© MATT BLACK/MAGNUM PHOTOS

Stiller Stolz

Für Menschen in prekären Lebensverhältnissen hat sich die Fotografie schon immer interessiert. Wie lässt sich Armut fotografieren, ohne dass die Würde der Protagonist*innen aus dem Blick gerät? VON MARC PESCHKE

2. Dezember 2020

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Die sozialdokumentarische Fotografie hat eine lange Tradition. Von Beginn an interessierten sich Fotograf*innen für die Lebenssituationen von Menschen, die in prekären Verhältnissen leben. Ihr Ziel ist es dabei vor allem aufzuklären, die Unterschiede zwischen Armut und Wohlstand oder gesellschaftlichen Widersprüchen aufzuzeigen. Im 21. Jahrhundert erlebt die dokumentarische, sozialkritische Fotografie eine Renaissance. Zu offensichtlich offenbart sich in diesen Tagen die Kehrseite des Kapitalismus. Zu beschämend sind die Ungerechtigkeiten, als dass Fotograf*innen diese ignorieren könnten.

Zeitgenössische Fotograf*innen wie der 1970 geborene US-Amerikaner Matt Black, dessen Projekt AMERICAN GEOGRAPHY aktuell in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen ist, stehen in der Tradition des Dokumentarismus der 1930er-Jahre. Seine Bilder zeigen Menschen am Rande ihrer Existenz. Für AMERICAN GEOGRAPHY reiste der Fotograf über 100.000 Meilen durch 46 Bundestaaten der USA und besuchte dort Gemeinden, deren Armutsquote über 20 Prozent liegt. Seine großformatigen, quadratischen Schwarz-Weiß-Bilder überwältigen nicht nur mit ihrer Thematisierung von Resignation, Armut und Chancenlosigkeit, sondern auch durch ihre ästhetische Präsenz.

In seltener Präzision und im großen Format zeigt Black die systemimmanente Armut. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten existiert in seinen Bildern nicht mehr. Black fotografiert seine Protagonist*innen inmitten ihres Leids und ihrer Resignation, zeigt die vergeblichen Kämpfe, die sie in ihrem Leben geführt haben. Seine Bilder sind ohne Hoffnung, aber nicht ohne Empathie für sein Gegenüber. Auch Stolz und Größe sind in seinen Bildern zu sehen.

Matt Blacks Fotografien sind ohne das Werk seines Landsmannes Walker Evans, einem der prägendsten Dokumentarfotografen des 20. Jahrhunderts, kaum zu denken. Die Kehrseite des amerikanischen Traums steht auch bei ihm im Mittelpunkt. Evans Bilder von der Lebenssituation armer Farmer während der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre machten den Fotografen schlagartig berühmt. So zeigte das Museum of Modern Art mit der Ausstellung Walker Evans: American Photographs die erste Einzelschau eines Fotografen.

Evans Fotografien entstanden zwischen 1935 und 1938 im Auftrag der US-Regierung in den Südstaaten der USA. Die New Deal Resettlement Administration, später in Farm Security Administration umbenannt, hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu dokumentieren. Es sind vor allem drei Farmerfamilien, die Evans in seinen Bildern porträtiert hat.

Das wohl berühmteste Bild der mit einer Großformatkamera aufgenommenen Werke ist das Porträt der Farmerin Alli Mae Bourroughs. Ein nüchternes Porträt – zumindest auf den ersten Blick. »Wenn ich zurückschaue, würde ich meinen Stil als reine Fotografie bezeichnen: unkünstlerisch und nicht schön«, so formulierte Evans. Doch hinter der »reinen Fotografie« wird das Schicksal einer ganzen Familie spürbar: Die Bourroughs waren vollkommen mittellos und verelendet – einen Großteil ihrer Einkünfte durch die Baumwollernte musste die Familie an den Großgrundbesitzer abgetreten werden. Doch es ist nicht die Armut, die das Bild von Walker Evans bestimmt.

Auch wenn das Bild zum ikonischen Motiv der sogenannten »Great Depression« geworden ist, wird es bis heute als Dokument von Würde und Stärke wahrgenommen. Es ist seine Ehrlichkeit, seine Nüchternheit, die uns bis heute fasziniert. In der schonungslosen Darstellung der Lebensumstände liegt die karge Schönheit des Bildes.

Roger Ballen, geboren 1950 in New York, interessiert sich mehr für die Details der Armut. Über seinen südafrikanischen Interieurs liegt stets eine dicke Schmutzschicht. Das einfache Mobiliar der Häuser ist ramponiert, die Polster sind zerschlissen, die Betten zugemüllt. Auch die Menschen starren vor Schmutz: Er sitzt unter den Fingernägeln, auf ihrer Kleidung, an ihren Füßen.

Bekannt wurde Ballen mit seinen schwarzweißen Baryt-Abzügen, welche die Menschen der »Dorps«, der Kleinstädte Südafrikas und die Menschen des »Platteland« zeigen. Seit 1981 war Ballen in Johannesburg als Geologe tätig und entdeckte auf seinen Fahrten jene dörflichen Gemeinden, in denen bis heute Nachfahren der Buren leben. Ihre alltägliche Armut steigert sich in der bühnenartigen Inszenierung zum expressiven Trauerspiel. Ein Altwarenhändler steht auf einer zerrissenen Matratze aus Schaumstoff und betrachtet die Welt auf dem Globus: Zwischen Faktum und Fiktion inszeniert Ballen seine Bilder – der Fotograf arrangiert das Gefundene nach seinen Maßstäben. So agieren die Menschen meist auf ähnlichen Bühnen: Vor schmutzigen Wänden, vor Familienbildern, förmlich an die Wand gedrängt im Schlafanzug mit Hundewelpen starren sie in die Kamera und werden so zum Mittelpunkt einer Groteske mit ungewissem Ausgang.

Häufig wurde Ballen vorgeworfen, er nutze die Ausweglosigkeit der Gezeigten für seine Zwecke und führe voyeuristisch jene vor, die am Rande der Gesellschaft vegetierten. Doch auch wenn Ballen die dunklen Randzonen des Mensch-Seins in der Tradition von Diane Arbus in gleißendes Licht taucht, so können die Menschen seiner Bilder doch auf die Sympathie des Fotografen hoffen. Ihm zu Ehren posieren sie vor der schmutzigsten Kulisse, vor dem wenigen Hab und Gut, das ihnen geblieben ist.

In Peter Bialobrzeskis Fotobuch Case Study Homes, für das der Fotograf im Rahmen eines Projektes in Manila fotografiert hat, geht es ebenfalls um Armut. Case Study Homes enstand in Baseco, einer Slum-Siedlung zwischen zwei Containerterminals unweit der schicken Uferpromenade in Manila. Ein Ort der Not mit Platz für etwa 70 000 Menschen, die sich hier ihr Zuhause schaffen. Diese auf Stelzen stehenden Behausungen sind aus dem Müll der Zivilisation gebaut: Euro-Paletten, Wellblech, Plastikplanen, Wahlplakate, Schwemmgut, Kartons und Mülltüten zeigen die Kehrseite des globalen Wachstums. Im Baseco leben vor allem Arbeitsmigrant*innen aus der philippinischen Provinz, die ihre Heimat in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen haben.

Diese Bilder aus einem Elendsviertel – deren Sichtung zeitlich mit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank und der Weltwirtschaftskrise zusammenfiel – sind in ihrer Haltung nicht ganz eindeutig. »Manche der Häuser kommen mir vertraut vor, wie ein Gesicht, das sich vor langer Zeit in die Erinnerung geschlichen hat«, sagt Peter Bialobrzeski.

Die Bilddokumente der amerikanischen »Great Depression«-Fotograf*innen Walker Evans, Dorothea Lange oder Arthur Rothstein zeigen ähnlich karge Architekturen. Rothsteins berühmtes Bild eines Mannes, der sich mit seinen Söhnen gegen einen Sandsturm stemmt, zählt Bialobrzeski selbst zu den großen Vorbildern seiner Case Study Homes.

Peter Bialobrzeski, Case Study Homes, 2008 © Peter Bialobrzeski

Die Bilder des südafrikanischen Fotograf Pieter Hugo hingegen sollen weh tun. Seine Serie Permanent Error erinnert an ein Problem, das wir gerne verdrängen: Was passiert eigentlich mit unserem ganzen Elektroschrott und dem Abfall der Industrienationen? Er wird nach Afrika verschifft, wie etwa nach Ghana, wo Pieter Hugo diejenigen zeigt, denen der Technik-Müll noch etwas Geld einbringt.

Agbogbloshie ist der Name jenes Ortes, an dem sich eine der größten Elektroschrottdeponien der Welt angesiedelt hat. Sie befindet sich ganz in der Nähe der ghanaischen Hauptstadt Accra. »Die Mehrzahl der Computer, die in Europa und den USA weggeworfen werden, landen auf dieser Müllhalde«, sagte Pieter Hugo. Es ist ein apokalyptischer Ort, die Kloake der westlichen Welt. Die Landschaft wirkt, mal abgesehen von den alten Computern, die überall herumliegen, mittelalterlich, wie aus einer anderen Ära.

Hugos Bilder verbreiten Endzeit-Stimmung. Wir sehen Menschen, die Festplatten und Elektronikteile entzünden, um wiederverwertbare Rohstoffe zu gewinnen. Sie suchen nach Kupfer, Stahl, Aluminium und Blei, scharren dafür inmitten von Rauchschwaden, atmen giftige Dämpfe ein. Dazwischen haben sich einige Kühe verirrt, die nach Essbarem suchen. Tausende von Menschen verdienen ihr Geld auf diesem Schrottplatz, in dem sie Rohstoffe freilegen und diese an Schrotthändler weiterverkaufen. Schutz vor den giftigen Materialien und Dämpfen der ausrangierten Rechner und Alt-Handys können sich die meisten von ihnen schlichtweg nicht leisten.

Pieter Hugo, Untitled, Agbogbloshie Market, Accra, Ghana, 2010 © Pieter Hugo,

Es sind die Extreme und bizarren Situationen, die Pieter Hugo anziehen. Hugo zeigt Bilder der Armut, aber gleichzeitig auch den starken Überlebenswillen des Einzelnen. Viele der Bilder in Permanent Error sind auf paradoxe Art schön, auch wenn Menschen in schwarzen Giftwolken stehen. Es ist ein Albtraum, der Realität geworden ist.

Alle hier genannten Fotografen blicken unterschiedlich auf das Thema Armut. Was sich in den Selbstzeugnissen der Bildautoren wiederholt, ist der Wunsch, dem Leid ein Gesicht zu geben. Viele der Bilder zeigen das Einzelschicksal und deren Lebensverhältnisse, widmen sich den dringlichen Themen sozialer Ungleichheit. Zwischen nüchterner Dokumentation, provokativer Darstellung und emphatischer Anklage changieren die fotografischen Blickwinkel. Doch sie alle eint der Wunsch nach Veränderung.

Marc Peschke, 1970 geboren, Kunsthistoriker, Autor und Künstler, lebt in Wertheim am Main und Hamburg.

Die Ausstellung MATT BLACK – AMERICAN GEOGRAPHY ist noch bis zum 7. Februar 2021 im Haus der Photographie zu sehen.


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