FOTO: WILLIAM KENTRIDGE, DRAWING LESSONS, 2009–2019 © WILLIAM KENTRIDGE STUDIO

»Von der Zeichnung geht
alles aus«

William Kentridge ist berühmt für seine Filme. Die Grundlage für fast alle Werke des Künstlers ist jedoch die Zeichnung. Ein Gespräch mit der Kunsthistorikerin Angela Breidbach über Metamorphosen und bewegte Bilder. VON VERONIKA SCHÖNE

30. März 2021

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HALLE4: Frau Breidbach, der Untertitel zur Ausstellung WHY SHOULD I HESITATE von William Kentridge lautet »Putting drawings to work«. Kentridge selbst sagt: »Die Linie wird dich führen – sie ist der Hund, der dich an der Leine zieht.« Die Zeichnung steht bei ihm also am Anfang, noch vor der Bewegung und dem Film.
Angela Breidbach: Die Zeichnung begleitet Kentridge von Beginn an. Schon als kleiner Junge wurde Kentridge von seiner Mutter dazu motiviert zu zeichnen. Zeichnen ist sein Metier, von dem alles nach außen geht. In seinen Drawing Lessons, einer Vorlesungsreihe, die er 2012 an der Harvard Universität gehalten hat, legt er eindrücklich dar, wie von der Zeichnung aus die Türen zu allen anderen Projekten geöffnet werden.

In der Kunstgeschichte kommt der Zeichnung eine ganze maßgebliche Bedeutung zu, sie steht seit der Renaissance für den ersten Einfall, den der Künstler unmittelbar aufs Papier bringt. Bei Kentridge nun bildet sich dieser Entwurfsprozess unmittelbar in seinen Zeichentrickfilmen, den Drawings for Projection, ab. Man kann ihm sozusagen beim zeichnerischen Denken zusehen. Wie geht er dabei vor?
Die Drawings for Projection fangen immer mit einem Bühnenbild an, beispielsweise einem Schwimmbad, einer Stadt oder einem Feld in Johannesburg mit den Abraumhalden vom Minenabbau, die früher typisch für die Gegend um Johannesburg waren. In einem solchen Setting ist eine Szene bereits geplant, bevor er anfängt zu zeichnen.

Der Stift ist also der Protagonist auf einer vorher festgelegten Bühne.
Richtig. Ich werde als Betrachter in eine Landschaft mit hineingenommen. Ein neues Bild ist ein neues Bühnenbild. Ich gucke ihm ja sonst beim Zeichnen zu, aber dieses Setting ist immer schon fertig.

William Kentridge, Ten Drawings for Projection - Other Faces, 2011 © William Kentridge Studio

Kentridge fängt also nie mit dem ganz weißen Blatt Papier an?
Ganz selten. Es können sich in dieser sehr aufwändigen Art des Trickfilms nicht alle Elemente bewegen, es kann nur eine Aktion stattfinden. Das sind entweder einzelne Handlungsabläufe oder diese wunderbaren Metamorphosen, bei denen etwa eine Schreibmaschine zu einer Katze wird oder eine Katze zu einem Mann mit Gasmaske. Um einen solchen Ablauf filmisch umzusetzen, braucht man 24 Bilder pro Sekunde, das macht pro Minute 1440 Bilder. So etwas dauert Tage bis Wochen, und erst, wenn das gezeichnet ist, folgt das nächste Blatt mit dem nächsten Bühnenbild. Für einen dieser Filme von acht bis zehn Minuten braucht Kentridge neben allen anderen Projekten und Verpflichtungen immer etwa ein Jahr.

Es gibt also kein Storyboard wie im klassischen Animationsfilm?
Der klassische Animationsfilm arbeitet mit Einzelbildanimation. Man berechnet vorher, wie viele Bilder nötig sind, um eine bestimmte Bewegung in einer bestimmten Geschwindigkeit zu zeigen. Wenn eine Figur sich so oder so schnell bewegen soll, dann braucht man dafür beispielsweise drei Sekunden. Für diese Zeitspanne bedarf es einer bestimmten Anzahl von Einzelbildern. Kentridge hingegen zeichnet immer wieder auf dasselbe Blatt.

Kentridge beschreibt, dass er die Spuren dieser Zeichnungen früher nicht auslöschen konnte.
Genau das wurde später zum Markenzeichen, es macht den Reichtum seiner Filme aus. Das Papier, was von vorne nach hinten durch eine Landschaft fliegt, hinterlässt die Spuren seiner Flugbewegung, seiner Bewegung auf dem Blatt. Die Zeichnungen werden immer wieder gelöscht und neu gezeichnet, die Spuren der Löschung bleiben auf dem Papier zurück und legen sich schichtweise übereinander. Das empfinden die Betrachter als besonders reizvoll, weil der Film die Geschichte seiner Entstehung in sich behält.

Die Art, wie Kentridge hier Bewegung umsetzt, erinnert sowohl an die Chronophotographie (Hochgeschwindigkeitsphotographie, Anm.d.Red.) aus dem 19. Jahrhundert, als auch an das Palimpsest (Antikes oder mittelalterliches Schriftstück, von dem der ursprüngliche Text abgeschabt oder abgewaschen und das danach neu beschriftet wurde, Anm.d.Red.). Auch bei Kentridge bleiben Spuren sichtbar. Er zeichnet, löscht – aber eben nicht ganz – und zeichnet erneut. Der Bewegungsablauf besagten Blattes Papier, das durch eine Straßenschlucht fliegt, bleibt als Abfolge von Einzelbildern sichtbar. Wie muss man sich die Umsetzung konkret vorstellen?
Kentridge zeichnet im Stehen, auf dem an die Wand gehefteten Blatt, mit Zeichenkohle und geht jedes Mal zur Kamera, die gegenüber aufgebaut ist, um die jeweilige Stufe dieser Zeichnung abzufilmen.

William Kentridge, Drawings Lessons, Still aus der Filmreihe, 2009–2019 © William Kentridge Studio

Das bedeutet ja, dass es keine Zeichnungen gibt aus den Filmen, da sie immer wieder ausgelöscht und neu überzeichnet werden.
Mit Einschränkung. In einem sechsminütigen Film gibt es etwa sechs bis zehn verschiedene Bühnenbilder, die dann als Blätter mit allen Spuren übrigbleiben und an Museen und Sammler gehen.

Es sind also eher Relikte des Zeichnungsprozesses, vergleichbar etwa den Relikten einer Performance. Hat er auch autonome Zeichnungen geschaffen?
Es gibt parallel zu den Filmen geschaffene druckgraphische Serien, die deren Motive aufnehmen und tatsächlich zur Verbreitung gedacht sind.

Ich würde gerne noch über das Moment des Zeichnerischen sprechen. Kentridge zeichnet ja nicht nur, er nutzt ja nicht nur das Medium der Zeichnung, sondern verleiht allem, auch realen Personen, den Charakter des Gezeichneten.
Nehmen wir More Sweetly Play the Dance. In dieser Installation ist die Zeichnung das Fluidum, der Vorgang der Zeichnung selbst ist sozusagen die Landschaft, in welche die lebendigen Figuren gesetzt werden. Die Figuren tragen Schattenrisse in ihren Händen. Sie selbst sind in diesem Fall aber keine, sondern werden indirekt beleuchtet, was ihre Körperlichkeit ganz zart plastisch hervorhebt. Ihre Kleider haben eine zurückhaltende Farbgebung und schmiegen sich dadurch in die schwarzweiße Umgebung. Die Zeichnung selbst ist nicht nur das Instrument, sondern ist auch im Sinne des Biotops das Medium, welches die ganze Kentridge-Welt einhält.

Das Schwarzweiß, das alles umfasst, vereinheitlicht die Bildräume, es führt aber auch auf eine alte Ästhetik: Zeichnungen, Druckgraphik, Scherenschnitt, Schattentheater haftet etwas Altmodisches an. Sogar das vergleichsweise junge Medium Fernsehen kommt bei Kentridge nur in Schwarzweiß vor. Wieso wählt er diese Form?
Schwarzweiß ist nicht nur die Zeichnung, in die alles andere eingebettet ist, sondern das Schwarz ist auch die andere Seite des Lebens, die Schattenwelt des Todes. More Sweetly Play the Dance bezieht sich auf Paul Celans berühmtes Gedicht Todesfuge.

Es ist auch die andere Seite des Lichts in Platons Höhlengleichnis, der Beginn der abendländischen Zeichen- und Bildtheorie. Es besagt, dass man die Dinge nicht so sehen kann, wie sie sind, sondern immer nur ihre Abbilder, eben die Schatten.
Bezeichnenderweise verwahrt sich Kentridge in einer der Drawing Lessons gegen Platons Bildkritik und die Abwertung der Schatten als Trugbilder. Er hält dagegen, dass die Wahrheit durchaus in den Schatten, den vergessenen und verschütteten Bildern zu finden ist, die genauso durch unser Unbewusstes und unsere Träume wandern wie die offiziellen Bilder.

In der Überlagerung seiner Zeichnungen drückt sich der Erinnerungsprozess, das Auf- und wieder Abtauchen solcher verschütteten Bilder, geradezu sinnbildlich aus. Er nimmt sie ernst, weil sie von vergangenen Ereignissen zeugen.
Der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel spricht von der Verantwortung des Zeugen, der neben Täter und Opfer der Dritte ist bei einem Unheil. Wenn der Zeuge schweigt, dann macht er sich mitschuldig an der Geschichte. Kentridge sagt von sich, er sei sehr privilegiert in einer weißen Familie großgeworden als Sohn von Apartheidsgegnern, die sich als Rechtsanwälte aktiv eingesetzt hätten. Er müsse dieses Privileg nutzen, um auch im Nachhinein für die Opfer einzutreten.

Das Zeichnerische hat diesen transformatorischen Charakter, es ist regelrecht anfällig für Interpretationen und ändert sich, wie auch Zeugenaussagen, mit der Zeit immer wieder. Ist das auch einer der Gründe, warum er die Zeichnung wählt als Medium: weil die Erinnerung, die Bilder, fließend sind?
Ja, ganz sicher. Diese Verantwortung als Zeuge ist eine starke Triebfeder für seine Arbeit, auch wenn – oder gerade weil – er weiß, dass Zeugenschaft immer eine subjektive Seite beinhaltet.

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Veronika Schöne ist Kunsthistorikerin, Autorin und Dozentin. Sie schreibt Texte und macht Führungen, Seminare und Reisen zur Kunst.

Angela Breidbach ist Kunsthistorikerin und bildende Künstlerin. Sie unterrichtet Kunst in Hamburg und Kunstgeschichte an der Leuphana Universität Lüneburg. 2005 erschien ihr Buch William Kentridge. Thinking Aloud. Gespräche mit / Conversations with Angela Breidbach.

Die Ausstellung WILLIAM KENTRIDGE — WHY SHOULD I HESITATE: PUTTING DRAWINGS TO WORK ist bis zum 1. August 2021 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.


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