelangt, so betrachte ich zwei verschiedene Landschaften. Die eine ist die Wüste in New Mexico, wo die allererste Atombombe getestet wurde. Die andere ist auf den Marshallinseln, wo die stärksten Tests durchgeführt wurden. Es gibt eine Menge Dinge, die zerstört werden können, allen voran die Umgebung, in der die Bombe gezündet wird. Der Teil im Titel über den Schutz ist eher eine Fiktion: Die Gebiete hätten überwacht und geschützt werden müssen, was aber nicht der Fall war. Es ist auch ein wenig polemisch gemeint: Wir müssen die Natur erhalten, um sie überhaupt weiter ausbeuten zu können.

Inwieweit berührt das Projekt das Thema »Grenzen« der von dem Kunst- und Designduo Hyphen-Labs kuratierten Season?
Radioaktive Strahlung kennt keine Grenzen. Sie überschreitet sowohl nationale und territoriale Grenzen als auch verschiedene Ökosysteme. Sie ist völlig grenzenlos. Außerdem stellt sie die Trennung zwischen Mensch und Nicht-Mensch in Frage, indem sie sowohl in menschlichen Knochen als auch in Choralriffen nachgewiesen werden kann. Insofern wird auf mehreren Ebenen hinterfragt, was eine Grenze überhaupt ist.

Ausstellungsansicht I (WILL) DESTROY(ED) YOU...TO PROTECT YOU in den Deichtorhallen Hamburg, 2022. Foto: Henning Rogge

Du siedelst deine künstlerische Praxis zwischen Bildender Kunst, Geologie und World-building an. Worin besteht der weltbildende Aspekt? Gibt es einen narrativen Charakter in deiner Arbeit?
Die Arbeiten und Objekte, die ich produziere und zeige sind fiktionale Objekte. Jedes Objekt erzählt eine bestimmte Geschichte, über die ich in meiner Forschung stolpere. Zur selben Zeit kreieren die Objekte auch eigene Geschichten und Fiktionen um sie herum. Das ist der Teil, der neue Welten erschafft. Es geht nicht nur um eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern auch darum, wirklich zu verstehen, was die Objekte über unsere Beziehung zu anderen Lebewesen und der Umwelt aussagen und wie wir unsere Existenz auf der Erde durch diese Mineralien und geologischen Formationen besser verstehen können. Auf diese Weise hinterfragen sie auch die Grenze zwischen dem, was wissenschaftlich, real und fiktiv ist.

Allerdings sehen die Objekte, die du herstellst, durchaus sehr wissenschaftlich aus. Die 3D-gedruckten Objekte scheinen sehr genaue Modelle von Mineralformationen oder Korallenriffen zu sein. Wie wichtig ist die Verbindung zur Realität?
Die Genauigkeit der Details ist sehr wichtig. Die Objekte sind Hybride in dem Sinne, dass sie zwar künstlich hergestellt werden und daher neu sind, gleichzeitig aber einen direkten Bezug zu realen Formationen und Geschichten haben. Sie verweben eine Vielzahl von Erzählungen.

Nahaufnahme eines Archivfotos von Trinitit - einer Mineralformation, die durch den Einschlag einer Atomexplosion entstanden ist. Courtesy Liva Dudareva

Bei dem Projekt geht es also nicht nur um das Material und die geologischen Formationen selbst, sondern auch um die Geschichten, die sie beherbergen?
Ganz genau. Als ich über die Ausstellung nachdachte, war mein Plan, dass jedes Objekt eine bestimmte Geschichte erzählen sollte. Gleichzeitig wollte ich, dass sie alle ihre eigene Art der Vermittlung haben. Vielleicht ist da eine bestimmte Geschichte, die ich erzählen möchte, aber es gibt immer noch eine Menge anderer möglicher Interpretationen und Reaktionen auf die Objekte.

Bei deiner Recherche für das Projekt und die begleitenden Wandtexte beziehst du dich viel auf den Schriftsteller Dr. Ralph E. Pray. Welche Rolle spielt er für das Projekt?
Es gibt diese seltsame Legende über den ersten Atomtest in New Mexico. Laut Legende entstand dabei ein spezielles Mineral, genannt Trinitit, das sowohl aus Überresten der atomaren Bomben als auch natürlichen Materialien wie Wüstensand bestand und radioaktiv war. Die meisten Informationen der Tests sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich gewesen, viele Daten wurden verfälscht. Wir wissen zum Beispiel nicht wirklich, wer genau das Trinitit entfernt hat, wir wissen nur, dass es entfernt worden ist. Dr. Ralph E. Pray behauptet, dass er das Trinitit entfernt hat, dass er es vergraben hat und es seine Aufgabe sei, die Erde auf diese Weise zu reinigen. Was mir an dieser Geschichte gefällt, ist der Aspekt des Do it yourself-Umweltbewusstseins, die Eigeninitiative aufzuräumen, um Verantwortung zu übernehmen. Ich fand das auf eine Art sehr inspirierend – ob es nun wahr ist oder nicht.

© Henning Rogge
Ausstellungsansicht I (WILL) DESTROY(ED) YOU...TO PROTECT YOU in den Deichtorhallen Hamburg, 2022. Foto: Henning Rogge

Das Projekt ist derzeit in der Ausstellung ANYTHING TO DECLARE: THINKING OUTSIDE THE BORDER. Wird es mit dem Ende der Ausstellung abgeschlossen sein oder wirst du weiter daran arbeiten?
Ich werde auf jeden Fall weiter daran arbeiten. Die Residenz war eine schöne Zeit, aber auch eine kurze. Ich habe schon vor diesem Aufenthalt an der Recherche gearbeitet, das hat sich nicht erst in den drei Monaten ergeben. Ich denke, es gibt viele verschiedene Standorte für Atomtests, so dass es noch viel zu untersuchen gibt. Ich möchte, dass das Projekt zu einer riesigen Weltkarte wird, um die Auswirkungen und Grenzen der Strahlung zu untersuchen.

In einem der Wandtexte in der Ausstellung schreibst du, dass die Mineralien ein Beweis für die menschliche Existenz sein werden, wenn die Menschheit schon längst von der Erde verschwunden sind. Wie genau meinst du das?
Mineralien sind wie Zeitkapseln. Sie sind eine Art Beweismittel. Dabei können sie sehr unterschiedliche Interpretationen und Bedeutungszuweisungen hervorrufen. Das ist auch in der heutigen Zeit der Fall: Wir messen verschiedenen Materialien, Felsen und Steinen unterschiedliche Bedeutungen zu, die nicht immer mit ihrer physikalischen oder chemischen Zusammensetzung oder einer bestimmten kulturellen Signifikanz übereinstimmen. Letztlich hat also jedes Mineral eine Vielzahl von Geschichten zu erzählen, die mit jedem neuen Kontext und jeder neuen Person variieren können.

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Liva Dudareva (*1984) interessiert sich für mineralische Spekulationen und von Menschen geschaffene geologische Formationen, die durch industrielle und extraktive Prozesse entstanden sind: Lithische Formationen, die wir in Zukunft als Techno-Fossilien betrachten könnten. In ihren skulpturalen Arbeiten, die sie als mineralische Fiktionen bezeichnet, verschmelzen diese neuen geologischen Elemente, um unsere Beziehung zur Natur zu erörtern und die Biografien von Materialien zu erzählen, aus denen unsere Alltagsgegenstände bestehen. Die in Lettland geborene Künstlerin mit einem Hintergrund in Landschaftsarchitektur und Urbanismus positioniert die geologischen Themen innerhalb einer größeren geopolitischen Landschaft, in der materielle Realitäten und extraktive Prozesse untersucht werden.

Caroline Huzel studierte Kulturwissenschaften und Kommunikationswissenschaft in Lüneburg und Münster. Derzeit arbeitet sie als Volontärin in der Kommunikation bei den Deichtorhallen Hamburg.

Die Ausstellung THEHOST.IS/HYPHEN-LABS – ANYTHING TO DECLARE ist bis zum 15. Januar 2023 im Auditorium der Deichtorhallen Hamburg zu sehen.


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