Offene Wunden
18. Dezember 2023
OTTO DIX, DER KRIEG, 1924. RHEINISCHES BILDARCHIV © VG BILD-KUNST BONN, 2023
18. Dezember 2023
Es gibt keinen humanen Krieg: Seine Schrecken hinterlassen Tod und unermessliches Leid. Otto Dix wusste um diese Ungeheuerlichkeit. Als Soldat im Ersten Weltkrieg war er unmittelbar damit konfrontiert. Von Kriegsanfang 1914 bis zum bitteren Ende 1918 kämpfte er an der Front. Er verarbeitete seine Erfahrungen in drastischen Gemälden wie Der Schützengraben, das später, wie andere Werke des Künstlers, vom NS-Terror-Regime als „entartet“ verfemt wurde und heute als verschollen gilt. Im bestürzenden Mappenwerk Der Krieg von 1924 und im gleichnamigen Triptychon aus den Jahren 1929 bis 1932 dringt Dix tief in die uferlose Finsternis des Kriegs ein.
Als selbsterklärter Chronist der Wirklichkeit hatte er den Anspruch, auch die Abgründe der Realität zu durchmessen. Nicht alle, die auszogen, das Fürchten zu lernen, überlebten. Diejenigen, die es schafften, verfolgte die Erinnerung an das Grauen der Schlachtfelder dauerhaft.
Dix legte darüber eindringlich Zeugnis ab. Ihm ging es darum, „die wahrhaftige Reportage des Krieges“ mit aller damit verbundenen Härte ins Bild zu setzen: „die zerstörte Erde, die Leichen, die Wunden“. Seine Visualisierungen von Kriegsverwüstung, in der Ausstellung DIX UND DIE GEGENWART mit Schlüsselwerken vertreten, sind buchstäblich von Brutalität und Verzweiflung gezeichnet. Sie führen Chaos und kollektiven Untergang ebenso vor Augen wie den individuellen Zusammenbruch, der daraus folgt. Es ist nichts Erhabenes in diesem Schrecken. Zum Schluss liegen die Menschen zerstört, zerstückelt, durch den Krieg unkenntlich gemacht, am Boden. Die Davongekommenen humpeln mit verstümmelten Gliedern, zerschossenen Gesichtern und traumatisierten Seelen auf Krücken durch die Nachkriegsrealität: Mahnende, die kaum noch etwas zu verlieren haben.
Wie Francisco de Goyas berühmte, von 1810 bis 1814 entstandene Radierfolge Desastres de la Guerra, macht die 50 Kaltnadel- und Aquatinta-Radierungen umfassende Kriegsmappe von
Dix den Horror in äußerster Intensität greifbar: Wir sehen die durch
Gasmasken anonymisierten, unheimlichen Visagen bewaffneter Soldaten,
Verweis auf die im Ersten Weltkrieg eingesetzten verheerenden
Giftgasgranaten; wir sehen die vor Entsetzen aufgerissenen Augen der
schwer Verwundeten und verwesenden Toten; wir sehen eine außer sich
geratene Mutter neben dem Leichnam ihres Kindes; wir sehen das Kampffeld
als höllenartige Wüstenei, in der ewige Nacht herrscht; wir sehen einen
Schädel, der von Würmern wimmelt, das Einzige, das sich hier noch regt.
In seinem altarartigen, fast filmisch wirkenden Triptychon Der Krieg
malt Dix die Motive der grafischen Blätter weiter aus: Auf der linken
Tafel ziehen die Soldaten im fahlen Dunst des frühen Morgens in den
Krieg. Die mittlere Tafel zeigt das Schlachtfeld als apokalyptisches
Fegefeuer. Auf der rechten Tafel kehren die Überlebenden wie Geister aus
dem Inferno zurück. Unterhalb der Mitteltafel ruhen die Soldaten wie in
einer Gruft, bevor der Zyklus des Kriegs wieder von vorn beginnt.
Im großformatigen Gemälde Flandern, die letzte explizite
Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Krieg, ist die Katastrophe dem
Schauplatz mehrerer Schlachten optisch regelrecht eingebrannt.
Entstanden zwischen 1934 bis 1936, als sich Dix – von den
Nationalsozialisten seiner Professur an der Dresdener Kunstakademie
enthoben – bereits in der inneren Emigration befand, ist das Bild
zugleich rück- und vorausblickende Warnung vor den Gräueln eines
weiteren Kriegs.
Dix' Spektrum erstreckt sich von krassem Realismus über
groteske, karikaturartige Zuspitzung bis hin zu allegorischer
Vielschichtigkeit und spannungsvoller atmosphärischer Aufladung. Immer
wieder ist der Krieg Thema im Werk des Künstlers: teils in
symbolkräftiger Verdichtung, teils in ikonische Großstadtszenen
eingewoben, in denen verstümmelte Kriegsheimkehrer als fratzenhafte
Untote auf haltlose Protagonist*innen einer ausschweifenden Halbwelt
treffen. Subtiler manifestiert er sich ab 1933 in abgründigen
„politischen Landschaften“. So beschwört das scheinbar harmlos betitelte
Gemälde Abendstimmung bei Wangen von 1939 mit blutrotem, wie
durch Feuersglut schwelendem Himmel den damals gerade begonnenen Zweiten
Weltkrieg herauf: eine sinistere Lichtstimmung, die auch weitere Werke
aus dieser Zeit durchwirkt und sich in der allegorischen und biblischen
Motivik von Dix' späterem Schaffen ebenfalls niederschlägt.
Wie die von Ina Jessen kuratierte Ausstellung eindrücklich zeigt,
finden die verschiedenen Ansätze von Dix, den Blick unerbittlich auf die
katastrophalen Auswirkungen des Kriegs zu richten, Widerhall in den
ästhetischen Mitteln kontemporärer Künstler*innen: Auch sie suchen die
stets aufs Neue aufflammende Kriegsgewalt in der Geschichte und
gegenwärtigen Welt bildlich zu fassen und in aller Drastik zu
vermitteln.
Direkten Bezug zu Dix' Gemälde Kriegskrüppel von 1920 nimmt die israelische Medienkünstlerin Yael Bartana in ihrer Videoinstallation Entartete Kunst lebt
von 2010. Darin vervielfältigt sie Dix' bizarr überspitzte
Kriegsversehrte zum stetig anwachsenden Heer der Zombies und versetzt
sie in roboterhafte Bewegung. Historische Fotos von Veteranen des Ersten
Weltkriegs dienen dem französisch-algerischen Bildhauer Kader Attia als
Vorlage für seine Beschäftigung mit den Wunden von Krieg und
Kolonialismus und deren Heilung und „Reparatur“. Hier ist er mit seinen zwischen 2014 und 2020 entstandenen Figurationen physischer und
kollektiver kultureller Verletzung, Culture, Another Nature Repaired, vertreten.
Auch das Terrain der „politischen Landschaft“ in Dix' Nachfolge
offenbart sich in der Ausstellung als vielgestaltig aufrüttelnder Ort
der Auseinandersetzung mit den Schrecken des Kriegs. Inmitten eines
blutigen Bergs aus Knochen evoziert die serbische Künstlerin Marina
Abramovic in ihrer filmisch dokumentierten Performance Balkan Baroque auf
der Venedig-Biennale von 1997 die traumatischen Geschehnisse der von
1991 bis 2001 andauernden postjugoslawischen Kriege.
Der glutrote
Himmel, der im 2022 geschaffenen Pastellkreide-Bild Red Forest
des Schweizer Malers Nicolas Party über dunklem Tannenwald lodert,
schlägt eine Brücke von Dix' unheilvollen Landschaften in unsere von
Kriegsgewalt und globaler ökologischer Gefährdung bestimmten Gegenwart.
Die in den Deichtorhallen Hamburg gezeigten senkrecht aufragenden,
monumentalen Landschaften des in Abgründe der deutschen Geschichte
schauenden Künstlers Anselm Kiefer, dehnen sich wie endlose
Schlachtfelder in die Höhe: dem Dichter der Todesfuge Paul Celan gewidmet, der das Desaster des Holocaust lyrisch thematisierte, vermitteln Kiefers Werke Am letzten Tor von 2021 und An die Haltlosigkeit
von 2020 bis 2021 allein durch ihre physische Präsenz ein Gefühl
starker Bedrohung. Unterschwelliger entfalten die Landschaftsfotografien
des italienischen Künstlers Gianni Motti ihre Brisanz. In seiner Serie Collateral Damage von
2001 erweisen sich die Dunstschleier, die sich in frühsommerlich
wirkenden Bergidyllen ausbreiten, als Rauchschwaden von Bomben- und
Granatenexplosionen: Detonationen in Kriegsgebieten in Kosovo,
Mazedonien und Palästina.
Anders noch als in der Ära von Dix, dessen Darstellungen des Kriegs
bis ins Mark einer Gesellschaft drangen, die sich politisch gegen die
darin enthaltene pazifistische Aussage richtete, stehen wir heute vor
dem Problem einer Abstumpfung des kollektiven Bewusstseins durch die
ständige Konfrontation mit Schock-Bildern im unablässigen, digitalen
Medienstrom. Schon 2002, anlässlich seiner Installation Lament of the Images
zur documenta11, konstatierte der chilenische Künstler Alfredo Jaar,
dass uns durch die pausenlose Überflutung mit Bildern die Fähigkeit
abhandengekommen sei, diese wirklich zu erkennen und von ihnen berührt
zu werden.
Dennoch packt uns die „wahrhaftige Reportage des Kriegs“ von Dix
weiterhin, wie uns auch andere Chronist*innen und Künstler*innen kraft
ihrer Bilder erreichen, indem sie die Wirklichkeit an den Stellen, an
denen sie besonders schmerzt, freilegen und den Blick in die offenen
Wunden unserer Zeit lenken.
Die auf diesen Wegen wirkenden Bilder der
Kunst, aber auch der empathischen fotografischen Berichterstattung,
haben die Fähigkeit, die mentalen Loops des Nichtwahrnehmens und
Ausblendens des Schreckens von Krieg und Gewalt zu durchbrechen: Indem
sie dem Unbeschreiblichen, kaum Darstellbaren Ausdruck und Form geben,
sensibilisieren sie uns für das Leid der Anderen, das auch das unsrige
ist, und machen so die Perspektive auf Frieden in unserer globalisierten
Welt nicht nur denkbar, sondern als zwingende Notwendigkeit unumgehbar.
__________
Belinda Grace Gardner, Kunst- und Literaturwissenschaftlerin,
lebt in Hamburg als freie Kunstkritikerin, Autorin, Hochschuldozentin
und Kuratorin.
Die Ausstellung DIX UND DIE GEGENWART ist noch bis zum 1. April 2024 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.