Pure Existenz
VON MARC PESCHKE
8. August 2019
Foto: Walter Schels, Frühgeburt, 1980 © Walter Schels
8. August 2019
Was ist das Wesen eines Menschen? Diese Frage stellt die Porträtfotografie immer wieder. Spätestens seit dem Jahr 1840, als John William Draper eine Daguerreotypie seiner Schwester Dorothy Draper anfertigte – das älteste noch existierende Porträtfoto der Welt – hat sich das Porträt zu einem hauptsächlichen Feld der Fotografie entwickelt. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es üblich, ein Fotoalbum mit Porträts zu besitzen. Über diese bürgerlichen Porträts urteilte 1964 der Schriftsteller Heinrich Böll: »Vielleicht waren die Photographien in den Alben unserer Väter und Großväter ehrlicher: die erkennbare Kulisse, die Künstlichkeit der Pose, der Komposition, des Arrangements war humaner als der Schnappschuss.«
Böll treibt hier die Frage um, wie ein Porträt beschaffen sein muss, um »ehrlich« oder »human«, also dem Menschen angemessen zu sein. Eine Frage, die auch Walter Schels Zeit seines Fotografenlebens beschäftigt hat. Um seine Porträts zu fotografieren, hat er viel auf sich genommen. Er hat Neugeborene, Sterbende und Gestorbene fotografiert und der puren Existenz Raum gegeben. Seine Protagonisten hat Schels dabei oft losgelöst von dem, was sie umgibt.
Die Schlichtheit der fotografischen Form – Schels arbeitet meist Schwarzweiß, fotografiert zumeist vor neutralem, einfarbigem Hintergrund – entspricht der Konzentration auf die Porträtierten selbst, auf das »Leben«, wie die Ausstellung WALTER SCHELS. LEBEN in den Deichtorhallen zeigt, welche die wichtigsten Porträt-Serien des in Hamburg lebenden Fotografen vorstellt. Darunter auch erstmals die 2014 bis 2019 entstandene Serie Transsexuell, ein Langzeitprojekt über die Einswerdung junger Menschen mit sich selbst.
Schels hat Neugeborene, Sterbende und Gestorbene fotografiert und der puren Existenz Raum gegeben
Leben bedeutet bei Schels immer auch Sterben. Das brachte er im Jahr
2004 mit seiner Serie Noch Mal Leben zum Ausdruck, für die er den Tod
öffentlich machte. Walter Schels fotografierte unheilbar Kranke kurz
vor und kurz nach ihrem Sterben. Die in Hospizen in Berlin und Hamburg
entstandene Serie ist in ihrer Radikalität, in ihrem Mut und ihrer
visuellen Konsequenz kaum zu überbieten.
Der Soziologe Norbert Elias hat die Systematik des Verdrängens des
Todes in der Moderne folgendermaßen beschrieben: »Niemals zuvor in der
Geschichte der Menschheit wurden Sterbende so hygienisch aus der Sicht
der Lebenden hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens
fortgeschafft, niemals zuvor wurden menschliche Leichen so geruchlos und
mit solcher technischen Perfektion aus dem Sterbezimmer ins Grab
expediert.«
Das Sterben, nach Walter Benjamin »einstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des einzelnen und ein höchst exemplarischer«, wird in der Kunst von Walter Schels wieder öffentlich. Doch Schels hat nicht nur den Tod, sondern auch den Anfang, die Geburt fotografiert. Säuglinge etwa, die er seit den 1970er Jahren porträtiert. »Greise mit großen, wissenden Augen« nennt er die müde und erschöpft aussehenden Wesen, die erst zwei, drei Minuten auf der Welt sind.
1994 entstand eine Serie über Blinde. Bekannt wurden vor allem auch
die Tierporträts von Walter Schels, in denen – wie bei den Säuglingen
oder den Sterbenden – eine Sehnsucht zum Ausdruck kommt, ein
unverstelltes, »echtes« Bild eines Wesen zu gewinnen. Eines Subjekts,
das nicht posiert. Auch hier scheinen seine
tiefgründigen Bilder zum Wesentlichen, zum Kern der Seele vorzudringen.
Sie berühren den Betrachter tief. »Zu Tieren hatte ich damals eine
innige Beziehung, anders als zu den Menschen um mich herum. Das kam erst
viel später«, erinnert sich Walter Schels an seine Kindheit.
Auch seine Tierbilder sind voller Wärme und Empathie. Sie
sprechen mit dem Betrachter – weil
Schels die Porträtierten einfach zur Ruhe kommen lässt. Sylvia Staude
hat es in der Frankfurter Rundschau einmal ganz richtig
zusammengefasst: »Sie scheinen einverstanden, dass der Mensch sich ein
Bild macht von ihnen.«
Die Suche, die Sehnsucht nach Echtheit ist auch der Serie Transsexuell eingeschrieben. Gezeigt wird der Transformationsprozess
junger Menschen, die auf der Suche nach ihrem »wahren« Geschlecht sind.
Die Stille, die feine ästhetische Zurückhaltung dieser Bilder überzeugt,
gerade weil Schels damit eine besondere Nähe zu seinen Protagonisten
zum Ausdruck bringt. Schels' Blick, so beschreibt der große Sammler und Fotograf F. C. Gundlach, ist »im höchsten
Maße eindringlich, einfühlend und wahrt trotz aller Nahsichtigkeit
gegenüber dem Portraitierten stets respektvolle Diskretion«.
Schels' Tierbilder sprechen mit dem Betrachter – weil
Schels die Porträtierten einfach zur Ruhe kommen lässt
Seine Serie Hände zeigt unter anderem auch Prominente wie Günter Grass, Angela Merkel oder Claude Chabrol, aber auch einen Schimpansen, die allesamt ihre Hände in die Kamera halten. Für Schels sind die Hände ein »zweites Gesicht« – und auch bei dieser Serie löst der Fotograf die Gezeigten ganz aus ihrem sozialen Umfeld. Diese Methode von Walter Schels, die vollkommene Ausblendung sozialer Zusammenhänge im Bild, wurde durchaus kritisch kommentiert: »Über die Gesellschaft, die die Abgebildeten zu Außenseitern erklärt, erfährt man nichts«, urteilte etwa Deutschlandfunk Kultur anlässlich der aktuellen Ausstellung.
Doch bezeugen die Porträts von Walter Schels gerade in ihrer
Konzentration auf das Wesentliche, auf die Physiognomien selbst, ihr
intensives Interesse an ihrem Gegenüber und auch an der Situation, in
der sich dieser befindet. Thomas Macho etwa hat in seiner 2004 in der
NZZ erschienenen Besprechung des Fotobuchs Noch Mal Leben darauf
hingewiesen, dass die Serie nicht nur die »elementare Verknüpfung
zwischen Photographie und Tod« zum Ausdruck bringen würde, sondern auch
eine besondere Würdigung jener Hospize darstellt, in der die Bilder
entstanden sind.
Was Schels' Werk im Kern trifft, das ist die Aussage der Mutter des
damals zehn Monate alten Mathis, den Schels vor 18 Jahren vor einem
schwarzen Tuch fotografiert hat: »Wenn man das anschaut und im Alltag
gefangen ist, sieht man eine Form von Wesentlichkeit.« Das
Wesentlich-Sein, das Den-Kern-Treffen, das sind die grundlegenden Merkmale
der Porträtfotografie von Walter Schels.
Marc Peschke, 1970
geboren, Kunsthistoriker, Autor und Künstler, lebt in Wertheim am Main
und Hamburg. Seit 2008 zahlreiche eigene Ausstellungen im In- und
Ausland.
Die Ausstellung WALTER SCHELS. LEBEN ist noch bis zum 3. Oktober 2019 im Haus der Photographie zu sehen.