Skulptur, Plastik oder Objekt?
9. Oktober 2018
Florian Slotawa, Nummi/Null Null, 2018, Foto: Henning Rogge © Florian Slotawa/VG Bild-Kunst Bonn 2018
9. Oktober 2018
Sie haben eben vermutlich die Überschrift gelesen und gedacht: »Wirklich? Gibt es da einen Unterschied?« Und die Antwort auf diese Frage ist ein klares Jein – denn es kommt ganz darauf an, wann, wie und mit wem Sie sich über dieses Thema unterhalten. Im täglichen Sprachgebrauch benutzen wir vor allem die Begriffe »Plastik« und »Skulptur« synonym und meinen damit entweder die Gattung der Bildhauerkunst im Allgemeinen oder ein plastisches Kunstwerk im Speziellen. Unterhalten Sie sich jedoch auf einer Dinnerparty mit einem Kunsthistoriker, einem Archäologen oder einem Historiker, oder halten Sie einen Fachvortrag zu einem Thema in diesem Bereich, so sollten Sie zumindest über die verwendeten Begrifflichkeiten nachgedacht haben, auch, wenn Sie sich dann – aber bitte bewusst – dagegen entscheiden.
Befragen wir einmal anerkannte Spezialisten für Sprache: Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm aus den Jahren 1854-1961 wird der Begriff »Plastik« folgendermaßen beschrieben: »die bildende kunst, welche die organischen formen selbst körperlich (durch formen, schnitzen, meiszeln, gieszen) hinstellt, im engern sinne die form-, modellierkunst: der hauptzweck aller plastik (…)«. Für den Begriff »Skulptur« genügt ihnen der kurze Eintrag: »bildhauerkunst, bildhauerei,
sculptur« – genial, das Wort »Skulptur« mit demselben Wort zu erklären. Einer leichtgemachten Unterscheidung kommen wir so allerdings nicht näher.
Beobachten wir also den unbewussten Gebrauch der Begriffe: Man spricht gemeinhin von »Marmorskulptur« und von »Bronzeplastik«. Das ist der springende Punkt: Die Technik ist traditionell entscheidend für die Terminologie. Nimmt man während des Entstehungsprozesses eines plastischen Werkes Material weg, wie bei der Bearbeitung von Steinblöcken, so spricht man von Skulpturen. Beispiele dafür sind Michelangelos David oder Luigi Bienaimés Najade nach Antonio Canova. Betrachtet man die Etymologie des Wortes vom lateinischen Verb »sculpere«, was »meißeln« oder »schnitzen« bedeutet, so ist diese Definition einleuchtend. Arbeitet ein Künstler jedoch additiv, das heißt er gestaltet seine Arbeiten durch das Hinzufügen von Material, wie dies zum Beispiel beim Bronzeguss, bei Wachsfiguren oder Kunststoffarbeiten der Fall ist, so spricht man von Plastiken. Klar, denn das Wort leitet sich vom griechischen Wort »πλαστική« beziehungsweise vom lateinischen Begriff »plastica« ab, was »formend« oder »geformt« bedeutet. Beispiele dafür sind Donatellos David oder Rodins Iris – messagère des dieux.
»Unterhalten Sie sich auf einer Dinnerparty mit einem Kunsthistoriker, einem Archäologen oder einem Historiker, sollten Sie über die verwendeten Begrifflichkeiten nachgedacht haben.«
Betrachtet man die Ausarbeitung und die Aufstellungssituation, so gilt es auch hier zwischen Rund- bzw. Freiplastik und Vollplastik zu unterscheiden. Die ersten beiden Begriffe bezeichnen eine von allen Seiten ausgearbeitete, eher freistehende plastische Arbeit wie zum Beispiel ein Reiterstandbild, während eine Vollplastik noch an einen Untergrund oder an eine Architektur gebunden sein kann. Diese Bezeichnungen verwendet man sowohl für Kunstwerke aus Bronze als auch für solche aus Marmor. Genauso spricht man bei skulpturalen Elementen im Bauverbund eher von »Bauplastik« und selten, nur bei großen, eigenständigen figurativen Elementen, von »Bauskulptur«.
Wenn nach dieser Einführung nun alle Unklarheiten beseitigt sind, versuchen Sie nun das eben Erlernte auf Marcel Duchamps Fountain von 1917 oder auf die Stuttgarter Badenden von Pablo Picasso von 1956 zu übertragen. Richtig, es funktioniert nicht mehr. Für die meisten plastischen Werke, die nicht mit den traditionellen Begriffen beschrieben werden können, fand man die Verlegenheitsbezeichnung »Objekt«. Als solches lässt sich auch Duchamps Bestseller bezeichnen – und noch genauer, als »Readymade«, als fertiger, das heißt quasi unveränderter aber zur Kunst erhobener, alltäglicher Gegenstand.
»Für die meisten plastischen Werke, die nicht mit den traditionellen Begriffen beschrieben werden können, fand man die Verlegenheitsbezeichnung »Objekt«.«
Nähme man die Treibholzteile aus der Gruppe der Badenden einzeln und bezeichnete sie als Kunst, so ginge es ebenso vonstatten, nur, dass man diese Objekte nun »Objects trouvés« nennen würde, denn sie wurden ja gefunden.Da Picasso aber eingriff und aus den gefundenen Holzbrettern Figuren entwarf und sie in einer Gruppe arrangierte, kann man hier nun auch nicht mehr von einem einzelnen Objekt sprechen. Am ehesten funktioniert an dieser Stelle der Begriff »Installation« – oder einfach »plastische Gruppe«. Hätte Picasso seine hölzernen Badenden nun überall in einem Raum verteilt, durch den sich der Betrachter hindurchbewegen kann, so wäre ein »Environment«, eine kunstvolle Umgebung für den Besucher, entstanden. Der in der Ausstellung FLORIAN SLOTAWA: STUTTGART SICHTEN ausgestellte Nachbau OBI-Picasso von dem Künstler Florian Slotawa aus gekauften Baumarkt-Objekten ist begrifflich irgendwo zwischen den in diesem Abschnitt genannten Varianten anzusiedeln.
Sie merken schon, dass die strengen Begriffsunterscheidungen spätestens in der modernen und zeitgenössischen Kunst nicht mehr pauschal nach Material, Größe oder Zweck geschehen können, sondern bei jedem Werk individuell definiert – oder sogar ganz neue Begrifflichkeiten entwickelt – werden müssen. Und genau diese Freiheit, gepaart mit der vom Betrachter geforderten Kreativität und Aktivität, macht das Sprechen über plastische Kunst so spannend.
Iris Haist ist promovierte Kunsthistorikerin mit den Schwerpunkten Kunst des Barock und Skulptur der Moderne und der Gegenwart. Sie arbeitet als wissenschaftliche Museumsmitarbeiterin in Albstadt und Köln und ist freiberuflich als Autorin und Bloggerin auf www.arttwo.de tätig.
Die Ausstellung FLORIAN SLOTAWA: STUTTGART SICHTEN – SKULPTUREN DER STAATSGALERIE STUTTGART ist bis zum 20. Januar 2019 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.