»Wir rollen den roten
Teppich aus«
4. Juli 2019
Foto: Emanuel Raab
4. Juli 2019
HALLE4: In diesem Jahr feiert gute aussichten sein 15-jähriges Jubiläum. Sind es noch gute Aussichten für junge Fotograf*innen?
Stefan Becht: Das müssen Sie die jungen Fotograf*innen fragen – wir schaffen die Bühne, tanzen müssen die jungen Damen und Herren darauf. Doch soweit wir das spüren und mitbekommen, fühlen sich die Damen und Herren ziemlich pudelwohl auf dieser Bühne und sind sehr tanzbegeistert.
Der Wettbewerb – und die mittlerweile umfangreiche Plattform – für neue deutsche Fotografie, wurde vor 15 Jahren von ihnen beiden initiiert. Auf welchem Weg werden Sie auf die Preisträger*innen aufmerksam?
Josefine Raab: Wir erhalten von Professor*innen der Hochschulen jedes Jahr die besten Arbeiten – was auch immer sie darunter verstehen. Die Aufgabe der Jury besteht dann darin, diese Vorauswahl zu sichten und die Preisträger*innen auszuwählen.
Stefan Becht: Grundsätzlich achten wir darauf, dass das Konsortium recht heterogen zusammengesetzt ist. Es gibt in der Jury außer Kuratoren wie Ingo Taubhorn oder Josefine Raab Menschen, die auch angewandt arbeiten, also bei Zeitungen oder Zeitschriften tätig sind und täglich mit Bildern umgehen. Sie haben einen ganz anderen Blick auf die Werke. Und es gibt jeweils eine*n renommierte*n Künstler*in, der oder die wieder anders hinschaut als ein Kurator oder eine Kunsthistorikerin wie Wibke von Bonin. Seit einigen Jahren haben wir auch immer eine*n Preisträger*in dabei.
Wie muss man sich den Findungsprozess der Preisträger*innen in der Jury vorstellen? Gibt es da auch mal Streit?
Josefine Raab: Na, Gott sei Dank gibt es da, wie in jeder richtig guten Jury, auch mal richtig Krach. Es geht uns ja immer um Qualität und das in jeder Hinsicht. Durch die jedes Jahr neue und sehr heterogene Zusammensetzung der Jury – von der erfahrenen Kunsthistorikerin über den dezidierten Kurator und die kenntnisreiche Zeitschriften-Bildchefin bis hin zur*m Künstler*in – gibt es sehr unterschiedliche Blicke auf die Arbeiten und gleichzeitig natürlich sehr viele Haltungen dazu.
Die Geschichte von gute aussichten ist auch ein Überblick über den Wandel des Mediums Fotografie. Welche ist die größte Veränderung, die Sie im Laufe der Jahre festgestellt haben?
Josefine Raab: Die Fotografie sprengt alle Grenzen! Sie greift auf alle denkbaren medialen Formen über und gleichzeitig, das ist das Interessante, ist sie unglaublich experimentierfreudig und geht ganz neue Wege: Kameralose digitale und analoge Bildschöpfung, Umwandlung von vorhandendem Bildmaterial eines Spielfilms in ein einziges Bild wie in der Arbeit Playtime von Robert ter Horst oder die Verknüpfung von Siebdruck und Fotografie in Patrick Knuchels Die konkrete Idee.
Welche Rollen nehmen bei diesen Entwicklungen die Hochschulen ein, an denen nicht ergebnisorientiert gearbeitet wird?
Josefine Raab: Der Schlüssel ist das Experimentieren. Das ist enorm wichtig und vielleicht auch gerade dann, wenn ich mich als Fotograf*in gewerblich ausrichten will, vielleicht gar nicht in die Kunstfotografie gehen will. Viele denken ja, Kunstfotografie ist nur l’Art pour l’Art und nur mit der angewandten Fotografie lasse sich Geld verdienen. Das ist einerseits richtig. Aber gerade weil es so viele Fotograf*innen, so viele Bilder und so viele Menschen gibt, die damit arbeiten, ist es umso wichtiger, für sich etwas Spezifisches herauszubilden, etwas ganz Eigenes zu entwickeln.
Stefan Becht: Etwas Herausragendes kann immer nur entstehen, wenn Menschen bereit sind, sich mit etwas intensiv auseinanderzusetzen und so in eine Materie oder in ein Subjekt einzutauchen, dass sie durch ihr Zutun etwas Anderes als das Bekannte kreieren. Und diesen Raum oder Freiraum bildet die Abschlussarbeit an der Universität. Das Auseinandersetzen mit einer einzigen Sache, einem Thema, ist etwas, das heute nicht mehr so angesagt ist wie früher. Nichtsdestotrotz führt aber genau das zur Schöpfung von etwas, was wir so noch nicht kennen.
Schaut man sich die Geschichte von gute aussichten an, fällt die große Ernsthaftigkeit und Gedankenschwere der Arbeiten auf. Selten gibt es humorvolle oder selbstironische Arbeiten wie 2018 mit Rie Yamadas' Familie werden. Fehlt den jungen Fotograf*innen die Leichtigkeit?
Stefan Becht: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit«, pflegte Karl Valentin zu sagen. Ergänzend ließe sich sagen: Mit Humor wird's noch mehr Arbeit! Trotzdem gabs bei gute aussichten immer wieder humorvolle Arbeiten, bereits im ersten Jahr mit Tamara Lorenz' solche und jenes oder die Gemeinschaftsarbeit von Catrin Altenbrandt und Adrian Nießler Um was es nicht geht im Jahrgang 2007/2008.
Erstaunlich, dass es bisher keine*n Preisträger*in gegeben hat, dessen*deren Arbeit explizit mit einem Medium wie Instagram arbeitet oder dort stattfindet, obwohl dort ja viele konzeptuelle Fotoprojekte zu sehen sind. Gibt es da Berührungsängste?
Stefan Becht: Angst haben wir vor gar nichts. Ganz im Gegenteil: Immer her mit den tollen Experimenten – da sind wir ja sehr, sehr aufgeschlossen. Mit Kyung-Nyu Hyuns Arbeit Nahrungsaufnahme, die in 808 Handybildern ein Jahr lang dokumentierte, was sie täglich gegessen hat, gab es bei gute aussichten 2015/2016 bereits ein solches Projekt. Wie gesagt: Immer her damit!
Wo steckt eigentlich die Vielzahl der weiblichen Fotografinnen?
Josefine Raab: Es gibt auf beiden Seiten diejenigen, die ganz mit der Fotografie aufhören und die, die weitermachen, die Seiten wechseln, angewandt arbeiten oder gar keine Lust mehr haben auf den Kunstzirkus und eher ein Dasein im Abseits der Kunstszene pflegen. Die Kontexte sind bei Männern und Frauen allerdings sehr unterschiedlich.
Stefan Becht: Es hat sich bei gute aussichten immer so gefügt, dass es sich ungefähr die Waage gehalten hat, ohne dass wir das beabsichtigt hätten. Genauso wie wir es nicht beabsichtigen würden, einen roten Faden in den Arbeiten zu sehen, der sich aber komischerweise am Ende immer wieder in Form von verbindenden Elementen ergibt.
Letztendlich geht es also immer darum, gute Arbeit zu machen...
Josefine Raab: Genau. Es muss jemanden geben, der darüber berichtet und der sie zeigt. Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt: Es ist wichtig, dass junge Talente eine Plattform bekommen. Bei uns handelt es sich weitgehend um unbekannte Talente. Sie bekommen von uns einmal den »roten Teppich« ausgerollt. Was sie daraus machen und wie sie damit umgehen, ob sie erfolgreich werden oder nicht, das muss dahin gestellt bleiben. Aber sie haben eben einmal die optimale Aufmerksamkeit. Dafür arbeiten wir.
Aufmerksamkeit hat auch immer etwas damit zu tun, wie man Arbeiten zeigt, also die Präsentation gestaltet. Es gibt ja noch mehr Möglichkeiten, als Prints an die Wand zu hängen. Ich denke an Interventionen im Raum, bei der die Besucher*innen aufgefordert werden, um die Arbeiten herumzugehen und wechselnde Perspektiven einzunehmen.
Stefan Becht: Das beste Beispiel war unsere Ausstellung gute aussichten DELUXE im Sommer 2018, auf der nahezu jede mögliche Form der Präsentation durchgespielt wurde: Ob Skulpturen, Bildschirme, die Echtzeitbilder übermittelt haben von Besucher*innen im Raum bis hin zu Prints, die auf der Erde lagen und Videoinstallationen – die Kombinations-, Erweiterungs- und Interventionsmöglichkeiten sind riesig.
gute aussichten gastiert regelmäßig im Goethe-Institut in Mexiko. Wie wird das Projekt dort rezipiert? Können Sie sich eine internationale Ausgabe von gute aussichten vorstellen?
Stefan Becht: buenas perspectivas, wie gute aussichten in Mexiko heißt, wird dort seit fünf Jahren ganz breit aufgenommen und gewürdigt. Das Fernsehen, Radio und Zeitschriften berichten über das Projekt und wir freuen uns über sehr begeisterte Besucher*innen der Ausstellungen. Und ja, die Zusammenarbeit mit Mexiko wird weiter vertieft und wahrscheinlich wird es in 2020/2021 ein großes internationales Gemeinschaftsprojekt geben.
Was wünschen Sie sich für die nächsten 15 Jahre gute aussichten?
Josefine Raab: Für uns, die professionell Bilder anschauen, ist es immer wieder eine Überraschung, dass stets neue Serien entstehen, die man noch nicht so gesehen hat. Darauf freuen wir uns auch weiterhin.
Stefan Becht: gute aussichten ist nicht nur ein Wettbewerb, sondern inzwischen viel mehr. Es gibt die Möglichkeit eines Projekt- und Arbeitsstipendiums im Rahmen des gute aussichten-Grant, für den sich alle Preisträger*innen bewerben können. Dieser geht jetzt ins dritte Jahr. Über die Plattform bieten wir offene Workshops, die im Haus der Photographie stattfinden, es gibt die HEIMSPIELE, die wir hier im Headquarter abhalten, bei denen wir in der Regel zwei Positionen von Preisträger*innen präsentieren. Unter NEW POSITIONS haben wir zum Beispiel in Lüneburg eigene Auswahlen gezeigt, bei »gute aussichten Choice« suchen sich die Kurator*innen selbst etwas aus. Die Wirkungsvielfalt geschieht auf ganz verschiedenen Ebenen. Uns ist auch wichtig, das nicht nur davon zu erzählen, sondern auch zu ermöglichen.
gute aussichten – junge deutsche fotografie 2018/2019 ist bis zum 3. Oktober 2019 im Haus der Photographie zu sehen. Der Katalog ist im Buchhandel und in der Ausstellung erhältlich.