»Otto Dix war das Feindbild«
30. Oktober 2023
FOTO: PHILIPP MEUSER
30. Oktober 2023
Frau Jessen, die Ausstellung DIX UND DIE GEGENWART in den Deichtorhallen Hamburg versammelt rund 50 Arbeiten von Otto Dix und weitere 100 Arbeiten von 50 zeitgenössischen Künstler*innen und stellt sie in verschiedenen Kapiteln einander gegenüber. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Ina Jessen: Es geht auf meine Forschung zu Otto Dix und dem Nationalsozialismus zurück. Ab 1933 malt er vermehrt Landschaften. Die Landschaft löst das Porträt als wichtigste Gattung ab. Er reagiert damit unmittelbar auf die politische Situation. Ich wollte meine Forschung einem breiteren Publikum zur Verfügung stellen und an die Gegenwartskunst anknüpfen, in der das Politische wieder eine große Rolle spielt.
Dix war einer der ersten Kunstprofessoren, die von den Nazis entlassen wurden. Er zog sich zunächst nach Süddeutschland und ab 1936 an den Bodensee zurück. Bis dahin waren seine Werke immer noch in Ausstellungen zu sehen. Mit der Beschlagnahmung seiner Werke durch die Nationalsozialisten und der Ausstellung »Entartete Kunst« 1937 war auch damit Schluss.
Ab 1934 war Dix Mitglied in der Reichskammer der Bildenden Künste und durfte, rechtlich betrachtet, weiterhin produzieren. Tatsächlich jedoch wurden seine Ausstellungen ab 1933 meist schlecht rezensiert und – wie im Hamburger Kunstverein 1936 – sogar geschlossen. Dix hat dann Mappen mit Fotografien und Zeichnungen an seine Sammler verschickt und dadurch seine Aufträge generiert. Auf den ersten »Schandausstellungen« ab 1933, der Ausstellung »Entartete Kunst« und auch der Wanderschau danach wurden seine Werke regelrecht angeprangert. Sie wurden sogar bespuckt, sie waren das Feindbild schlechthin. Ich denke, es war ihm einfach nicht anders möglich, als sich auf scheinbar unverfängliche Sujets zurückzuziehen. Erst nach dem Krieg wurden Dix’ Motive wieder explizit gesellschaftskritisch.
Der Wechsel von den charakteristischen Typenporträts und den
Schilderungen der Großstadtmilieus der Weimarer Zeit zu den Landschaften
ist auch deshalb so auffällig, weil die Landschaft bis dahin eigentlich
keine Rolle spielt, bis auf die großen Kriegslandschaften, die eine
eigene Kategorie bilden.
Flandern wurde 1936 fertiggestellt, es ist das letzte wirkliche
Kriegsbild. Die Kriegslandschaften sind übersät mit Leichen, die
späteren Landschaften menschenleer. Doch obwohl sie auf den ersten Blick
harmlos erscheinen, haben sie es in sich. Sie sind sehr politisch wie
beispielsweise Aufbrechendes Eis (mit Regenbogen über Steckborn). 1940 ist ein harter Winter, und der
Bodensee bei Hemmenhofen, wo Dix lebt, ist zugefroren. Ein Schweizer
General gibt den Befehl, das Eis aufzubrechen, um einen Angriff, aber
eben auch die Flucht von Menschen aus Deutschland in die Schweiz zu
verhindern. Und plötzlich erhält diese erhabene, romantische Landschaft
mit den dramatischen Wolken und dem Regenbogen über dem Dorf und der
Kirche am anderen Ufer eine ganz andere Bedeutung. Es ist letztlich ein
Kriegsbild und ein politisches Statement.
In der Ausstellung hängt es direkt neben einer Reproduktion
des berühmten Triptychons Der Krieg von 1929-32, was einen guten
Vergleich erlaubt. Schräg gegenüber eröffnet eine Arbeit von Anselm
Kiefer einen Bezug in die Gegenwart. Kiefers aufgewühlte
Erinnerungslandschaft wirkt wie eine Fortentwicklung des »Kriegstriptychons«, bei dem man kaum mehr zwischen verletzter Erde und
verletzten Körpern unterscheiden kann. Kiefer trägt das schwärende
Erdreich selbst als pastose Masse dick auf die Leinwand auf.
Die Formen der Zeitkritik sind ein starkes verbindendes Element.
Die persönliche, schockierende Kriegserfahrung bei Dix, aber auch die
Verarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur und des Holocaust durch
Kiefer sind hierbei besonders wichtig. Auch das Gewitter im Riesengebirge von
1942 mit einem zerklüfteten, sich dem Abgrund zuneigenden Baum vor dramatischer
rötlicher Gewitterfront hat eine konkrete politische Ebene. Krieg wird hier in
die Metapher des Unwetters und brennenden Himmels übersetzt.
Über die Symbolebene hinaus lässt es sich auch unmittelbar
auf Caspar David Friedrich beziehen, auf seinen Einsamen Baum von
1822, den Dix hier buchstäblich aus der Achse dreht und zum Umsturz
bringt. Er kippt Friedrichs romantisches Idealbild regelrecht.
Richtig. Auch die Lärche im Engadin von 1938 hat etwas Bedrohliches. Sie
steht in einer glühenden Landschaft, ist halb entwurzelt, und ihre
abgestorbenen Äste wirken wie Gliedmaßen. In diesen Baumporträts setzt
sich auch Dix‘ Beobachtungsgabe der Milieuschilderungen und
Typenporträts der Weimarer Zeit fort.
Die Ausstellung nimmt einerseits den relativ unbekannten Dix
ab 1933 in den Blick, der gegenüber dem Dix der 1920er Jahre etwas
verblasst, und zum anderen knüpft sie an die Gegenwart an. Sie haben
diese beiden Stränge entlang mehrerer Kapitel miteinander verbunden, die
die Ausstellung gliedern. Sie umfassen sowohl Themen und Motive,
politisches Zeitgeschehen und Techniken. Das betrifft zum einen
bestimmte Gattungen wie Typenporträt und Landschaft, aber auch
Stilfragen wie die Altmeisterlichkeit. Wieso haben Sie diese
unterschiedlichen Kriterien gewählt?
Weil sie so wesentlich sind für Dix. Der Dix der 1920er Jahre ist
berühmt-berüchtigt für seine drastischen Milieuschilderungen, daran
knüpfen die ersten beiden Sektionen zur Großstadt und zum Typenporträt an. Aber dann bricht es um in seinem Werk, dann kommt
etwas Fragiles hinein, etwas, was wir bislang nicht gesehen haben oder
vielleicht auch nicht sehen wollten. Ich möchte dieses Verborgene, die
Reaktion auf das politische System ab 1933 thematisieren und – mit Blick
auf die Gegenwart – die Frage stellen, wie künstlerische Positionen
heute mit politischen Situationen, aber auch mit dem Krieg, umgehen.
Sie haben nach Möglichkeit mit allen Künstler*innen über das
Ausstellungskonzept gesprochen, und einige haben gesagt, dass sie sich
mit Dix auseinandergesetzt haben, auch wenn es zunächst vielleicht nicht
so sehr ins Auge sticht. Andere empfanden Ihre Bezüge als stimmig, auch
wenn sie sich vielleicht nicht direkt auf Dix beziehen.
Manchmal sind diese Bezüge auch eher über Bande gespielt. Anne Laure
Sacriste beispielsweise widmet sich anhand von Cranachs Venus von 1532
dem schonungslosen, aber eben auch sehr männlichen Blick, den Dix auf
den weiblichen Körper richtet. Andere Künstler bearbeiten eng verwandte
Themen in unterschiedlichen Arten und Weisen. Die verschiedenen
künstlerischen Positionen eröffnen den Raum und die Themen.
Es handelt sich also eher um eine Befragung als um eine Beweisführung, um Möglichkeitsräume.
John Currin ist mit seiner fast schon grotesken Altmeisterrezeption
sehr nahe an Dix, auch Falk Gernegroß hat sich unmittelbar mit ihm
auseinandergesetzt. Die Betrachter*innen können und sollen aber die
Bezüge auch für sich selbst entdecken.
Im Kapitel »Zwischen den Weltkriegen« geht es um
Kriegsnarrative und die Folgen des Krieges. Einer Reproduktion von Dix’
berühmtem verschollenen Gemälde Kriegskrüppel von 1920, die das
Narrativ vom heldenhaften Krieg drastisch infrage stellen, stellen Sie Kader Attias Holzskulpturen gegenüber.
Dix bedient sich in den Kriegskrüppeln einer montierten,
fragmentierten Ästhetik, in die er die Verletzungen der Körper
übersetzt. Und Kader Attia überträgt diese Verletzungen in die des
Holzes.
Er nennt sie Culture, Another Nature Repaired und
verfolgt damit auch den Gedanken der Reparatur. Daran lässt sich gut
ablesen, wie die Ausstellung funktionieren kann: Für mich beispielsweise
ist es eine schöne Idee, den montierten, fragmentierten und damit verletzten Körpern von Dix mit einem solchen Gedanken zu begegnen.
Neben körperlichen Verletzungen durch Kriege – auch in post-kolonialen Perspektiven wie sie bei Attia eine Rolle spielen – sind es ebenso Kriegsbilder, die sich wie Narben in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben. Mit solchen bekannt wirkenden Szenarien zeigt Tacita Dean in ihrer Arbeit The Russian Ending verschiedene Lesarten eines Krieges und hinterfragt damit kontinuierliche, stichhaltige Narrative ebenso wie unsere erlernten Sehweisen.
Die Ausstellung beginnt mit dem Selbstporträt von 1942.
In diesem Bild zeigt sich der Ausgangspunkt der Ausstellung sehr gut.
Dix präsentiert sich mit gerunzelter Stirn und den traditionellen
Attributen Palette und Malerkittel und signalisiert damit, dass er seine
Arbeitsweise und seinen kritischen Blick beibehalten hat. Aber er
dokumentiert mit der brennenden, regelrecht apokalyptischen Landschaft
im Hintergrund auch das Zeitgeschehen während des Krieges.
Den Schlusspunkt bildet das Kapitel »Biblische Themen und Allegorie«.
Sie sind teilweise auch sehr politisch. Im Schweißtuch der Veronika
von 1948 sieht man im Hintergrund marschierende Soldaten. In der Ruhe
auf der Flucht von 1941 rastet die Heilige Familie inmitten einer
dramatischen, eben nicht ruhigen, sondern besonders unruhigen
Landschaft.
Das Jesuskind krabbelt weg gen Abgrund und die Mutter
versucht es festzuhalten, was nicht nur eine fast liebevolle
Beobachtung, sondern eben auch bedrohlich ist.
Inhaltlich gehört zu dieser Sektion auch Dix’ Vanitas (Jugend und
Alter) von 1932, die aber im Zuge des Ausstellungsaufbaus in die
Altmeisterlichkeit gewandert ist, der Bezugspunkt bleibt aber virulent.
Glenn Brown beispielsweise malt einen verzerrten Totenschädel, Marc
Brandenburg zeichnet einen Freund in Dessous mit Totenmaske – beides
sind letztlich Allegorien des Todes und spiegeln den Umgang mit diesen
jahrhundertealten Motiven in der Gegenwart. Zugleich sind sie grotesk,
wie Dix’ Vanitas.
Welchen Stellenwert haben die biblischen und allegorischen Themen in Dix’ Werk? Ist er religiös?
Sie begleiten ihn bis an sein Lebensende. Sein Interesse gilt aber
weniger der Institution Kirche. Ihn beschäftigt eher, was die Menschen
antreibt, was sie leitet und was ihr Selbstverständnis ausmacht. Das
sind vor allem ihre Geschichten, und dazu zählen auch die biblischen
Geschichten und die Formen, wie sie erzählt werden. Er überführt seine
Themen auch in sakrale Formate wie das Altarbild, das Großstadttriptychon und das große Triptychon Der Krieg und verleiht den abgründigen menschlichen Facetten damit
eine besondere ikonische Rahmung.
Ist diese intensive Auseinandersetzung mit biblischen Themen
nicht auch ein Kratzen an der Sinnfrage? Gerade angesichts all dessen,
was er erlebt hat, schon in den Schützengräben des ersten Weltkriegs und
dann während der Nazizeit?
Vielleicht. Es ist immer wieder der Zweifel, der bei Dix
durchschlägt. Er stellt auch die Abgründe von Menschlichkeit dar. All
seine Bilder sind von Ambivalenzen und Kippmomenten durchzogen.
In krassem Gegensatz dazu steht der Christophorus mit dem
unfassbar blauäugigen, fast schon süßlichen Jesusknaben auf den
Schultern. Es strahlt eher Zuversicht aus.
Dix hat den Heiligen Christophorus mehrfach gemalt. Ein zeitgenössischer
Rezensent hat ihn 1938 als den Künstler gedeutet, der die Malerei in Gestalt
des Jesusknaben von einem Ufer zum anderen trägt und damit rettet – in
einer Zeit, in der es die Freiheit der Kunst nicht gab.
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Veronika Schöne ist Kunsthistorikerin, Autorin und Dozentin. Sie
schreibt Texte und macht Führungen, Seminare und Reisen zur Kunst.
Die Ausstellung DIX UND DIE GEGENWART ist noch bis zum 25. Februar 2024 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.