Stellt euch mal zusammen!
17. Juni 2021
FOTO: KATHARINA MAYER, FAMILIA © KATHARINA MAYER
17. Juni 2021
Jeder kennt es: das obligatorische Familienfoto. Ob zu Weihnachten, Ostern oder bei Geburtstagen, die Aufforderung zum Verewigen des trauten Beisammenseins gehört zu Familientreffen wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche: »Stellt euch mal zusammen!«. Das eine Familienmitglied eilt freudig herbei, das nächste quittiert die Aufforderung mit einem Murren und ein anderes lässt das Prozedere stoisch über sich ergehen. Das Ergebnis ist fast immer dasselbe: eine Aufreihung von Einzelpersonen in einer tendenziell unnatürlichen Haltung nebeneinanderstehend oder um eine Sitzgelegenheit gruppiert. Und dennoch, man macht es immer wieder.
Was aus der Not an kreativem Feinsinn und zeiteffektivem Nutzen heraus geboren erscheint, geht auf einen Jahrtausende alten Bildtypus zurück. Er hat unsere Auffassung von Familiendarstellungen und somit auch unser alljährliches Foto vor dem Weihnachtsbaum nachhaltig und unwiderruflich geprägt.
Das Bedürfnis, Familie visuell darzustellen, existiert seit Anbeginn unserer Zivilisation. Jedoch erst das Erstarken des niederländischen Bürgertums und die große Beliebtheit des neuen Gruppenporträts machten das klassische Familienbild ab dem 15. Jahrhundert zu einem echten Erfolg. Die Maler*innen arbeiteten nach einem festen Schema: Sie arrangierten die Porträtierten bildfüllend und eng beieinander, aber zugleich mit geringem gestenhaften Bezug zueinander.
Im 17. Jahrhundert erfasste diese beliebte Art der Darstellung sogar
die Bildnisse der Königs- und Adelsfamilien. Kein anderes
Kompositionsmuster eignete sich besser, um familiäre Hierarchien
sichtbar zu machen. Vor allem in Zeiten der Aufklärung versprach das
Kompositionsmuster – zumindest visuell – die Aristokratie zu
legitimieren. Die Darstellung von Befindlichkeiten oder individuellen
Charakterzügen wurde über Bord geworfen. Stattdessen hielten
ermächtigende Attribute und deutungsschwangere Hintergründe Einzug ins
Bild. Zentrale oder erhöhte Positionierungen des Familienoberhauptes
wurden ein Must-Have – eine Entwicklung, die auch dem immer stärker
werdenden Großbürgertum Ende des 18. Jahrhunderts entgegenkam: Nichts
konnte besser das zeitgenössische familiäre Ideal von treusorgender
Ehrlichkeit und Diszipliniertheit darstellen, als das »koordinierte« Herrscherfamilienbild.
Mit der Erfindung der Fotografie fand die Tradition des gemalten
Familienporträts ein jähes Ende. Doch das mittlerweile Jahrhunderte alte
Kompositionsschema blieb bestehen. Die technischen Begebenheiten der
Atelierfotografie wie beispielsweise die lange Belichtungszeit, kamen dem
etablierten gestalterischen Prinzip sogar entgegen. Das Ergebnis war
nun endgültig ein starrer und end-individualisierter Bildtypus. Dieser
stimmte ironischerweise perfekt mit der gesellschaftlich angestrebten
statischen und hierarchischen Kommunikation überein.
Über Jahrhunderte hat sich der Bildtypus des »koordinierten« Familienbildnisses so in unser kollektives Gedächtnis geschlichen. Heute
bestimmt er nicht nur die Dokumentation unserer Familienzusammenkünfte,
sondern regt vor allem auch zeitgenössische Fotograf*innen auf der
ganzen Welt an, die alte Gattung neu zu entdecken.
So unterscheiden sich die Aufnahmen der amerikanischen Fotografin Jamie
Diamond in ihrer Komposition kaum von ihren älteren Vorbildern: in ihr
Sonntagsgewand gekleidet, steht die porträtierte Gruppe bei ihr in einem
repräsentativen Innenraum »koordiniert« und eng beieinander, frontal
zur Kamera, die hierarchischen Strukturen gewohnt betont. Sobald jedoch
das Konzept der Serie offengelegt wird, bekommt die Perfektion Risse: In
angemieteten Hotelzimmern setzt Diamond ihre »Familien« aus
Statist*innen zusammen, die weder miteinander verwandt sind noch sich
gegenseitig kennen. Simpel, aber effektiv führt sie so den
Betrachter*innen vor Augen, wie stark standardisierte Bildtypen ihre
Wahrnehmung beeinflussen.
Die deutsche Fotografin Katharina Mayer
hingegen hat sich das unmöglich erscheinende zur Aufgabe gemacht. Seit
über 20 Jahren sucht die deutsche Fotografin in ihrem Lebenswerk Familia
nach Lösungen, um innerhalb des standardisierten Bildtypus Raum für die
Individualität der porträtierten Familie und den Charakter eines jeden
Porträtierten zu schaffen.
Das Spiel mit den Erwartungen an den alten Bildtypus nimmt bei
einigen zeitgenössischen Fotograf*innen sogar politische Züge an. In
Daniel Schumans Bildern der Serie International Orange wird das »koordinierte« Porträtieren gleichgeschlechtlicher Eltern zu einem
Statement: Nicht Geschlechterrollen, sondern Zuneigung und Fürsorge
definieren die Kleinfamilie.
Neil DaCosta wiederum sendet mit seinen
klassischen Porträts äthiopischer Familien unter Zugabe des Titels Last Family Portrait
eine traurige und allarmierende Botschaft. Aufgrund enormer Wasserarmut
und -verschmutzung, wird die Familie nie wieder in derselben
Konstellation zu einem Foto zusammenkommen können. Leben und Tod
bestimmen auch die Bilder von Lee Ann Olwage und Dario Mitidieri. Beide
brechen ihre stark traditionellen Kompositionen, indem sie anhand eines
leeren Stuhles den Aspekt der Vollständigkeit eines Familienbildnisses
ad absurdum führen. Unmittelbar visualisieren sie, wie
Bandenkriminalität und Kriege ein Loch in die Mitte eines
Familienverbundes reißen.
So wie der Jahrhunderte alte Typus des Familienporträts unsere
heutige Familienfotografie prägt, so hatte er auch einen direkten
Einfluss auf die frühe ethnologische Fotografie. Die spanische
Künstlerin Lucia Herrero führt in ihrer Fotostrecke Tribes
beide Genres zusammen. Das Ergebnis gleicht einer fotografischen Studie,
die zeigt, wie unter der prallen Sonne spanischer Strände Familien den
Folgen der ökonomischen Rezension entfliehen.
Auch Nora Bibel bedient
sich für ihre Serie Family Comes First gezielt der Verbindung
beider Genres. Die deutsche Fotografin wendet das hierarchische
Kompositionsmuster des Kleinfamilienbildes auf die fremde, indische
Großfamilie an. Diese bekannte, westliche Komponente verleitet
automatisch dazu, die Fotografien auf Basis westlicher Normen moralisch
zu werten. Sie erweckt den Eindruck einer Kultur, in der Unabhängigkeit
und Selbstverwirklichung neben dem patriarchalen Oberhaupt kaum möglich
zu sein scheinen.
Ob moralisierende Ausdrucksform, künstlerischer Ansporn oder doch
schlicht die uns geläufigste und daher einfachste Methode, uns als
Familie zu fotografieren: der Jahrtausende alte Bildtypus wird die Art
und Weise, wie wir unsere familiären Banden festhalten, auch zukünftig
prägen. Das gemeinsame Foto beim Familienfest wird jedenfalls so schnell
nicht verschwinden. Vielleicht müssen wir gerade deshalb lernen, den
Wert von Familienfotografie so zu verstehen, wie es uns der chinesische
Fotograf John Clang in seiner Serie Being Together zeigt. Indem
er die von ihm porträtierten Familien per Videochat auf dasselbe Foto
holt, macht er deutlich, dass Familie vor allem eines ist: eine durch
vom Ort losgelöste und durch gemeinsame Zeit verbundene Konstante.
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Paula Michalk studierte Kunstgeschichte in Freiburg im Breisgau und am Courtauld Institute of Art in London. Sie arbeitete für die Sammlung Rosengart in Luzern sowie für Sotheby’s in Frankfurt am Main und London. Nach ihrem Volontariat im Haus der Photographie berät Paula Michalk nun für PwC die deutschen Filmförderungen.
Der Text erschien in veränderter Form im Katalog zur Ausstellung.
Die Ausstellung FAMILY AFFAIRS – FAMILIE IN DER AKTUELLEN FOTOGRAFIE ist bis zum 18. Juli 2021 im Haus der Photographie zu sehen.