FOTO: KATHARINA MAYER, FAMILIA © KATHARINA MAYER

Stellt euch mal zusammen!

Das Familienfoto hat Tradition und folgt seit Jahrhunderten den immergleichen Konventionen. Zeitgenössische Fotograf*innen auf der ganzen Welt zeigen, wie das Format ganz neu entdeckt werden kann. VON PAULA MICHALK

17. Juni 2021

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Jeder kennt es: das obligatorische Familienfoto. Ob zu Weihnachten, Ostern oder bei Geburtstagen, die Aufforderung zum Verewigen des trauten Beisammenseins gehört zu Familientreffen wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche: »Stellt euch mal zusammen!«. Das eine Familienmitglied eilt freudig herbei, das nächste quittiert die Aufforderung mit einem Murren und ein anderes lässt das Prozedere stoisch über sich ergehen. Das Ergebnis ist fast immer dasselbe: eine Aufreihung von Einzelpersonen in einer tendenziell unnatürlichen Haltung nebeneinanderstehend oder um eine Sitzgelegenheit gruppiert. Und dennoch, man macht es immer wieder.

Was aus der Not an kreativem Feinsinn und zeiteffektivem Nutzen heraus geboren erscheint, geht auf einen Jahrtausende alten Bildtypus zurück. Er hat unsere Auffassung von Familiendarstellungen und somit auch unser alljährliches Foto vor dem Weihnachtsbaum nachhaltig und unwiderruflich geprägt.

Das Bedürfnis, Familie visuell darzustellen, existiert seit Anbeginn unserer Zivilisation. Jedoch erst das Erstarken des niederländischen Bürgertums und die große Beliebtheit des neuen Gruppenporträts machten das klassische Familienbild ab dem 15. Jahrhundert zu einem echten Erfolg. Die Maler*innen arbeiteten nach einem festen Schema: Sie arrangierten die Porträtierten bildfüllend und eng beieinander, aber zugleich mit geringem gestenhaften Bezug zueinander.

Clemens Bewer, Johann Wilhelm Janssen (1799-1868) und seine Familie, 1843. Couven Museum, Aachen.

Im 17. Jahrhundert erfasste diese beliebte Art der Darstellung sogar die Bildnisse der Königs- und Adelsfamilien. Kein anderes Kompositionsmuster eignete sich besser, um familiäre Hierarchien sichtbar zu machen. Vor allem in Zeiten der Aufklärung versprach das Kompositionsmuster – zumindest visuell – die Aristokratie zu legitimieren. Die Darstellung von Befindlichkeiten oder individuellen Charakterzügen wurde über Bord geworfen. Stattdessen hielten ermächtigende Attribute und deutungsschwangere Hintergründe Einzug ins Bild. Zentrale oder erhöhte Positionierungen des Familienoberhauptes wurden ein Must-Have – eine Entwicklung, die auch dem immer stärker werdenden Großbürgertum Ende des 18. Jahrhunderts entgegenkam: Nichts konnte besser das zeitgenössische familiäre Ideal von treusorgender Ehrlichkeit und Diszipliniertheit darstellen, als das »koordinierte« Herrscherfamilienbild.

Mit der Erfindung der Fotografie fand die Tradition des gemalten Familienporträts ein jähes Ende. Doch das mittlerweile Jahrhunderte alte Kompositionsschema blieb bestehen. Die technischen Begebenheiten der Atelierfotografie wie beispielsweise die lange Belichtungszeit, kamen dem etablierten gestalterischen Prinzip sogar entgegen. Das Ergebnis war nun endgültig ein starrer und end-individualisierter Bildtypus. Dieser stimmte ironischerweise perfekt mit der gesellschaftlich angestrebten statischen und hierarchischen Kommunikation überein.

Über Jahrhunderte hat sich der Bildtypus des »koordinierten« Familienbildnisses so in unser kollektives Gedächtnis geschlichen. Heute bestimmt er nicht nur die Dokumentation unserer Familienzusammenkünfte, sondern regt vor allem auch zeitgenössische Fotograf*innen auf der ganzen Welt an, die alte Gattung neu zu entdecken.

Nora Bibel, Family Comes First, Suhail, Bangalore, Indien/India, 2014. © Nora Bibel

So unterscheiden sich die Aufnahmen der amerikanischen Fotografin Jamie Diamond in ihrer Komposition kaum von ihren älteren Vorbildern: in ihr Sonntagsgewand gekleidet, steht die porträtierte Gruppe bei ihr in einem repräsentativen Innenraum »koordiniert« und eng beieinander, frontal zur Kamera, die hierarchischen Strukturen gewohnt betont. Sobald jedoch das Konzept der Serie offengelegt wird, bekommt die Perfektion Risse: In angemieteten Hotelzimmern setzt Diamond ihre »Familien« aus Statist*innen zusammen, die weder miteinander verwandt sind noch sich gegenseitig kennen. Simpel, aber effektiv führt sie so den Betrachter*innen vor Augen, wie stark standardisierte Bildtypen ihre Wahrnehmung beeinflussen.

Die deutsche Fotografin Katharina Mayer hingegen hat sich das unmöglich erscheinende zur Aufgabe gemacht. Seit über 20 Jahren sucht die deutsche Fotografin in ihrem Lebenswerk Familia nach Lösungen, um innerhalb des standardisierten Bildtypus Raum für die Individualität der porträtierten Familie und den Charakter eines jeden Porträtierten zu schaffen.

Das Spiel mit den Erwartungen an den alten Bildtypus nimmt bei einigen zeitgenössischen Fotograf*innen sogar politische Züge an. In Daniel Schumans Bildern der Serie International Orange wird das »koordinierte« Porträtieren gleichgeschlechtlicher Eltern zu einem Statement: Nicht Geschlechterrollen, sondern Zuneigung und Fürsorge definieren die Kleinfamilie.

Neil DaCosta wiederum sendet mit seinen klassischen Porträts äthiopischer Familien unter Zugabe des Titels Last Family Portrait eine traurige und allarmierende Botschaft. Aufgrund enormer Wasserarmut und -verschmutzung, wird die Familie nie wieder in derselben Konstellation zu einem Foto zusammenkommen können. Leben und Tod bestimmen auch die Bilder von Lee Ann Olwage und Dario Mitidieri. Beide brechen ihre stark traditionellen Kompositionen, indem sie anhand eines leeren Stuhles den Aspekt der Vollständigkeit eines Familienbildnisses ad absurdum führen. Unmittelbar visualisieren sie, wie Bandenkriminalität und Kriege ein Loch in die Mitte eines Familienverbundes reißen.

Dario Mitidieri, Lost Family Portraits, Mohammed’s Family, Bekaa Valley, Libanon/Lebanon, 2015. © Dario Mitidieri

So wie der Jahrhunderte alte Typus des Familienporträts unsere heutige Familienfotografie prägt, so hatte er auch einen direkten Einfluss auf die frühe ethnologische Fotografie. Die spanische Künstlerin Lucia Herrero führt in ihrer Fotostrecke Tribes beide Genres zusammen. Das Ergebnis gleicht einer fotografischen Studie, die zeigt, wie unter der prallen Sonne spanischer Strände Familien den Folgen der ökonomischen Rezension entfliehen.

Auch Nora Bibel bedient sich für ihre Serie Family Comes First gezielt der Verbindung beider Genres. Die deutsche Fotografin wendet das hierarchische Kompositionsmuster des Kleinfamilienbildes auf die fremde, indische Großfamilie an. Diese bekannte, westliche Komponente verleitet automatisch dazu, die Fotografien auf Basis westlicher Normen moralisch zu werten. Sie erweckt den Eindruck einer Kultur, in der Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung neben dem patriarchalen Oberhaupt kaum möglich zu sein scheinen.

Ob moralisierende Ausdrucksform, künstlerischer Ansporn oder doch schlicht die uns geläufigste und daher einfachste Methode, uns als Familie zu fotografieren: der Jahrtausende alte Bildtypus wird die Art und Weise, wie wir unsere familiären Banden festhalten, auch zukünftig prägen. Das gemeinsame Foto beim Familienfest wird jedenfalls so schnell nicht verschwinden. Vielleicht müssen wir gerade deshalb lernen, den Wert von Familienfotografie so zu verstehen, wie es uns der chinesische Fotograf John Clang in seiner Serie Being Together zeigt. Indem er die von ihm porträtierten Familien per Videochat auf dasselbe Foto holt, macht er deutlich, dass Familie vor allem eines ist: eine durch vom Ort losgelöste und durch gemeinsame Zeit verbundene Konstante.

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Paula Michalk studierte Kunstgeschichte in Freiburg im Breisgau und am Courtauld Institute of Art in London. Sie arbeitete für die Sammlung Rosengart in Luzern sowie für Sotheby’s in Frankfurt am Main und London. Nach ihrem Volontariat im Haus der Photographie berät Paula Michalk nun für PwC die deutschen Filmförderungen.

Der Text erschien in veränderter Form im Katalog zur Ausstellung.

Die Ausstellung FAMILY AFFAIRS – FAMILIE IN DER AKTUELLEN FOTOGRAFIE ist bis zum 18. Juli 2021 im Haus der Photographie zu sehen.


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