»Nur das höchste Glück zu zeigen, wäre kitschig«
26. März 2021
FOTO: KIM SPERLING
26. März 2021
HALLE4: Herr Taubhorn, die Familie ist eigentlich ein sehr naheliegendes Thema in der Fotografie. Auf der anderen Seite gilt gerade die eigene Familie für viele Fotograf*innen als eines der schwierigsten Themen. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Familie und Fotografie?
Die Familie ist das machtvollste Geflecht von Beziehungen, in die der Mensch eigentlich geraten kann. Ich glaube, gerade in diesem Spannungsverhältnis ist es für Künstler*innen schwer, sich damit zu beschäftigen. Man muss erst einmal ein Verhältnis zu sich selbst als die Person, die abbildet, und zu den Abzubildenden schaffen. Und eine Klarheit schaffen, wie man das zusammenfasst. Wie viel will man von sich selbst preisgeben? Und dann geht es natürlich um die Frage, wie man es schafft, ein größeres Publikum für die eigenen »Seelenblähungen«, wie mein Professor sie genannt hat, zu interessieren. Wie gelingt es Künstler*innen, familiäre Beziehungen so zu zeigen, dass sie Allgemeingültigkeit erlangen? Die Familie kann das höchste Glück, aber auch eine erdrückende Last sein – oft ist sie sogar beides. Nur das höchste Glück zu zeigen, wird schnell kitschig, aber wenn die Last zu groß wird, kann es sein, dass man sich gar nicht damit beschäftigen möchte.
Wieso konzentriert sich FAMILY AFFAIRS auf Arbeiten aus den vergangenen zehn bis 15 Jahren?
Am
Anfang stellt sich die Frage, wie man eine Gruppenausstellung
konzipiert. Dabei habe ich schnell gemerkt, dass sich eine Einsortierung
in Kategorien wie »Mutter und Kind« oder »Schicksalsschläge« oder
»Wahlfamilie« schnell auf einem sehr schmalen Grat bewegt. Meine
Intention war zu zeigen, wie in der aktuellen Fotografie mit dem Thema
Familie umgegangen wird, und dabei auch über den Tellerrand zu schauen,
also nicht nur die Vater-Mutter-Kind-Familien zu sehen, sondern sie in
ihrer gesamten Diversität zu feiern. Von Anfang an war mir bewusst: Wenn
ich eine subjektive Auswahl treffe, dann muss ich mit dem Vorwurf leben
können, dass ich bestimmte Themen komplett ausklammere.
Viele Familien werden während der Corona-Pandemie vor große Herausforderungen gestellt. Wie sind Sie mit diesem Aspekt umgegangen?
Ich
habe überlegt, das Thema noch mit in die Ausstellung zu integrieren,
weil ich weiß, dass manche Besucher*innen das auch erwarten. Homeoffice
und Homeschooling, aber auch erhöhte Gewalt und Konflikte innerhalb von
Familien, werden in den Medien ja immer wieder thematisiert. Wir haben
darüber diskutiert, sind aber zu dem Entschluss gekommen, dass die
Auswahl, die wir hier aus mehr als 130 Portfolios getroffen haben, viele
dieser Themen bereits beinhaltet: Verlust, der Umgang mit Kindern und
der Pubertät sowie das Verhalten der Eltern. Es hätte das gesamte
Konzept auch verwässert, wenn ich so unmittelbar auf dieses aktuelle
Thema reagiert hätte.
Spannend finde ich auch die enorme Bandbreite der gezeigten Positionen. Ich nehme an, Sie hätten noch viel mehr zeigen können.
Nein,
ich wollte mich von Anfang an auf vielleicht 15 Positionen
konzentrieren, am Ende sind es nun 23 geworden. Aber eine Ausstellung
mit 50 Positionen zu diesem Thema würde die Besucher*innen nur
überfordern – und mich selbst auch. Im Haus der Photographie neigt man
als Kurator schnell dazu, den immensen Platz, der einem zur Verfügung
steht, voll auszunutzen. Für großanlegte Schauen ist der Ort ideal, aber
man muss sich immer vergegenwärtigen, wieviel die Besucher*innen
aufnehmen können. In der Ausstellung zeigen wir jetzt 356 Bilder, teils
großformatig, teils kleinteilig in einer Installation eingebunden. Den
83-minütigen Dokumentarfilm Midnight Traveller des afghanischen
Regisseurs Hassan Fazili werden wir allerdings im Hamburger Metropolis
Kino zeigen.
Eigentlich sollte FAMILY AFFAIRS auch eine ganz besondere Ausstellungsarchitektur erhalten.
Die Idee war,
die Ausstellung ähnlich wie ein Haus mit verschiedenen Räumen zu
gestalten, in denen dann die unterschiedlichen Positionen vertreten
sind. Jeder Raum sollte eine eigene Eingangs- und eine eigene
Ausgangstür bekommen. Das ist aufgrund der aktuellen Besuchsregelungen
leider nicht möglich. Wir haben es aber dennoch geschafft, eine Art
Haus-Grundriss mit intimen Räumen anzudeuten, in denen die
Künstler*innen ausreichend Platz bekommen, ihre Geschichte zu erzählen.
Einen hohen Stellwert hat das typische Familienporträt in der
Ausstellung, das wahrscheinlich jeder aus dem Fotoalbum der Eltern und
Großeltern kennt.
Diese Positionen werden sofort als
typisches Familienfoto verstanden, weil es das klassische Gruppenbild
darstellt, das immer auch ein wenig wie eine Familienaufstellung
funktioniert. Äußerlich ähneln sich diese Gruppenfotos zunächst, aber
inhaltlich haben die Künstler*innen sehr unterschiedliche
Herangehensweisen.
Welche Künstler*innen kommen Ihnen dabei besonders in den Sinn?
Jamie Diamond hat über das Internet
Menschen nach äußerlichen Kriterien zusammengesucht und sie in
Hotelzimmern wie eine Familie inszeniert. Die Betrachter*innen beginnen
nach Ähnlichkeiten zu suchen, weil sie denken, dass die Personen auf den
Fotos verwandt seien – in Wahrheit sind sie es aber gar nicht. Neil
DaCosta hingegen ist nach Äthiopien gereist und hat dort Familien
fotografiert, die noch nie zuvor fotografiert worden sind – und für die
es vielleicht auch das letzte Familienfoto sein wird, weil die
Wasserknappheit dazu führt, dass dort alle 20 Sekunden jemand an den
Folgen verunreinigten Wassers stirbt. Daniel Schumann zeigt queere Paare
in Kalifornien mit deren adoptierten Kindern und Lucia Herrero
porträtiert einheimische Familien an spanischen Stränden, nachdem die
Touristen längst in den Hotels verschwunden sind. Diese neun Positionen
werden im Herzen der Ausstellung, sinnbildlich im großen Saal eines
Hauses, miteinander in einen direkten Dialog gestellt. Man könnte sagen:
eine Gruppenausstellung innerhalb der Gruppenausstellung.
Die Arbeiten von Gustavo Germano und Dario Mitidieri ähneln
sich, weil sie beide Familienfotos zeigen, in denen wir Lücken sehen,
die für die Menschen stehen, die verschwunden, ermordet oder
zurückgelassen wurden. Diese Fotos erfüllen eigentlich gar nicht den
ursprünglichen Zweck, den Familienfotos haben.
Beide
Arbeiten sind aus einer gesellschaftlich-historischen oder zeitbezogenen
Notwendigkeit entstanden und haben eine politische Aussage. Aber wir
zeigen mehrere Künstler*innen wie zum Beispiel Nancy Borowick, Vincent
Ferrané, Lebohang Kganye, Daniel Coburn oder Elinor Carucci, deren
Arbeiten alles andere als typisch sind. Eine Künstlerin wie Lee-Ann
Olwage wiederum versteht ihre Arbeit als soziales Projekt: Sie hat
ehemalige Gangster-Familien in Südafrika sehr klassisch-konservativ im
Fotostudio porträtiert – einmal mit der kompletten Familie und einmal
mit einem leeren Stuhl, um zu zeigen, was mit einer Familie passiert,
wenn das Familienoberhaupt aus dem Verkehr gezogen wird.
Jemand hat mal gesagt, Fotos in den privaten
Familienalben seinen immer Propagandafotografie, weil sie nur das zeigt,
woran man sich gerne erinnert. Heute werden Hochzeiten und teilweise
sogar Geburten fotografiert, aber keine Beerdigungen. Die Positionen,
die du zeigst, beschäftigen sich aber dezidiert oft mit eher unpopulären
Themen. Schaffen die Künstler*innen also einen Gegenentwurf zur
privaten Propagandafotografie?
Ich denke, es liegt in der
Natur der Künstler*innen, dass sie Propagandabilder uninteressant
finden. Sie wollen ja den anderen Momenten des Lebens auf den Grund
gehen. Aber die Frage ist interessant, denn ich bin ganz anders
sozialisiert worden als Kinder und Jugendliche heute. Wenn du heute ein
Foto machst, ist der erste Satz, den du zu hören bekommst: »Zeig mal!«.
Dann wird sofort beurteilt, ob jemand gut oder schlecht auf dem Bild
aussieht und dann wird es gelöscht. Man lässt heute gar nicht mehr die
notwendige Zeit verstreichen, die zu einer Distanz führt, um Bilder und Situationen
zulassen zu können.
Ein Foto wird ja auch wertvoller je älter es wird.
Absolut.
Ich erinnere mich daran, wie ich meinen toten Vater fotografiert habe.
Das war eine große Überwindung für mich, aber als ich danach meine
Mutter gefragt habe, ob ich auch sie nach ihrem Tod fotografieren
dürfte, sagte sie mir, dass ihr das Foto meines toten Vaters sehr
geholfen habe. Das hat mich sehr verblüfft.
Warum?
Es hat mir gezeigt, dass man mit Dingen konfrontiert werden
kann, die eigentlich ausgeschlossen sind – sie müssen nur einfach
passieren. In unserer Gesellschaft und bei den Anbietern, die aus
unseren Digitalfotos kleine Fotobücher machen, geht es aber nur um Happiness.
Niemand sagt dir, dass du dich auch mal unvorteilhaft mit Speckfalten
und Doppelkinn fotografieren sollst. Aber als Kurator eines
Ausstellungshauses ist es mir wichtig, dass man eine Art Gegenentwurf zu
den eigenen Sehgewohnheiten zeigt. Als Besucher*in der Ausstellung kann
man sich den diversen Themen und Herangehensweisen ohne Vorkenntnisse
der Kunst- oder Fotogeschichte nähern. Alle Arbeiten funktionieren als
Projektionsfläche für die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse im
familiären Geflecht. Wenn man die Bilder und Geschichten nicht als
Versöhnung, sondern als Widerstreit in einer vitalen Gesellschaft
versteht, hat die Ausstellung ihren Auftrag erfüllt.
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Damian Zimmermann (* 1976) lebt und arbeitet als Journalist, Kunstkritiker, Fotograf, Kurator und Festivalmacher in Köln.
Die Ausstellung FAMILY AFFAIRS – FAMILIE IN DER AKTUELLEN FOTOGRAFIE eröffnet in Kürze im Haus der Photographie und ist bis zum 4. Juli 2021 zu sehen.