Neue Zeiten
10. Oktober 2019
Foto: Julia Steinigeweg
10. Oktober 2019
»Von 1960 bis 1964 studierte ich Kunstgeschichte und Archäologie an den Universitäten Tübingen, München und Wien. Diese Jahre waren in der Bundesrepublik geprägt nicht nur durch die Ära Konrad Adenauers, in der die Besatzungsmächte recht unsanft das ehemalige Feindesland aus der Hybris des nationalsozialistischen Gestern in das Heute des Kalten Krieges katapultiert hatten, sondern auch durch die Teilung Deutschlands und das Wirtschaftswunder Ludwig Erhardts. Hüben wie drüben von Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen, welche die DDR im August 1961 zum Schutz des Arbeiter- und Bauernstaates gegen die Aggressionen des kapitalistischen Westens errichten ließ, hoffte man, dass die Verbrechen der Vergangenheit durch die Versprechen der Gegenwart auf eine bessere Zukunft in Vergessenheit geraten würden. Man setzte alles daran, das Bild der hässlichen Deutschen zugunsten des vertrauenerweckenden, glaubwürdigen Bundesbürgers zu revidieren. An den Universitäten lehrte man noch im alten Trott, ohne der eigenen, braunen Nazi-Geschichte nachzuspüren. Die Studenten waren noch nicht inspiriert von den rebellischen 68ern und in der Kunstgeschichte waren die Brüche und Umbrüche der Moderne noch kein Thema.
Unsere Generation war vaterlos aufgewachsen. Die Väter waren entweder im Krieg gefallen oder hatten das Erlebte verdrängt. Die Verstrickungen der Eltern im »Dritten Reich« wurden meist mit Schweigen übergangen, sodass es zu keiner Auseinandersetzung darüber kommen konnte. Aus der Presse erfuhren wir, dass Adolf Eichmann, der Inbegriff des nationalsozialistischen Schreibtischtäters, 1962 in Jerusalem hingerichtet worden war, und dass im Jahr darauf in Frankfurt/Main der Auschwitz-Prozess begann. Ohne Vorbilder wuchsen wir in einem dürftigen Alltag mit bescheidenen Freizeitangeboten aus Milchbar und Eisdiele, aus Rock ‘n’ Roll und Beat-Club heran. Oswald Kolles Aufklärungsprosa zur Hand suchten wir uns auch dort zurechtzufinden, wo die Pille die Sexualität zu enttabuisieren begann. Das Fernsehen – seit 1963 im Verbund von ARD und ZDF – eroberte die bundesrepublikanischen Wohnzimmer und informierte – neben den großen Zeitschriften Stern, Quick, Bunte, Neue Illustrierte – über das aktuelle Geschehen, etwa in Vietnam, wo die USA seit 1964 jene Strategien erprobten, die sie bis heute anwenden, um Kriege zu gewinnen und ihr Gesicht zu verlieren.
Nach einer Volontariatszeit an der Staatsgalerie Stuttgart 1965 erhielt ich 1966 eine Kuratorenstelle am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt. Dort war ich unter anderem für die Sammlung des Darmstädter Industriellen Karl Ströher zuständig, die vorwiegend Werke der Expressionisten enthielt. 1968 jedoch entschloss sich der von den Münchner Galeristen Friedrich und Dahlem bearbeitete 78-jährige zu einer radikalen Neuausrichtung seiner Kollektion in zwei spektakulären Schritten. Für den damals exorbitanten Preis von 1,7 Millionen D-Mark erwarb der Wella-Haarkosmetik-Hersteller zum einen sinnigerweise die New Yorker Pop Art-Sammlung Kraushar, die allein 37 Hauptwerke von Warhol, 16 von Roy Lichtenstein und 22 von Claes Oldenburg umfasste. Zum anderen übernahm Ströher für 690.000 D-Mark von Joseph Beuys den einmaligen Bestand an 257 plastischen Werken sowie zahlreichen Arbeiten auf Papier.
Die Aktivitäten Karl Ströhers machten das Darmstädter Landesmuseum 1969/70 zu einem internationalen Zentrum für zeitgenössische Kunst. Dabei war ich für die Bearbeitung des Bestandskataloges der neuen Sammlung Ströher zuständig und erhielt damit direkte Kontakte zu Künstlern wie Beuys, Oldenburg, Palermo, Richter, Segal, Stella, Walther, Warhol und anderen. Schon im Vorfeld hatte ich 1967 Georg Baselitz in seinem Atelier in Osthofen bei Worms aufgesucht, wo er mir seine in West-Berlin entstandenen, frühen Rayski-Köpfe, Die große Nacht im Eimer, die Reihe seiner Helden-Bilder sowie die neuesten Fraktur-Bilder vorführte. Leider erteilte Karl Ströher meinem Vorschlag, auch Werke von Baselitz und Polke in Betracht zu ziehen, eine Absage. Dafür konfrontierte er mich im Herbst 1967 anlässlich der Eröffnung der ersten Beuys-Retrospektive im Museum Mönchengladbach mit der wunderbaren Idee, den Großteil der Ausstellung für seine Sammlung und deren zukünftige Präsentation im Hessischen Landesmuseum anzukaufen.
Rasch wurde mir klar, dass mit der Gründung des Kölner Kunstmarkts 1967, mit der 4. documenta in Kassel 1968, mit der Ausstellungstournee der neuen Sammlung Ströher nach Münschen, Hamburg, West-Berlin und Düsseldorf 1968/1969 sowie deren Etablierung im Hessischen Landesmuseum 1970 und nicht zuletzt mit der Präsentation der Sammlung Ludwig in Aachen und Köln 1968/1969 erstmals neueste Kunsttendenzen ins Blickfeld einer zunehmend interessierten Öffentlichkeit rückten. Nirgendwo sonst in der westlichen Welt, trat die aktuelle Kunst von Beuys bis Warhol derart plötzlich, derart konzentriert und auf so einem hohen Niveau in Erscheinung wie in der Bundesrepublik in diesen Jahren.
Auch wurde mir bewusst, dass es vornehmlich die Schriftsteller, die Theaterleute, Filmemacher, Komponisten und bildenden Künstler waren, die sich um Antworten auf die Traumata von Krieg und Holocaust bemühten. Insbesondere Baselitz, Richter, Polke und etwas später Kiefer setzten damals der Wohlstandbehäbigkeit der BRD, die, wie die DDR, kaum ein angemessenes Vokabular für die Unsäglichkeit ihrer jüngsten Historie anzubieten hatte, ein kritisches Bewusstsein voller Extravaganzen und Sarkasmen entgegen. Vor allem sie waren es, die die Knüppel einer verstörenden, spöttisch zugespitzten Kunst zwischen die Beine jener erinnerungslosen Mehrheit der deutschen Bevölkerung warfen, die den Kopf in den Sand gesteckt hatte, die angeblich von nichts wusste, die jede Schuld bestritt und darauf pochte, die ersehnten Schlussstriche zu ziehen.«
Götz Adriani gehört zu den renommiertesten Kunsthistorikern in Deutschland. Von 1971 bis 2005 war er Direktor der Kunsthalle Tübingen, wo er viel beachtete Ausstellungen von Künstlern der Moderne und der Gegenwart realisierte, darunter Einzelausstellungen von Cezanne, Degas, Renoir, Toulouse-Lautrec, Roussaeu, Warhol, Picasso und anderen.
Die Ausstellung BASELITZ – RICHTER – POLKE – KIEFER. DIE JUNGEN JAHRE DER ALTEN MEISTER ist noch bis zum 5. Januar in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.