Nichts bleibt, wie es ist
23. Juli 2021
WILLIAM KENTRIDGE, ESPAGNA ANCIENNE (PORTER WITH DIVIDERS), 2015 © WILLIAM KENTRIDGE STUDIO
23. Juli 2021
Erinnerungen sind wandelbar und unstet. Wie Worte auf einer Tafel, die ständig neu formuliert, überschrieben und wieder ausgelöscht werden, bleiben sie im Fluss: Sie fügen sich zu immer anderen Geschichten mit Brüchen und Lücken, toten Winkeln und Leerstellen. William Kentridges Werk erwächst aus ebensolchen wechselseitigen Prozessen des Kreierens und Revidierens, der Überlappungen und Überlagerungen.
Die Zeichnung, zentrales Medium des Künstlers, ist von der Skizze bis zur Umsetzung im Bewegtbild Antriebsquelle seiner Arbeiten. Aus seiner Sicht drückt sie aus, »wie wir Wissen produzieren. Das Zeichnen selbst ist für mich eine Metapher für die Art, wie unser Denken funktioniert«. Das zeigt sich besonders markant in den animierten Kohlezeichnungen – den seit 1989 entstehenden Drawings for Projection, die Kentridge international bekannt machten.
Die mehrteilige Filmsequenz ist in Kentridges Geburtsstadt Johannesburg, weiterhin Lebensmittelpunkt des Künstlers, verortet. Hauptfiguren sind der ruppige Großmagnat und Nadelstreifenträger Soho Eckstein und der sensible, meist unbekleidet dargestellte Poet Felix Teitlebaum: konträre Alter Egos des Künstlers. Sie sind in surreale Wirklichkeiten verstrickt, die die traumatischen Auswirkungen der Apartheid in Südafrika in den Fokus rücken. In den Drawings for Projection entsteht Handlung durch ein konstantes Ausradieren, Überzeichnen und Ineinander-Übergehen der Bilder: »Das ständige Auslöschen und Neuschaffen entspricht dem Fluss der Gedanken in unseren Köpfen und auch dem Fluss der Zeit«, so der Künstler.
Die Erinnerung greift aus dem Zeitstrom Fragmente heraus, setzt sie vorübergehend zu schlüssigen Sinneinheiten zusammen, bevor diese im nächsten Augenblick wieder zersplittern, Teile verlorengehen und andere Konstellationen zum Vorschein kommen.
Die Täuschungen, denen das Gedächtnis anheimfallen kann, erweitern
sich in Kentridges gattungsübergreifendem Bilduniversum ins
Grundsätzliche. Ein Kernthema des Künstlers ist die Unbeständigkeit und
Unzuverlässigkeit der persönlichen und kollektiven Historien, aus denen
gesellschaftliche Realität hervorgeht. Dabei wirft er Schlaglichter auf
Verdrängtes und Ausgeklammertes an den Abseiten der Geschichte. In
seinen animierten Zeichnungen, aber auch in seinen Drucken, Collagen und
anderen materiellen oder visuellen Schichtungen schimmern die Konturen
unterliegender Figuren und Texturen hindurch: Basis für weitere Bilder.
Sie führen vor Augen, dass jeder Moment von der Vergangenheit
mitbestimmt wird: Als Nachbild der Erinnerung wirkt das Vorhergehende in
der Jetztzeit bis in die Zukunft hinein weiter.
Kentridge, Sohn prominenter Jurist*innen und Apartheidsgegner*innen,
beschäftigt sich seit seiner Jugend mit dem brutalen
Rassetrennungssystem in seinem Heimatland Südafrika. Im Zuge dieser
Auseinandersetzung hat das von ihm eingesetzte Verfahren des
Hervorholens, Sichtbarmachens und Auslöschens eine zutiefst politische
Dimension. Die Offenlegung der verborgenen Wunden und Abgründe im
sozialen Gefüge Südafrikas ist Ausgangspunkt seiner Erforschung der
institutionalisierten Unrechtsstrukturen, die als weitreichende Folgen
des Kolonialismus global zum Tragen kommen.
Die Instabilitäten in
Kentridges Bildsprache weisen in diesem Zusammenhang einerseits auf die
gefährliche Willkür und bizarre Logik autokratischer Ideologien, die
von ausgrenzenden, einspurigen Sichtweisen auf die Realität gestützt
werden. Zum anderen stellen sie die Möglichkeit tiefgreifender Wandlung
in Aussicht. Mit seinen stetigen Hinterfragungen und Verwischungen
scheinbar fester Gegebenheiten fordert er die Betrachter*innen dazu auf,
genau hinzuschauen und die eigenen Wahrnehmungsmuster zu prüfen. Vor
allem geht es ihm darum, Gewalt und Unrecht dem Vergessen zu entreißen.
Im Schattenspiel verdichtet sich das Wechselspiel von Konkretisierung
und Verflüchtigung: ein durchgängiges Leitmotiv im Schaffen des
Künstlers. Es deutet auf die Zerbrechlichkeit unserer menschlichen
Existenz und die Flüchtigkeit unserer Hoffnungen und Visionen ebenso wie
auf die Echos der Vergangenheit, die langen Schatten, die die
Geschichte in die Gegenwart wirft. Silhouetten von Menschen und hybriden
Wesen wie die von Kentridge oft eingesetzten anthropomorphen
Messinstrumente, Bohrgerüste und Megafone durchwandern von Minenanlagen
durchsetzte Brachlandschaften in endlosen Prozessionen. Schattenrisse
von Musizierenden, Flaggenschwingenden und Tanzenden oder Lasten und
Gepäckstücke Tragenden gehören zum Standardpersonal des Künstlers.
Sie
sind auch in der Videoinstallation More Sweetly Play the Dance
unterwegs, in der Kentridge das mittelalterliche Motiv des Totentanzes,
dem keine und keiner entrinnen kann, anlässlich des verheerenden
Ebola-Ausbruchs in Westafrika 2014/2015 aktualisierte.
Ähnliche Gestalten tauchen in den Tapisserien der Porter Series
auf: Hier vor dem Hintergrund historischer Landkarten platziert, die
Assoziationen zu Auswanderung und Flucht durch die Jahrhunderte wecken.
Die Vorüberziehenden rufen auch die heutigen Ströme der Entwurzelten,
Heimatlosen und Suchenden ins Bewusstsein, die sich im Niemandsland
zwischen Aufbruch und Ankunft durch die Welt bewegen. In ihrer
Ambivalenz sind die schemenhaften Figuren, die das Werk des Künstlers
durchziehen, Schlüsselwesen. Sie stehen in ihrer umrisshaften
Stilisierung für das umfassendere Phänomen des kollektiven
Unterwegsseins, des gesellschaftlichen Gefüges, der Conditio humana.
Zugleich ist der Schatten das persönlichste Double des Individuums, ein
Beleg für dessen Existenz.
Die Bildmotive von Triumphs and Laments, ein 500-Meter
langer temporärer Fries am Ufer des Tibers in Rom, entstanden durch
gezieltes Entfernen von Schmutz, Bakterien und Algen auf der Ufermauer,
spannen einen Bogen von der Gründung Roms bis zur extremen Notlage der
Flüchtlinge in Italien heute. Kentridge legte auf diese Weise 80
historische Figuren aus 2000 Jahren ehrenvoller wie düsterer römischer
und italienischer Geschichte frei, durch den nachwachsenden Belag auf
der Mauer allmählich zum Verschwinden gebracht. In Holzschnitten,
Radierungen und anderen »Erinnerungsformen« (Kentridge) sind die Motive
bewahrt.
Im Zusammenwirken von Gestaltwerdung und Auflösung drücken sich die
Verläufe der Zeit, der Erinnerung, des Lebens selbst aus. Der Strich des
Zeichenstifts wird zum Schicksalsfaden, dessen Wandlungen der Künstler
wie Penelope, die in der griechischen Mythologie auf Odysseus wartend
jede Nacht das tagsüber geschaffene Gewebe wieder auftrennte, permanent
in Gang hält. Sein Werk geht der Vorläufigkeit von Bedeutung auf den
Grund, die, so der Künstler, sowohl eine ästhetische als auch eine
politische Fragestellung beinhaltet.
Nichts bleibt wie es ist,
alles bewegt sich: Darin liegt die Chance einer Befreiung aus Zuständen
der Unfreiheit, der Unterdrückung und gedanklichen Enge. Kentridges
Transformationskunst führt nicht nur zu einer genaueren Wahrnehmung der
Vielschichtigkeit von Welt und Wirklichkeit, sondern auch zu einer
Öffnung des Blicks für das, was hinter den Erscheinungen,
Erinnerungsspuren und Schattenwürfen liegt.
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Belinda Grace Gardner, Kunst- und Literaturwissenschaftlerin,
lebt in Hamburg als freie Kunstkritikerin, Autorin, Hochschuldozentin
und Kuratorin.
Die Ausstellung WILLIAM KENTRIDGE – WHY SHOULD I HESITATE: PUTTING DRAWINGS TO WORK ist bis zum 1. August 2021 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.