FOTO: © JACK DAVISON

Unheimliche Schönheit

Ein abgebranntes Streichholz, ein Gesicht im Spiegel: Der Fotograf Jack Davison findet das Surreale im Alltäglichen, seine geheimnisvollen Bilder verwischen die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt. VON MAGNUS PÖLCHER

16. Dezember 2021

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Ein zur Hälfte abgebranntes Streichholz liegt gekrümmt auf einer weißen Untertasse, während sein noch intakter Stiel über den weißen Untergrund hinausragt. Dabei wirkt das verkohlte Streichholzkopf gebrechlich, ähnelt eher einem nach vorn gebeugten Greis, der den Kopf hängen lässt. Wie oft haben wir ein solch verbranntes Streichholz schon einfach weggeworfen, ohne seine vergängliche Schönheit zu sehen, die Gestalten zu erkennen, die es annehmen kann?

Es ist eines der ersten Bilder, dass uns begegnet, wenn wir die Ausstellung des britischen Fotografen Jack Davison im PHOXXI, dem temporären Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg, betreten. Die Motivik des Rätselhaften, das uns in den Bann zieht, wird von Beginn an als ein übergeordnetes Narrativ etabliert. Schwarzweiß-Bilder wechseln sich mit Arbeiten ab, in denen klare Farbakzente gesetzt werden. Straßenszenen von cineastischer Qualität treffen auf expressive Gesten und mysteriöse Porträts.

Geboren 1990 und aufgewachsen im Südosten Englands begann Davison bereits als Jugendlicher seine Familie und sein persönliches Umfeld zu fotografieren. Als Inspirationsquelle diente ihm unter anderem die Online-Foto-Community Flickr, auf der er die Arbeiten berühmter Fotograf*innen entdeckte und sich mit ihren Bildkompositionen beschäftigte.

Reichhaltig sind daher auch die visuellen Zitate und künstlerischen Stilmittel, die wir heutzutage in seinen Fotografien finden können: von Reminiszenzen an die Porträtfotografie von Man Ray über Bildkompositionen, die das künstlerische Werk des surrealistischen Großmeisters Salvador Dalí aufgreifen, hinzu fotografischen Verweisen auf Ikonen der Fotografiegeschichte wie Saul Leiter, Irving Penn oder Diane Arbus.

Die künstlerischen Strategien seiner Vorbilder macht er sich gekonnt zu eigen, spielt dabei gezielt mit Déjà-vu-Effekten und zeigt dennoch nie zuvor Gesehenes.

Als Absolvent der englischen Literaturwissenschaft an der Universität Warwick überrascht dieses dezidierte Wissen über die Ikonen der Kunstgeschichte. Sein Selbststudium der Fotografie hatte jedoch durchwegs einen positiven Einfluss auf sein fotografisches Schaffen. »Ich denke, der Vorteil meines Literaturstudiums war, dass es mir einen Abstand zu der Fotografieindustrie gegeben hat. Dadurch hatte ich ohne Druck Zeit zum Experimentieren und Spielen mit dem Medium«, sagt Davison. Gleichzeitig hat ihn der Londoner Fotograf Brett Walker seit vielen Jahren als Mentor begleitet und ihn dabei unterstützt seinen eigenen Stil zu entwickeln.

Diese Experimentierfreude, die sich Davison in den vergangenen Jahren angeeignet hat, sieht man seinen vielschichtigen Arbeiten an: mal hält er Gegenstände wie eine kleine Glasscheibe vor die Linse, um in die Bilder eine visuelle Struktur einzuschreiben, manchmal entstehen seine stilprägenden Verfremdungseffekte durch erneutes Drucken und Abfotografieren von vorhandenen Bildmaterial. Davison vertraut dabei auf seine Intuition: »Ich versuche immer so zu arbeiten, dass ich nicht alle Elemente zu 100 Prozent unter Kontrolle habe. Denn oft bringt das, was ich nicht beeinflussen kann, wie zum Beispiel das natürliche Licht oder die Bewegung einer Person, das stärkste Element ins Bild.«

Durch diese künstlerischen Versuchsanordnungen gelingt es Davison Fotografien zu schaffen, die das Surreale im Alltäglichem finden und in ein visuelles Kondensat verwandeln. Seine Bilder überraschen dabei, wie sie in einem Moment unsere Realität verschleiern oder verzerren, um sie im nächsten durch klare, scharfe Details zu enthüllen. So verschwimmen in seinen Bildwelten die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Vorstellungskraft, zwischen Realität und Traumwelt. »Ich bin nur eine ‚diebische‘ Elster für bestimmte Zwischenmomente, sei es das Aufblitzen des Surrealen, die Schönheit eines schlichten Porträts oder eine spontane Straßenszene.«

So ist jedes Bild ein Faszinosum für sich selbst. Aus eleganten Schwanenhälsen formt er abstrakt-mystische Fabelwesen, Satelliten sprießen wie Pilze aus Gebäuden. Oftmals verschieben sich durch die gewählten Bildausschnitte die Proportionen der abgebildeten Objekte – ein mit Regentropfen bedeckter Mantel verwandelt sich vor unseren Augen in einen Bergrücken. An anderer Stelle versetzt uns eine überdimensioniert wirkende Hand in die Rolle von Wahrsager*innen – anhand der Handlinien versuchen wir uns den dazugehörigen Menschen zu erschließen. Manchmal werden seine Porträts auch zu abstrakten Puzzles, die mit Geduld zusammengefügt werden müssen, ohne viel über das fotografierte Subjekt preiszugeben.

Wer Jack Davisons Bilder ansieht, denkt zwangsläufig auch über Gefühle und Assoziationen nach, die sie bei uns als Betrachter*innen auslösen. Jedes Bild erzählt eine eigene Geschichte, in die wir hineingesogen werden. Neben der Faszination und dem Erstaunen über diese rätselhafte Bildwelt, ist es ein Gefühl des Unheimlichen, welches uns überkommt. Wie in einer Traumwelt lösen Davisons Bilder widersprüchliche Sinneseindrücke und Gefühle aus.

Da zieht dann ein geisterhafter Schattenriss plötzlich an uns vorbei, der sich beim genaueren Hinsehen als ein vorbeilaufender Hund entpuppt. »Ich denke nicht, dass ich Betrachter*innen verunsichern will. Jedoch mag ich die Idee des Unheimlichen oder besser gesagt ein Element des Unbekannten,« beschreibt Davison die Ambivalenz seiner Bilder. »Mir gefällt es, wenn sich Gefühle bei den Besucher'innen entfalten können. Wenn sie bei der ersten Betrachtung eines Bildes auf dem falschen Fuß erwischt werden, so dass bei ihnen zunächst ein bestimmtes Gefühl hervorgerufen wird, das sich aber bei näherer Betrachtung verändern kann.«

Zum Ende der Ausstellung rankt sich erneut ein verkohltes Streichholz in die Bildmitte. Da ist es wieder – jenes Déjà-vu-Erlebnis, das die Arbeiten von Davison auszeichnet. Sein Schatten wirkt fast wie eine Verästelung. Eine schwarze, langstielige Blume entfaltet sich vor unseren Augen. Dasselbe fotografische Objekt erzeugt hier einen neuen Assoziationsraum und stellt die Fragen, wie es Davison gelingt, dass in seinem Werk ein solch lebloser Gegenstand wie ein Streichholz plötzlich so beseelt erscheint?

Es gehört zur Kunst von Davison, nur wenig über die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Arbeiten bekannt werden zu lassen. Sie sollen ihre geheimnisvolle Aura behalten, damit die Betrachter*innen ihre eigene Interpretation dieser Bilderwelten anstellen können.

Als Inspiration dient Davison der Essay Der Tod des Autors des französischen Autors Roland Barthes. »Darin geht es im Wesentlichen darum, Autor*innen und ihre Biographien von ihrem Text zu trennen. Dadurch wird der Text von der Entstehungsgeschichte befreit und eröffnet unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Was meine Fotografien betrifft, möchte ich ebenso, dass Menschen jedes Bild ohne dessen Entstehungsgeschichte betrachten können, da dieser Kontext für mich nicht wichtig ist und in meinen Augen sogar von dem Bild ablenken würde.«

Jack Davisons Fotografien offenbaren uns eine unbekannte Dimension der Welt, jedoch lässt er sie uns selbst erkunden, entschlüsseln und kartieren.

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Magnus Pölcher ist Absolvent der Bildredaktionsklasse 2017/18 an der Ostkreuz-Schule für Fotografie in Berlin. Er arbeitet für C/O Berlin und schreibt u.a. für LensCulture über Fotografie. Für das HALLE4-Magazin betreut er die Kolumne #photography2050.

Die Ausstellung JACK DAVISON. OMER FAST. FRIDA ORUPABO ist bis zum 30. August 2020 im Haus der Photographie zu sehen.

Alle Fotos: © Jack Davison


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