Walter Schels, Jana, 2015 © Walter Schels

Subtile Metamorphosen

Seit sechs Jahren fotografiert Walter Schels für seine Langzeitstudie »Transsexuell« junge Transmädchen und -jungen. Die sensiblen Porträts zeigen den Prozess des Einswerdens mit sich selbst VON BEATE LAKOTTA

19. September 2019

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Leonie war das erste Transmädchen, das Walter Schels im Herbst 2013 in seinem Studio besuchte. Sie war in Begleitung ihrer Mutter gekommen, es war frühabends, wir saßen zusammen am großen Tisch, Walter servierte Kaffee und Kekse. Es ging darum, sich gegenseitig kennenzulernen, ein Gefühl füreinander zu bekommen. Zuvor hatte ein gemeinsamer Freund, ein Arzt, Walter gefragt, ob er Lust habe, die Entwicklung einiger seiner Patienten zu dokumentieren. Als Hormonexperte behandelt der Freund seit vielen Jahren transsexuelle Jugendliche. Jungen, die als anatomisches Mädchen zur Welt gekommen sind, und Mädchen wie Leonie, die als anatomische Jungen geboren sind. Er hilft ihnen, ihren Körper ihrem als richtig empfundenen Geschlecht anzugleichen.

Was der Arzt erzählte, weckte unsere Neugier. Walter, der Porträtanfragen aller Art seit vielen Jahren fast durchgehend ablehnt, wollte sich auf dieses Langzeitprojekt einlassen. Die Idee war, die Transformation vom anatomisch angeborenen zum »richtigen« Geschlecht in bestimmten Zeitabständen fotografisch festzuhalten. Die Jugendlichen, die aus ganz Deutschland mit ihren Eltern zu ihrem Endokrinologen nach Hamburg anreisten, würden fortan an den Arzttermin mit dem Besuch beim Fotografen verbinden, so war es gedacht. Natürlich würden die Eltern beim Fotografieren dabei sein und müssten auch ihr Einverständnis geben, schließlich sind alle Porträtierten anfangs minderjährig.

Wenig später stand Leonie, damals 14 Jahre alt und körperlich noch zu hundert Prozent männlich, zum ersten Mal vor Walters Kamera. Zunächst machte Walter seine charakteristischen Porträts – Schwarzweiss, Mittelformat, en face, direkter Blick, wenig Mimik. Danach überließ er Leonie die Regie. Leonie strahlte selbstbewusst in die Kamera, verwuschelte ihre Korkenzieherlocken, probierte Posen aus, von niedlich bis Drama Queen. Ihr damaliger, altersangemessener Berufswunsch: Schauspielerin oder Model.

Als Leonie und ihre Mutter wieder gegangen waren, blieben Walter und ich verblüfft zurück. Hätten wir Leonie getroffen, ohne ihre Geschichte zu kennen, niemals wären wir auf die Idee gekommen, dass sie etwas anderes sein könnte als – ein Mädchen.

Mittlerweile umfasst die Serie, an der Walter weiterhin arbeitet, Porträts von fast 30 Transmädchen und -jungen. Die jüngste Teilnehmerin war zum Zeitpunkt der ersten Aufnahme elf Jahre alt, der Älteste, Lias, ist heute 21. Der Moment der Verblüffung bei der ersten Begegnung ist gleich geblieben: Ben, Leonie, Felix, Fynn, Sofia, Marie – sie alle wirken völlig authentisch. Kleidung, Körpersprache, Redeweise. Transmädchen legen mädchenhaft den Kopf schräg, Transjungen stellen sich erst mal mit verschränkten Armen vor die Kamera.

Es ist, in formaler Hinsicht, eine konservative Fotografie: Zehn Mädchengesichter, zehn Jungengesichter, die ohne zu lächeln in die Kamera schauen. Ein gleichmäßiges, flaches Licht, das den Charakter dieser Serie bestimmt – wie den der meisten Serien, die Walter Schels fotografiert hat. Was soll also das Besondere an diesen Bildern sein? Die meisten Betrachter sind zunächst ratlos. Erst wenn sie erfahren, was sich hinter den Porträts verbirgt, sind sie überrascht, irritiert und anschließend oft berührt. Viele fragen nach der »Vorher-Nachher-Systematik« in der Serie. Sie erwarten, dass die Entwicklung von einem Geschlecht zum anderen in der äußeren Erscheinung klar erkennbar sein müsse. Doch genau das ist bei diesen jungen Menschen nicht der Fall; es sind subtile Metamorphosen.

Die meisten waren schon lange vor Beginn der Behandlung äußerlich nicht dem Geschlecht zuzuordnen, das in ihrem Ausweis verzeichnet war. Manche waren das nie. Eltern berichten von erbitterten Kämpfen mit Dreijährigen vor dem Kleiderschrank oder vor dem Friseurbesuch.

Zum Projekt gehören ausführliche Interviews mit den Porträtierten, die wir auf Video aufzeichnen. In all diesen Gesprächen kehrt als Motiv die frühe Gewissheit wieder, im falschen Körper zu stecken. Fast alle berichten von einer Zeit, in der sie annahmen, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, dem dieses Schicksal widerfährt. Bis sie irgendwann erfuhren, dass ihr Lebensgefühl einen Namen hat: Transsexualität.

Viele Transkinder berichten von Scham und Geheimhaltung, von Schuldgefühlen und Suizidgedanken. Manche Geschichten sprengen die Familie. Die meisten Transkinder teilen fundamentale Erfahrungen: Sie erleben, wie sich Freunde abwenden. Sie leiden unter Hänseleien auf dem Schulhof, Demütigungen im Sportverein, dem bürokratischen Hindernislauf bei den Ämtern. Natürlich kommt in allen Interviews, die wir aufzeichnen, früher oder später die Rede auf das Schultoilettenproblem, den Einsatz von Gummibusen und Kompressionswäsche, Brustamputationen und den Aufbau von Pseudopenissen. Viele berichten, dass sie sich wegen ihrer »falschen« äußerlichen Merkmale nicht ins Schwimmbad trauen. Häufig kreisen ihre Gedanken um chirurgische Fragen. Für viele ist die große, geschlechtsangleichende Operation, die in Deutschland erst nach dem 18. Geburtstag stattfinden kann, ein Zielpunkt ihres Lebens.

Viele erzählen aber auch von der beeindruckenden Solidarität ihrer Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer, Mitschüler. Von der Offenheit ihrer Umgebung, die sie umso mehr beglückt, weil sie damit nicht gerechnet hatten. Manchmal kommen ganze Familien mit zum Fototermin, und Walter und ich sind jedes Mal berührt vom starken Zusammenhalt, den sie ausstrahlen.

Vor nicht allzu langer Zeit war Transsexualität noch ein Tabu. Heute ist es ein Medienthema. Betroffene wagen sich an die Öffentlichkeit. Sie wollen sich nicht länger verstecken. Und ihre Erfahrungen und Geschichten stoßen auf Interesse. Die Bilder, die in diesem Zusammenhang entstehen, unterscheiden sich stark in ihren fotografischen Ansätzen. Bettina Rheims beispielsweise hat vor einigen Jahren eine Serie mit Porträts von Transmenschen fotografiert. Die Teilnehmer wurden dafür weltweit gecastet. Rheims zeigt sie als schrille Protagonisten in einer schillernden Welt, viel nackte Haut, erotisch aufgeladene Gesten.

Mit der Realität der Jugendlichen, die sich von Walter porträtieren lassen, hat das wenig zu tun. Sie sehnen sich nicht nach einem Leben als Freak am Rand der Gesellschaft, sondern nach Normalität – ein bürgerlicher Beruf, Partnerschaft, Kinder. Aber sogar das Sprechen über das Thema kann manchmal kompliziert sein: Viele mögen den Begriff »transsexuell« nicht, weil darin die Silbe »sex« steckt. Im Englischen bezeichnet »sex« das anatomische Geschlecht; im deutschen Sprachraum denkt man dabei unwillkürlich an etwas Sexuelles. Dadurch bekommt diese Bezeichnung aus Sicht der Betroffenen etwas Voyeuristisches, Übergriffiges. Sie verfehlt in gewisser Weise auch den Kern der Problematik von Transmenschen, denn diese betrifft nicht vorrangig ihre Sexualität, sondern ihre Identität. Manche bezeichnen sich deshalb lieber als »Transgender« – was man aber auch sein kann, ohne eine körperliche Transformation zu durchleben.

Allen stellen wir die Frage, was es verändern würde, wenn es diese Möglichkeit nicht gäbe. Eine typische Antwort: »Ich würde dann vielleicht nicht so lange leben.« Alle haben den Wunsch, sich nicht verstecken zu müssen, sondern mit ihrer Geschichte Anerkennung und Akzeptanz zu finden – nicht zuletzt von einem Lebenspartner. Für einige hat sich dieser Wunsch schon erfüllt. Aber dass sich nach einem Outing als Transmensch die Neugier Anderer darauf richten könnte, wie es unter dem Pullover oder in der Hose aussieht, ist für die meisten keine angenehme Vorstellung

Dieser Art von Neugier verweigert sich die Serie Transsexuell konsequent. Die Porträtierten entscheiden selbst, wie sie sich zeigen wollen, und wenn ja, in welchem Moment. Einigen ist es wichtig, Etappen ihrer körperlichen Transformation zu dokumentieren. Für Walter stand aber fest, dass er niemanden bitten würde, den Pulli auszuziehen. Nicht nur als Porträtist ist er diskret. Zugleich verfolgt er in seinen Arbeiten ein anderes, klar definiertes Interesse, ganz gleich, ob es dabei um Neugeborene, Blinde oder Prominente wie Angela Merkel, Andy Warhol oder den Dalai Lama geht, oder sogar um ein tierisches Gegenüber: Immer stellen seine Porträts Fragen nach Identität, Bewusstsein, Persönlichkeit. Was ist der Wesenskern eines Menschen? Warum ist er so und nicht anders? Welche Möglichkeiten hat er? Wo sind seine Grenzen?

Dieses Interesse ist bei Walter biographisch gewachsen und begründet. Das Thema der Selbstablehnung sei ihm durchaus vertraut. Wir sitzen alle im gleichen Boot, so sieht er das. Vielleicht liegt in dieser empathischen Haltung der Schlüssel für die frappierende Nähe, die viele Betrachter in Walters' Bildern entdecken. In seinen Serien konzentriert er sich ganz auf die Beziehung zu seinem Gegenüber. Seine Studioaufnahmen entstehen vor schwarzem Hintergrund, aus geringer Distanz, mit direktem Blickkontakt. Durch das Objektiv der Kamera treten die Betrachter mit den Porträtierten in Dialog. Bei einem Künstlergespräch sagte eine Frau im Publikum neulich, wenn sie Walters‘ Porträts der transsexuellen Jugendlichen betrachte, komme es ihr vor, als verschwimme dabei die Grenze zwischen Ich und Du.

Die meisten Teilnehmer und ihre parallele Entwicklung von Physiognomie und Persönlichkeit begleiten wir nun schon mehrere Jahre. Regelmäßig berichten sie uns vom schwierigen Prozess des Einswerdens mit sich selbst. Oftmals scheint er zu glücken.

Beate Lakotta arbeitet seit 1995 beim SPIEGEL, über viele Jahre berichtete sie im Wissenschaftsressort über Psychologie, Neurowissenschaften und Medizinethik. Seit 2010 ist sie Gerichtsreporterin beim Nachrichtenmagazin. Zusammen mit Walter Schels realisierte sie als Autorin mehrere Projekte. International rezipiert wurde ein Langzeitprojekt, für das Schels und Lakotta Hospizpatienten begleiteten und sie vor und nach dem Tod porträtierten. Walter Schels und Beate Lakotta sind verheiratet, sie leben in Hamburg.

Die Ausstellung WALTER SCHELS. LEBEN ist noch bis zum 3. Oktober 2019 im Haus der Photographie zu sehen.


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