Verwundete Erde
10. Februar 2020
Foto: © Paolo Pellegrin / Magnum Photos / Agentur Focus
10. Februar 2020
Mossul. Beirut. Kukes. Gaza. Lesbos. Es sind wounded places, verwundete Orte, die Paolo Pellegrin seit bald 30 Jahren fotografiert. Orte, an denen Menschen einander töten, Häuser verwüsten und Ölfelder in Brand setzen. Orte, an denen Männer, Frauen, Kinder verletzt, vernarbt, verstümmelt überleben – wenn sie denn überleben. Pellegrin dokumentiert die Auswirkungen von Hass, Gewalt und Zerstörung, zeigt Opfer und Täter, meist in kontrastreichem Schwarz-weiß und so intensiv, dass man glaubt, die Schreie der Menschen zu hören, die Einschläge der Granaten, die Maschinengewehrsalven, die Polizeisirenen.
Zu den vielen Konfliktherden, an die der Magnumfotograf reist, ist vor drei Jahren ein weiterer hinzugekommen: die Antarktis. Damals begleitete Pellegrin die Piloten der NASA bei ihrer jährlichen IceBridge-Expedition, bei der der Zustand des Polareises vermessen wird, um die Auswirkungen des Klimawandels besser zu verstehen. Fakt ist: Der westantarktische Eisschild erfährt eine Erwärmung, was einen erheblichen Verlust an Eismasse und damit einen Anstieg des Meeresspiegels zur Folge hat.
»Seit vielen Jahren fotografiere ich das, was der Mensch dem Menschen antut«, so der 55-jährige. »Die sich erwärmende Antarktis ist – in einer anderen Größenordnung und einem anderen Umfang – ein weiterer Konflikt. Zwar ist der Mensch hier nicht vor Ort, doch er hat den Klimawandel verursacht: Durch endloses Wachstum, das keine Grenzen kennt.«
Im Zentrum von Pellegrins Werkschau in den Deichtorhallen Hamburg sind nun drei der bei den NASA-Flügen entstandenen Luftaufnahmen zu sehen: Im Gegensatz zu den lauten, tiefdunklen und von Menschen bevölkerten Fotos sind diese still, leer und gleißend hell.
Die verschneiten Eisflächen zeigen dunkelschattierte Erhöhungen oder langgezogene Verwerfungen. In ihrer Abstraktheit erinnern sie an Wunden und Narben.
Paolo Pellegrin: Absolut, ja. Ich verstehe die Landschaft als Körper, als Haut. Mit diesen Verletzungen frage ich, was tun die Menschen diesem Planeten an? Für mich enthalten die Wunden zugleich aber auch eine Schönheit, die uns über ihre Zerbrechlichkeit nachdenken lassen.
Gibt es auch eine Verbindung zu den durch Messerstiche stigmata-artig verletzten jungen Schwarzen in Rochester, dessen Porträt ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist? Ist diese christliche Ikonographie beabsichtigt?
Es stimmt: Wenn ich solche Situationen fotografiere, erkenne ich auch die religiöse Reminiszenzen. Als meine Schwester und ich noch Kinder waren, hat mein Vater uns jedes Wochenende ins Museum zu Borromini, Bernini und Caravaggio mitgenommen. Wir sind also mit christlicher Symbolik aufgewachsen. Aber sie entstammt dem wirklichen Leben – das zeigt beispielsweise das Bild von dem gefallenen Soldaten.
Zehn Jahre ist es her, dass Pellegrin zum ersten Mal Vater geworden ist, vor sechs Jahren wurde seine zweite Tochter geboren. Seine Kinder hätten seinen Blick auf die Welt und die Zukunft verändert, sagt er. »Ich mache mir Sorgen, was wir der künftigen Generation antun.« Die Natur ist in seinen Fokus gerückt – und damit der Klimawandel. Dass dessen Existenz und seine Folgen oft genug noch geleugnet werden, liegt seiner Ansicht nach an der kaum wahrnehmbaren Veränderung, die ja »auch fotografisch schwierig darzustellen ist«.
Bei den Aufnahmen der Antarktis – »ich war überwältigt von der Schönheit, wie eine Sixtinische Kapelle der Natur« – kam noch ein weiteres Problem hinzu: Wie ließe sich die Größe der scheinbar unendlichen Landschaft richtig wiedergeben? »Ich entschied mich in den meisten Fällen, den Horizont zu eliminieren und stattdessen nach unten zu blicken und den Bezug zum Maßstab bewusst wegzulassen.«
Das Ergebnis sind abstrakte Fotografien, die eine formale Ähnlichkeit zu Lucio Fontanas Concetto spaziale aufweisen, und der ja monochrome Leinwände mit einem Messer zerschnitt.
Auf eine gewisse Art und Weise stimmt das. Mit der Antarktis-Serie hat sich auch meine Fotografie verändert. Viele Jahre habe ich mich bemüht, meinen Lehrern zu folgen und visuell möglichst komplexe Kompositionen zu schaffen aus Vordergrund, Hintergrund und Mittelgrund.
Und jetzt?
Jetzt entdecke ich, dass ich genau das Gegenteil davon mache. Es ist eher ein Prozess der Substraktion. Fast wie in der Bildhauerei, wo man Material wegnimmt, um zum Kern vorzustoßen. Mittlerweile denke ich, dass meine Fotografie Ähnlichkeiten mit japanischer Kalligrafie hat, wo jeder einzelne Strich eine Bedeutung hat. Oder eben mit Fontanas Schnittbildern, wo jeder Spalt alles enthält. Es geht darum, den Kern freizulegen. Und das versuche ich auch mit der Antarktis-Serie: mit ganz Wenigem viel zu sagen.
Ihre deutsche Agentin Margot Klingsporn hat in einer der Wunden eine Vulva gesehen. Eine gewagte Interpretation?
Nein. Ich finde es wirklich faszinierend, welche Kraft Bilder haben können. Es ist auch genau die Art von Fotografie, die mich wirklich interessiert: Es ist eine Einladung an den Betrachter auf eine Reise zu gehen, die er oder sie annehmen kann. Als Dokumentarfotograf stelle ich meine Ideen, meine Gedanken, meine Themen meine Wut oder was auch immer zur Verfügung – und der Betrachter vollendet den Kreis, jede und jeder auf seine Art. Es ist etwas ganz Lebendiges. Ich möchte als Fotograf überhaupt nichts vorgeben und nichts beeinflussen. Vielleicht denkt der ein oder andere über manche Themen ja ähnlich.
Pellegrins nächstes großes Projekt wird das vom Feuer verwüstete Australien sein. Dann, wenn die tagesaktuell berichtenden Kollegen zum nächsten Brennpunkt weitergezogen sind, dann wird sich Pellegrin Zeit nehmen. Für das, was zerstört ist, und vielleicht auch für das, was schon wieder nachgewachsen ist. Analog und in schwarz-weiß.
Gunthild Kupitz arbeitet als freie Journalistin und Textchefin in Hamburg.
Die Ausstellung PAOLO PELLEGRIN – UN'ANTOLOGIA ist noch bis zum 1. März 2020 im Haus der Photographie zu sehen.